DIE ZEIT 39/1999

Lehrbuch gegen die Krise


John Maynard Keynes: Die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes


Von Sven Afhüppe und Markus Fasse

FotoRuhm gewinnt in der Wissenschaft, wer - zu Recht - die Dinge auf den Kopf stellt. Kopernikus revolutionierte die Astronomie mit der Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne. Der Physiker Einstein, indem er Raum und Zeit für relativ erklärte. Die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes des Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) gehört in die Reihe solcher seltenen Erkenntnissprünge.

Obwohl das Buch in weiten Teilen ein schwer lesbares Theoriewerk ist, hat es enorme Resonanz gefunden. "Überall im Empire und in den Vereinigten Staaten begann man, einen Strahl des neuen Lichts zu erhaschen. Die Studenten waren hingerissen. Eine Welle erwartungsvoller Begeisterung ergriff die Ökonomie", beschreibt ein Zeitzeuge die Stimmung, als das Werk im Dezember 1936 erscheint. Keynes war zu diesem Zeitpunkt längst ein Ökonom von Weltruhm. Der Grund für den Enthusiasmus: Der Cambridge-Schüler gab neue Antworten auf Fragen, die nach der Weltwirtschaftskrise alle bewegten.

Mit dem Kurssturz an der Wall Street vom Oktober 1929 waren Volkswirtschaften weltweit in eine Depression gefallen. Nicht nur Reiche, auch die Mittelschicht hatte ihr Geld an den Börsen verloren, ihre Kaufkraft war verdunstet. Die Unternehmer blieben auf ihren Waren sitzen, massenhaft entließen die Fabriken ihre Arbeiter. Anfang der dreißiger Jahre waren in Deutschland über sechs Millionen, in den Vereinigten Staaten mehr als zwölf Millionen Menschen ohne Arbeit.

Abschwünge der Weltwirtschaft waren nicht neu. Doch für eine Krise solchen Ausmaßes fehlten die Vergleichsmaßstäbe. Hinzu kam ihre Dauer: Auch nach mehreren Jahren zeigte sich kein Anzeichen für einen Aufschwung. Die Weltwirtschaft steckte in der Sackgasse.

Keynes war klar, dass die Krise mit den alten Modellen nicht zu erklären war. Denn die klassische Ökonomie glaubte, nur die "unsichtbare Hand" des Marktes werde die Wirtschaft dauerhaft ins Gleichgewicht führen. Adam Smith und David Ricardo gingen davon aus, dass das Gesetz von Angebot und Nachfrage den Preis der Güter und der Arbeit regelt. Arbeitskräfte werden also nur dann entlassen, wenn ihr Lohn zu hoch ist. Akzeptieren sie niedrigere Löhne, stellen die Unternehmer wieder ein. So fand das Modell der klassischen Ökonomie nach einer Krise stets zum Gleichgewicht zurück: Wer arbeitslos war, der war es freiwillig. Die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre lehrte etwas anderes. Millionen Menschen standen auf der Straße, obwohl die Löhne weiter sanken. "Das Paradox der Armut, mitten im Überfluß", wie Keynes es nannte, brauchte einen völlig neuen Erklärungsansatz.

Die Klassiker hatten gelehrt, dass ein Unternehmer stets dann produziert, wenn die Kosten für Arbeit und Kapital niedrig genug sind. Der Absatz der so erzeugten Waren sei stets gewährleistet, denn nach dem bis dahin als gültig erachteten Sayschen Theorem (ZEIT Nr. 22/1999) findet jedes Gut zu jeder Zeit seinen Abnehmer.

Für Keynes griff diese Überlegung jedoch zu kurz. Ein Unternehmer, postulierte er, produziert nur dann, wenn er glaubt, seine Güter in der Zukunft auch absetzen zu können. Damit war die klassische Wirtschaftslehre auf den Kopf gestellt: Nicht das Angebot, sondern die Nachfrage entscheidet über den wirtschaftlichen Erfolg. Sie liefert damit auch den Schlüssel zur Überwindung einer Krise.

Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage - im einfachsten Modell von Keynes die Summe der Ausgaben für Konsum- und Investitionsgüter - hat ein wesentliches Kennzeichen: Sie ist instabil. Die Konsumausgaben hängen vom Einkommen ab: Je höher das Einkommen, desto mehr Geld wird ausgegeben. Keynes sah jedoch einen Punkt, an dem mit weiter wachsendem Einkommen die Neigung zum Konsum abnimmt, da "die Menschen geneigt sind, ihren Konsum mit steigendem Einkommen zu erhöhen, aber nicht um so viel, wie sich ihr Einkommen vermehrt". Dieses Phänomen nannte Keynes das "psychologische Gesetz". Ein Teil des zusätzlichen Einkommens wird gespart.

Investitionen, der zweite Bestandteil in der Keynesschen Gesamtnachfrage, erhöhen die Möglichkeit der Unternehmen zu produzieren. Keynes ging davon aus, dass die Investitionen von der "Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals" abhängen. Das ist der Zinssatz, bei dem die erwarteten Erträge des Investitionsobjekts dessen Herstellungskosten entsprechen. Ist die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals höher als der marktübliche Zins, hat der Unternehmer einen Anreiz, einen Kredit für sein Investitionsvorhaben aufzunehmen. Im umgekehrten Fall wären die Kosten für den Kredit höher als der Gewinn, und die Investition bliebe aus. Neu an Keynes Interpretation war, dass Investitionsentscheidungen nicht nur von der Zinshöhe, sondern entscheidend von Zukunftserwartungen des Unternehmers bestimmt werden.

Der für Investitionen bestimmende Marktzins resultiert nach Keynes aus der Liquiditätsneigung der Bevölkerung, also ihrer Nachfrage nach Bargeld. Sowohl das Einkommen als auch der Zinssatz entscheiden darüber, welchen Teil des Vermögens der Besitzer in Geld statt in Wertpapieren halten möchte. Sparen, so Keynes, kann nämlich aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgen. Man spart für Güterkäufe, für schlechte Zeiten oder um zu spekulieren. Sparen bedeutet demnach nicht automatisch, dass das Geld in Sparguthaben, Wertpapiere oder Investitionen gesteckt wird. Je höher beispielsweise die Aktienkurse an der Börse sind, desto eher erwarten die Leute wieder sinkende Kurse. Deshalb warten sie ab und halten so lange ihre Ersparnisse in Bargeld, bis die Kurse gefallen sind und der Einstieg ins Aktiengeschäft günstig ist.

Eine gelungene Abstimmung zwischen den Güter- und den Kapitalmärkten, folgerte Keynes, ist somit nicht die Regel, sondern die Ausnahme: die Gleichheit von Ersparnissen und Investitionen ein glücklicher, aber leider seltener Zufall. Auch diese These vom Spekulieren stand noch in keinem traditionellen Lehrbuch. Die Klassiker gingen vielmehr davon aus, daß die Sparentscheidung der Menschen ausschließlich vom Zins abhängt und der Zinsmechanismus dafür sorgt, dass alles Ersparte den Unternehmen für den Kauf von Investitionsgütern ausgeliehen wird.

Ein solches Gleichgewicht konnte Keynes an den Märkten nicht erkennen. Er glaubte, solange die Unternehmer in der Zukunft höhere Absatzmöglichkeiten erwarten, weiten sie ihre Produktion aus. Immer mehr Investoren buhlen um das Kapital der Anleger, Zinsen und Produktionskosten steigen und fressen die Renditen. Die Kapitalgeber werden nervös: "Zweifel, einmal begonnen, breiten sich rasch aus." Die Panik, die die Märkte befällt, verstärkt sich selbst. Der unrealistischen Einschätzung des Aufschwungs folgt die Hysterie der Krise. Die Investitionen sinken, die Beschäftigung fällt, die Kaufkraft schwindet - die Zukunftserwartungen werden immer trister.

