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Picknick bei Kerzenlicht im Bauch von Paris

Am Gully Port Royal, kurz nach Mitternacht - eine verbotene Wanderung durch die Katakomben der Stadt an der Seine

Peter Heusch, Paris

Als Treffpunkt war Port Royal, das obere Ende des Boulevard Saint-Michel im Pariser Studentenviertel Quartier Latin ausgemacht worden. Hier stehen wir nun beisammen, kurz nach Mitternacht und außerhalb der Lichtkreise der Straßenlaternen. Als riskant will Main, Geschichtsstudent und Führer der elfkopfigen Gruppe, unser Vorhaben nicht bezeichnen. Illegal ist es allemal.

Nur wenige Meter entfernt, auf dem regennaß glänzenden Asphalt des Bürgersteiges, zeichnet sich ein runder Gullydeckel ab. Das ist der geheime Einstieg in die Unterwelt. Ein Dutzend solcher Zugänge gibt es im Zentrum der Seinemetropole. Von der Polizei werden sie regelmäßig versiegelt, ebenso regelmäßig aber brechen Leute wie Main sie wieder auf.

Main stoppt die Zeit, die zwischen zwei motorisierten Streifen der Ordnungshüter liegt. Acht Minuten, der Eingang ist gut überwacht. Jetzt, da gerade die Rücklichter eines Polizeiwagens in der Dunkelheit verschwinden, heben wir den Gullydeckel an und klettern rasch eine schmale Eisenleiter hinab. Jean, als letzter, zieht den schweren Betondeckel wieder auf seinen Platz. Viel wärmer als draußen ist es hier unter der Straße und natürlich stockfinster. Im Schein der Taschenlampen versuchen wir uns zu orientieren. Das allerdings ist leichter gesagt als getan.

Schließlich befinden wir uns im "Bauch von Paris", dem schon Emile Zola einen gleichnamigen Roman widmete. Und dieser Bauch Ist löchriger als ein Schweizer Käse. Metrotunnel, Kanalisatlonsschächte, unterirdische Bachläufe, ehemalige Steinbrüche und die Katakomben bilden zusammen ein weitläufiges, wirr verzweigtes Netz von Gängen, Galerien und Schächten, das an manchen Stellen über drei verschiedene Ebenen bis 40 Meter in die Tiefe führt. 285 Kllometer kann man allein in den teilweise nur 50 Zentimeter hohen Verästelungen des Katakomben-Labyrinths durchwandern. Solche Streifzüge in die Pariser Unterwelt sind offiziell allein Angestellten der Post, der Elektrizitätswerke oder des Abwasseramtes gestattet, die dort Wartungsarbeiten durchzuführen haben.

Vor allem an den Wochenenden aber treiben ganze Banden von Unbefugten ihr Unwesen Im Bauch von Paris. Ausgerüstet wie wir, mit Schutzhelm und Stablampe, belegten Baguette und Bierdosen, Zigaretten und Kassettenrecordern tauchen sie ab, um auf Entdeckungsfahrt zu gehen oder Spontanfeten zu feiern. Als besonderes Vergnügen gelten wilde Schlammschlachten, gefolgt von einem reinigenden Bad in jenen Gängen, wo sich größere Mengen von Regenwasser angesammelt haben. "Kataphile" nennen sich die meist aus Studentenkreisen stammenden seltsamen Nachtschwärmer, über die in der Seinemetropole die wildesten Gerüchte zirkulieren.

Main marschiert vorneweg, die anderen Im Gänsemarsch hinterdreln, Unser Führer besitzt eine Karte, es handelt sich um die Fotokopie eines offiziellen Plans der Behörden. Ohne eine solche unter der Hand verschobene Karte sind Streifzüge In den Bauch von Paris eln zu großes Wagnis. In dem Labyrinth der GAnge geht die Orientierung rasch verloren, und dann noch einen Ausstieg zu finden, Ist re~lne Glückssache.

Anfangs stolpern wir fortwährend über irgendwelche Kabel und Leitungen. Etwas später und eine Etage tiefer fangen die alten Katakomben an. Überall an den Wänden prangen Grafflti: Tiermotive, ägyptische Schriftzeichen oder geheimnisvolle Figuren, die nur für Stammitglieder der in Banden organisierten Studenten einen Sinn haben.

"Abenteuerlust, das völllg Andere, die Höhlenforscheratmosphäre und natürlich das Räuber-und-Gendarm-Spiel mit der Polizei lockt uns immer wieder hier herunter", erzählt Alain. Der Spaß an sportlicher Betätigung kommt offenbar hinzu. An einigen Stellen watet wir durch stehendes Wasser, an anderen geht es nur gebückt oder auf den Knien rutschend voran. Dann wieder gelangen wir in vergleichsweise große unterirdische Säle, die die ehemaligen Steinbrüche hinterlassen haben. Unter der Place d Alesia Ist der Boden einer Großhöhle vollständig mit feinem Sand bedeckt. "Den Strand" nennen die Kataphilen diesen Ort. Hier steigen die Untergrundfeste. Heute nacht jedoch, mitten In der Woche, bleiben wir unter uns.

