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„Glück und Tod sind so nah beieinander“

Kälte, Stürme, extreme Höhen – das ist die Welt von Gerlinde Kaltenbrunner. Dumm nur: „Man spürt leider nicht, dass die Zehen absterben.“
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Gerlinde Kaltenbrunner, 36, hat bereits neun der 14 höchsten Berge der Welt bestiegen, einige mit ihrem Lebensgefährten Ralf Dujmovits. Der „Spiegel“ nannte die Österreicherin „Königin der Todeszone”. Kaltenbrunner, die mit 23 auf ihrem ersten Achttausender stand, ist Profibergsteigerin und lebt im Schwarzwald.

Interview: Cornelia Heim Frau Kaltenbrunner, als Reinhold Messner 1970 seinen ersten Achttausender bestieg, sind Sie gerade auf die Welt gekommen. Heute haben Sie neun Berge dieser Höhe bezwungen und werden bereits als weiblicher Messner bezeichnet.

Das finde ich ganz furchtbar. Ich habe ihn nie als Vorbild gesehen. Seine bergsteigerischen Leistungen – Hut ab, die sind einzigartig. Ich komme allerdings nicht klar damit, dass er alle, die nach ihm auf die Achttausender steigen, abkanzelt, als hätten sie keine Berechtigung mehr dazu.

Sie steigen wie er ohne Sauerstoff auf. Warum?

Ich gehe meist im Alpinstil: keine Hochträger, keine Fixseile und auch kein Sauerstoff. Das ist für mich die ehrlichste Art, einen Berg zu besteigen – dann habe ich es aus eigener Kraft geschafft. Künstlicher Sauerstoff käme mir vor wie Doping. Damit kommt man sich auf 8000 Metern vor wie auf 6500. Und wenn ich beim Everest merken sollte, dass ich ihn nicht schaffe, würde ich lieber umdrehen als Sauerstoff nehmen.

Für 2007 haben Sie sich den K 2 und den Dhaulagiri vorgenommen. Dann fehlen Ihnen nur noch Broad Peak Hauptgipfel, Lhotse und Everest. Diesen sind Sie im Mai 2005 angegangen. Auf 7700 Metern mussten Sie abbrechen, um Ihren Teamgefährten Hirotaka Takeuchi zu bergen.

Der Hiro spuckte Blut, war nicht mehr ansprechbar. Er hatte ganz schlimme Symptome der Höhenkrankheit. Ich habe ihm Dexamethason gespritzt und gebetet, dass ich die Vene treffe, denn wenn man so unterkühlt ist, zeichnet sich keine Ader mehr ab. Das starke Cortison-Präparat wirkte, er konnte wieder schlucken, dann haben wir ihm die ganze Nacht Wasser eingeflößt, damit sich sein Blut verdünnt und Sauerstoff ins Gehirn transportieren kann. Am Morgen hatte er noch starke Gleichgewichtsstörungen. Glauben Sie mir, einem Freund das Leben zu retten, ist ungleich wichtiger, als den Everest zu besteigen.

Sie wollen sicher die erste Frau sein, die alle 14 Achttausender bezwungen haben wird?

So kann nur ein Laie denken. Ich gehe nie an einen Berg mit der Einstellung, den bezwinge ich jetzt. Bergsteigen ist mein Leben, meine Leidenschaft, kein Kampf. Ich muss mich dem Berg anpassen, nicht umgekehrt. Zum anderen ist es mir völlig egal, ob ich die Erste oder Fünfte auf allen 14 Achttausendern sein werde. Wenn es mir darum ginge, müsste ich ja immer die leichteste Tour aussuchen, um einen nach dem anderen abzuhaken. Mich interessiert aber eher die anspruchsvollere Route.

Die Spanierin Edurne Pasaban, mit der Sie sich angeblich ein Duell liefern – sie war auf neun Achttausendern – musste in psychologische Betreuung.

Ihr ging es nicht gut, die spanischen Medien machen enorm Druck. Ich habe versucht, sie aufzubauen und von meiner Seite aus klarzustellen, dass ich kein Rennen zwischen uns will. Das wäre doch ein tödlicher Wahnsinn! Hinzu kommt: Ich bin gar kein Wettkampftyp. Das habe ich schon im Skiinternat in Windischgarsten gemerkt: Die Freundinnen aus dem Rennteam, mit denen ich abends noch gescherzt hatte, sollten am nächsten Morgen auf der Piste mit einem Mal bittere Konkurrentinnen sein? Das war mir zu viel Stress. Ich habe der Edurne jetzt sogar angeboten, den letzten Gipfel gemeinsam zu besteigen. Aber das wird wohl schwer, denn sie geht immer mit professionellem Fernsehteam. Das wiederum liegt mir gar nicht.