Der Vertrauensverlust in einer Krise kann so groß werden, dass Unternehmen selbst dann nicht investieren, wenn die Zinsen auf null sinken. Die Volkswirtschaft steckt dann, wie es Keynes nennt, in der "Liquiditätsfalle" - eine Konstellation, wie sie derzeit in Japan zu beobachten ist. In einer solchen Situation bleibt auch die expansive Geldpolitik einer Notenbank wirkungslos. Das zusätzliche Zentralbankgeld versickert in Spekulationskassen. In Erwartung günstigerer Investitionsmöglichkeiten sitzen Anleger auf ihrer Liquidität.

Um die Wirtschaft aus einer solchen Schieflage zu erlösen und wieder in Richtung Vollbeschäftigung in Bewegung zu setzen, muss, so Keynes' Postulat, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigen. Und zwar so weit, dass mit zunehmender Produktion der Unternehmen alle Arbeitnehmer beschäftigt sind. Steigt nämlich die Nachfrage nach Investitionsgütern, führt das zu mehr Produktion, mehr Arbeit und mehr Einkommen. Dadurch steigen die Konsumausgaben. Höherer Konsum kurbelt die Nachfrage nach Gütern und Investitionen an, wodurch Produktion und Einkommen zusätzlich steigen. Kurz: Es kommt zu einer Kettenreaktion, zum bekannten Keynesschen "Einkommensmultiplikator" - aus einem exogenen Impuls, etwa einer zusätzlich angestoßenen Investition, entsteht ein Mehrfaches an Einkommen.

Daraus leitete Keynes seine wohl bekannteste These ab: Wenn Unternehmer nicht ausreichend investieren, muss der Staat als Investor auftreten, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Um zusätzliche Nachfrage zu erzeugen, nimmt die öffentliche Hand Kredite auf und finanziert damit zusätzliche Investitionen wie etwa Straßen, Kanalisation, Schulen, Flughäfen.

Es ist Keynes und seinem Werk zuzuschreiben, dass sich die britische Regierung noch während des Zweiten Weltkriegs zu einer Vollbeschäftigungspolitik verpflichtete, die Vereinigten Staaten 1946 ein Vollbeschäftigungsgesetz beschlossen, und auch das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 geht auf den britischen Ökonomen zurück.

Keynes zeigte, wie die Wirtschaftspolitik Flauten überwinden kann. Nur allzu häufig wurden seine Theorien aber von Politikern als Ausrede missbraucht. So wurden zwar im Konjunkturabschwung die Etatdefizite erhöht, aber - im Gegensatz zum Keynesschen Rezept - Aufschwung nicht abgebaut, sodass die Staatsschulden ständig zunahmen.

Über kein anderes ökonomisches Werk ist vermutlich so viel geschrieben und so viel gestritten worden wie über die Allgemeine Theorie von Keynes. Es ist ein bleibendes Verdienst des Briten, den Blick auf die Bedeutung der Gesamtnachfrage für die Wirtschaftsentwicklung gelenkt zu haben, obwohl schon in den siebziger Jahren das Ende der Keynesianischen Ära verkündet und die "monetaristische Gegenrevolution" gestartet wurde. Doch anders als in Deutschland, wo die Keynesianer in der Wissenschaft und in der Politik zunehmend in eine Außenseiterrolle gerieten, wurde Keynes in den Vereinigten Staaten nie aus der wissenschaftlichen Debatte verdrängt. Prominente Ökonomen wie Paul Krugman, David Romer, Alan Blinder oder Joseph Stiglitz nehmen dort weiterhin Keynes' Ideen als Ausgangspunkt ihrer Forschungen.

© DIE ZEIT 1999

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