SPRACHGENIE
Ein Mann mit vielen Zungen
Weil er 22 lebende und neun tote Sprachen beherrscht, ist ein 26jähriger Architekt aus dem belgischen Brügge jetzt mit dem »Preis von Babel« ausgezeichnet worden.
Dem
besten Kenner der deutschen Sprache, dem Wiener Kritiker Karl Kraus, wurde
einmal ein Gast vorgestellt mit den Worten: »Der Herr Professor beherrscht fünf
Sprachen!« Kraus lächelte nur verächtlich: »Was müssen das für Sprachen
sein«, sagte er, »daß sie sich alle fünf von einem Mann beherrschen lassen.«
Nicht auszudenken, wie Karl Kraus den Kopf schütteln würde, wenn ihm Johann
Vandewalle unter die Augen käme. Der 26jährige Belgier, ein Architekt aus Brügge,
beherrscht 22 Sprachen. Eine internationale Jury hat ihm dafür soeben den »Preis
von Babel« verliehen. Wohlgemerkt: 22 lebende Sprachen. Denn die neun toten
Sprachen, die Johann Vandewalle ebenfalls beherrscht, konnte das Preisgericht
nicht überprüfen. Mangels eigener Kenntnisse. Es sind so erlesene Sprachen
darunter wie AltOsmanisch, Orchon-Türkisch oder Tschaghataisch, eine
ausgestorbene türkische Sprache aus Innerasien.
Wie denn überhaupt in der Liste der 31 Sprachen, die der belgische Preisträger
kann, die große Zahl von Idiomen auffällt, die zur türkischen Sprachen-Gruppe
gehören. Er beherrscht zum Beispiel
Usbekisch, Turkmenisch, Tatarisch, Kirgisisch,Tuwinisch und Aserbaidschanisch.
Hat das einen besonderen Grund? »Ein intelligenter Mensch«, sagt Johann
Vandewalle, »wird früher oder später durch die Türken und ihre Sprache wie
magisch angezogen.« An logischer Schönheit, meint der Belgier, sei das Türkische
nämlich allen anderen Sprachen weit überlegen.
»Türkisch sprechen ist wie Schach spielen: ganz wenige Regeln nur, aber dafür
unendlich viele Spielmöglichkeiten.« Seufzend fügt er hinzu: »Wie ich die
Deutschen beneide um die vielen Türken in der Bundesrepublik.«
Das Studierzimmer von Johann Vandewalle in Brügge ist winzig klein, dazu noch vollgestopft
mit Grammatikbüchern, selbst an der Decke überm Bett hängt eine Sprachenkarte
der Welt. Nach Turnschuhen riecht's, nach Schülerschweiß. Johann Vandewalle
ist der Typ des jungen Mannes, dem man sonst überwiegend im Computer-Milieu
begegnet. »Seit ich 13 Jahre alt bin«, berichtet er, »habe ich meine ganze
Freizeit in diesem Zimmerchen gehockt und Sprachen gebüffelt.«
Von der deutschen Sprache ist er nicht begeistert. »Englisch, Französisch,
Russisch und Deutsch«, sagt er. »das sind so die unvermeidlichen, langweiligen
Hilfssprachen.
Langweilig deshalb, weil sie alle nur noch Träger der gleichen modernen Allerweltskultur
sind. »Nur ein Dummkopf ist stolz darauf, als milliardster Mensch hinter der angloamerikanischen
One-World-Culture herzuhampeln.«
Johann Vandewalle dagegen, als intelligenter Mensch, lernt zur Zeit Uigurisch.
»Was meinen Sie, wenn ich nach Sinkiang reise und dort mit den Leuten Uigurisch
rede; da erlebe ich doch in ein paar Tagen mehr, als wenn ich lebenslänglich
rund um die Welt nur Englisch kann.«
Eines
wurmt Johann Vandewalle in seiner einsamen Junggesellenbude in Brügge. Mit
seinem »Preis von Babel samt den 22 Sprachen hampelt er noch immer weit hinter
seinem Vorbild her. Das ist das italienische Sprachgenie Giuseppe Mezzofanti.
Der große Kardinal Mezzofanti! Berühmt durch sein gesundes Urteil über Goethe
(»ein krankhafter Dichter«). Noch berühmter durch die 39 Sprachen, die er
zuverlässigen Berichten zufolge allesamt perfekt beherrschte. Bei weiteren 40
Sprachen machte Kardinal Mezzofanti gelegentlich kleine Fehler. »Ja, schon«,
nickt Johann Vandewalle, »aber Kardinal Mezzofanti hatte einen ganz unfairen Platzvorteil.
Er war so ein überaus beliebter Beichtvater. Fast alle diese Sprachen hat er in
seinem Beichtstuhl im »Vatikan gelernt!«