Auf dem Everest waren bisher etwa 1600 Menschen, davon 65 Frauen. Was können Männer besser?

Sie können besser von ihren Leistungen berichten, ihr Mitteilungsbedürfnis ist wohl auch größer und ihre Selbstdarstellung gekonnter. Wenn die im Basislager von ihren Expeditionen erzählen, wow, da ist immer alles ganz großartig.

Man nennt Sie „Cinderella Caterpillar“.

Beim Besteigen des Nanga Parbat bin ich schwer bepackt bis zur Hüfte im Tiefschnee an kasachischen Bergsteigern vorbeigezogen und habe bis obenhin gespurt. Das haben sie mir wohl nicht zugetraut.

Was ist der Vorteil als Frau?

Wir hören besser auf unseren Körper. Männer schalten oft alle Signale aus, ignorieren Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und gehen, bis sie nicht mehr können – so wie der Hiro am Everest.

Im Himalaja haben Sie sechs bis acht Wochen keine Dusche, keine Waschmaschine, kein ...

... ach, in der Höhe haben wir eh nur das dabei, was wir am Leib tragen. Nur den Luxus von Reservesocken gönne ich mir. Wenn die Strümpfe nass werden, ist die Gefahr von Erfrierungen groß.

Mit 23 schon haben Sie Ihren ersten Giganten erklommen, den Broad-Peak-Vorgipfel.

Das war 1994, da habe ich noch als Krankenschwester gearbeitet. Ich bin um halb vier Uhr in der Früh aufgestanden und zur Arbeit geradelt, zwei Stunden und 700 Höhenmeter über einen Pass, um mich nebenbei fit zu halten.

Heute leben Sie vom Bergsteigen, Sie sind Profi.

Das hat sich langsam entwickelt. In jeder freien Minute war ich in den Bergen. Aber ich hatte nie eine Idee, wie ich das hinkriegen soll, vom Bergsteigen zu leben. Dann habe ich den Ralf, der dieses Geschäft versteht, kennengelernt ...

... in den Bergen?

Wo sonst soll jemand wie ich seine Liebe finden? Es war 2002, im Basislager des Manaslu. Wir harmonieren einfach super. Ralf muss ich nichts erklären, der guckt mich an und weiß, wie’s mir geht. Reden tun wir da oben eh fast nichts mehr. Das ist zu anstrengend, der Wind zu laut. Na ja, und als ich ausgerechnet 50 Jahre nach Hermann Buhl 2003 auf dem Nanga Parbat stand, da brach in Österreich eine gigantische Euphorie aus. Bis dahin hatte ich keinen Sponsor. Heute habe ich mehrere, die mir ein Jahreshonorar bezahlen.

Ihre Kollegin Wanda Rutkiewic sagte mal: „In den Bergen ist Freiheit.“

Das trifft es ziemlich gut. Wenn ich von meinem Lieblingsgipfel, dem Nanga Parbat, hinunterschaue, da ist das Herz so weit, dass ich weinen muss vor Freude.

Die Polin ist auf dem Weg zu ihrem neunten Achttausender ums Leben gekommen. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an den Tod denken?

Am liebsten würde ich in einer Gletscherspalte begraben sein. Auf einem Friedhof liegen, eingebuddelt unter der Erde mit einem Grabmal obendrauf – grässlich.

Auf dem Everest, schreibt Jon Krakauer im Bestseller „In eisige Höhen“, pflastern mittlerweile die Toten den Aufstieg. Jeder Achte kommt dort ums Leben.

Auf Statistiken gebe ich nicht viel. Immerhin weiß ich doch, dass die Annapurna die schlechteste hat, da stirbt jeder Dritte. Die ist mit 8091 zwar nicht so hoch, aber wegen der Eisstürme sehr gefährlich. Die Todesgefahr blende ich beim Klettern komplett weg. Vorher bereite ich mich akribisch vor, mental und physisch, der Rest ist Schicksal.

Trotz besserer Ausrüstung ist die Todesquote im Vergleich zu den fünfziger Jahren nicht geschrumpft.

Eigenverschulden ist die Haupttodesursache. 2004 waren wir am Gasherbrum I zu neunt auf dem Gipfel. Als Letzter kam ein Spanier. Auf die Knie ist er gesunken vor Erschöpfung. Beim Absteigen ruft Ralf plötzlich: „Gerlinde pass auf!“ Er hatte sich zufällig umgedreht und sah, wie einer mit Karacho runterstürzt. Ich bin auf die Seite gesprungen, José schießt an uns vorbei, er hätte uns um ein Haar alle mitgerissen. 1000 Meter tiefer landete er. Er hatte sich, kaputt wie er war, in den Steigeisen verhaspelt. Wir haben ihn dann bestattet.

Haben Sie ein Testament?

Wir haben alles geregelt, was unser gemeinsames Haus hier im Schwarzwald betrifft. Ein Testament habe ich nicht. Doch so ein Moment wie mit José zeigt mir, wie nah alles beieinander ist: Das absolute Glücksgefühl auf dem Gipfel und der Tod – aus und vorbei.

Die stärksten Erfahrungen, sagt Messner, habe man nur dann, wenn man bis an den Rand seiner Möglichkeiten geht.

Wir waren schon oft in Situationen, in denen es völlig unklar war, wie es ausgeht. So im Mai 2005 an der Shisha-Pangma-Südwand. Da saßen wir auf 7400 Metern fest, zwei Tage donnerten die Lawinen neben uns runter, es hat geschneit ohne Ende. Wir waren zwar relativ geschützt, aber wir hätten weder auf- noch absteigen können. Ralf und Hiro wollten darüber reden, ich blocke das aber ab. Panik machen raubt einem zu viel Energie.

Jon Krakauer sagt: „Am Berg gibt es kein Mitleid. Nur Egoismus.“ Könnten Sie Ihren Partner in den Bergen liegen lassen, um sich selbst zu retten?

Nein, ich würde auf keinen Fall von seiner Seite weichen, bis irgendwas eintritt. Sei es der Tod oder Hilfe von unten, was ja eigentlich nie möglich ist. Alleine lassen würde ich den Ralf nie.

Am Lhotse im Mai 2006 ist Ihr Freund umgekehrt, er schrieb ins Online-Tagebuch: „Mit Tränen in den Augen kletterte ich an ihr vorbei, es war 17 Uhr, wir waren 100 Meter vom Gipfel weg, aber eine Nacht unvorbereitet im Biwak hätten wir nicht überlebt.“

Wir haben die Absprache, dass jeder das Risiko für sich alleine abwägt und den anderen nicht umstimmen darf. Ich bin dann auch umgekehrt, weil ich kein gutes Gefühl mehr hatte. Hier ergänzen wir uns gut: Der Ralf ist eher der Vernunftmensch, der objektiv die Fakten hin und her wägt und bremst. Er hat Kinder und eine andere Verantwortung. Ich handle oft aus dem Bauch heraus, mache auch wagemutigere Sachen, die ich anderen nicht vermitteln kann, die für mich aber stimmig sind, weil ich dabei ein positives Gefühl habe.

Sie gehen bisweilen auch ganz alleine auf Tour. Haben Sie keine Angst?

Sie meinen: Ich, der kleine Mensch, verloren zwischen den gigantischen Gebirgen? So denke ich nicht. Das sehe ich erst auf den Fotos, dass ich da nur ein winziger Punkt bin. Im Gegenteil, wenn ich in diesen extremen Höhen unterwegs bin, fühle ich mich richtig aufgehoben, ganz eins mit mir und der Welt. Wenn es denn einen Gott geben sollte, dann zeigt er sich für mich in dieser Natur.

In der sogenannten Todeszone ab 7000 Metern bauen sich durch Sauerstoffmangel im Blut die Gehirnzellen ab. Der Körper zerstört sich langsam selbst.

Ich komme mit der Höhe bisher ganz gut klar. Allerdings merke ich zu Hause, dass es mir schwerfällt, beim Lesen den Sinn der Worte zu erschließen. Das legt sich Gott sei Dank ein paar Wochen nach einer Expedition wieder.

Drei Jahre war keiner mehr auf dem Gipfel des Kangzendschöna. Ihnen ist das 2006 geglückt. Und dann dachten Sie sogar noch daran, Ihrer Mutter via Satellitentelefon zum Muttertag zu gratulieren.

Nicht vom Gipfel. Als wir auf 7700 angekommen sind, da habe ich sie angerufen. Meine Mutter war erschrocken, „Gerlinde, was ist los?“ Meine Stimme muss wie aus einer anderen Welt geklungen haben, ich war so ausgetrocknet. Ich habe nicht viel gesagt: „Mutti, mir ist so kalt, aber es passt alles. Alles Gute zum Muttertag.“ In Wahrheit war unser Lagerplatz fast nicht mehr da, zugeweht vom Schnee.

Wie überlebt man so eine Nacht im Sturm?

Eigentlich kann ich meine Energie gut bündeln. Ich bin immer die, welche die Moral hochhält, weil ich alles positiv sehe. Aber in dieser Nacht saß ich auf meiner Matte und spürte, wie die Nässe durch meinen Daunenanzug kommt. Ich habe einfach zu denken aufgehört. In meinem Kopf war nichts als große Leere. Aus der Starre ins Leben zurückgeholt hat mich der erste Schluck heißen Wassers, den der Ralf morgens um drei endlich machen konnte, weil der Sturm etwas nachgelassen hat.

Bei minus 30 Grad denken die meisten ans Erfrieren.

2005 am Gasherbrum II sind mir die Zehen schwarz geworden. Da war ich beim Aufstieg immer im Tiefschnee, und runtergekommen ins Basislager bin ich um vier Uhr morgens, so war ich insgesamt 30 Stunden in den engen Expeditionsschuhen drin. Man spürt ja leider nicht, dass die Zehen absterben.

Jetzt sind sie ab wie bei Reinhold Messner?

Nur wenn die Erfrierung bis zum Knochen geht muss man amputieren. Meine Zehen hatten Riesenblasen gebildet. Die sind aufgebrochen, die Haut darunter war dunkel, die Zehennägel sind langsam abgefallen. Ich kam nicht mehr in die Schuhe rein und musste mit Sandalen ins Tal. Das Blöde war, ich hatte vier Monate danach noch kein Gefühl – bis es endlich anfing, wie Nadeln zu stechen.

Ein Fernsehkommentator vom ORF meinte, Sie gingen die hohen Berge hinauf wie eine Nordic Walkerin. Woher holen Sie sich Ihre Fitness?

Ich habe keinen wissenschaftlich ausgearbeiteten Plan. Ich mache alles, so wie ich mich fühle.

Cesare Maestri, der 1959 den Cerro Torre als Erster bestiegen hat, behauptete, selbst wenn er ein Mädchen liebte, habe er dabei Liegestützen gemacht, um seine Armkraft zu trainieren.

Na, so verrückt bin ich nicht. Ich mache meist zweimal Ausdauertraining am Tag, à zwei bis drei Stunden. Krafttraining mache ich im Sommer gar nicht. Da gehe ich klettern. Das reicht. Und für den Winter nutze ich die Wand, die wir im Keller stehen haben.

Was essen Sie eigentlich in der Höhe?

Im Basislager zwischen 5000 und 5500 Metern haben wir einen einheimischen Koch, der kocht nicht nur gut, der bereitet das auch sehr nett zu, dekoriert mit ausgestochenen Karotten, ganz lieb. Über 7000 Metern beschränken wir uns auf Griesbrei für Babys und ein paar trockene Cracker.

Das schmeckt doch nicht!

Da oben gibt es nur wenig, was ich noch trinken oder riechen mag. Wichtig ist, dass es warm ist und dass der Magen nicht revoltiert. Wir zwingen uns zum Essen, weil wir wissen, dass wir enorm viele Kalorien verbrauchen. Im Schnitt verliere ich pro Monat vier bis fünf Kilo. An der Annapurna 2004 waren wir acht Tage am Berg unterwegs und hatten nur für vier Tage Essen kalkuliert. In den letzten drei Tagen haben wir gar nichts mehr gegessen. Ich habe 15 bis 20 Jahre älter ausgeschaut, so faltig war ich.

Reinhold Messner meint, ein Bergsteiger sei wie Sisyphos: Obwohl er etwas scheinbar Absurdes tut, sei er glücklicher als jene Menschen, die ein ganzes Leben lang nach ihrer Bestimmung suchten.

Das ist im Grunde auch alles, was ich in meinen Vorträgen vermitteln will: Ihr müsst nicht auf einen Achttausender, es kann auch ein kleiner Berg sein – oder was ganz anderes. Aber macht das, wofür euer Herz schlägt. Denn mit Willen und Leidenschaft geht alles.

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