Eine gemütliche halbe Stunde Ist angesagt. Lang ausgestreckt im Sand und bei romantischem Kerzenlicht wird gepicknickt. Kataphilen-Geschichten machen die Runde. Von jenen Freaks etwa, die es eine ganze Woche hier unten aushalten. Oder von der Historie des Untergrundes. Nicht weit entfernt hatte die Reslstance während des Zweiten Weltkrieges Ihr Hauptquartier Im Bauch von Paris. Knapp 300 Meter weiter war zur gleichen Zelt eine unterirdische Zentrale der Gestapo angelegt worden. Angeblich wurde erst nach dem Ende der Besatzungszelt festgestellt, daß die erbitterten Gegner in unmittelbarer Nachbarschaft ihre Aktionen planten, ohne jeweils etwas von der Anwesenheit der anderen zu ahnen. Nach wie vor geht übrigens die Rede von einem Kriegsschatz der Nazis, der hier unten irgendwo vergraben sein soll. Und natürlich finden sich immer wieder Kataphile, die in der Hoffnung, diesen ominösen Schatz zu finden, Buddelkampagnen st&rten.; Bis jetzt ohne Erfolg.

Daniel erzählt, daß sie manchmal Amateur-Rockbands mit ihrer gesamten musikalischen Ausrüstung hierher an den Strand oder in die zweitgrößte, "Salle Z" genannte Höhle herunterlotsen . "Bei der letzten Rock-Fete", erzählt Daniel, ~haben wir Im Salle Z 24 Stunden lang das Semesterende begossen. Mehr als 70 Kataphile haben sich dafür zusammengefunden, es war absolut irre!" Salle Z bekommen wir in dieser Nacht allerdings nicht zu sehen, ebensowenig wie den berühmten See unter der alten Pariser Oper. Dort hat sich In mehreren Höhlen ein unterirdischer Bach tatsächlich zu einem großen See verbreitert, der von den Behörden regelmäßig mit Schlauchbooten kontrolliert wird.

Fotos werden herumgezeigt. "Alles können wir wirklich nicht auf einer einzigen Tour besichtigen", sagt Alaln, "es sei denn, Du willst gleich mehrere Nächte und Tage hier verbringen." Zu sehen gäbe es genug. Eine weitere Pilgerstätte der Kataphilen etwa Ist das "Gefängnis", Zellen aus dem vorigen Jahrhundert, die die Ärzte des Hospitals Samt-Anne tief unter ihrem Krankenhaus anlegen ließen, um unheilbar Verrückte hineinzustecken. Oder auch das Grab von Philibort Aspairt. Ihn, einen Handwerker aus der Revolutionszeit, betrachten die Kataphilen als ihren "unfrelwilligen" Ahnherrn. Aspairt hatte sich in den Katakomben verstecken wollen und den Ausgang nicht mehr gefunden. Er verdurstete. Als man seine Leiche Monate später fand, wurde er in den Katakomben beigesetzt.

"Das wäre Deinem Namensvetter nicht passiert", sagt Jean grinsend an Daniel gewandt. "Daniel ist auch der Vorname eines anderen Kataphilen, der seit 1957 regelmäßig absteigt. Stell Dir vor, den lassen die Katakomben seit beinahe 40 Jahren nicht mehr los. Er ist über sechzig, ein ziemlich komischer Kauz, aber er kennt sich hier aus wie kein zweiter. Er Ist übrigens der einzige, der es sich leisten kann, ohne Karte und Kornpaß loszuziehen/

Über die Jahrhunderte hinweg wurden zum Ausbau von Paris Steinbrüche mitten im heutigen Stadtgebiet genutzt. Erst 1813 ist deren Ausschlachtung verboten worden, weil sich Bodenabsenkungen und Erdeinbrüche bedrohlich häuften, 80 jahre später wurde dann mit dem Zuschütten der meisten Steinbrüche begonnen. Den Aufwand hingegen, auch Jenes weitläufige Netz von Gängen zuzuschütten, welches den Zugang und die Verbindung zwischen den Steinbrüchen ermöglicht hatte, scheute die Stadtverwaltung. Außerdem war man schon Ende des 18. die Toten von einigen, mitten im Stadtzentrum liegenden Friedhöfen in die unterirdischen Gänge und Galerien zu überführen.

"Gleich wird s gruselig", warnt Pierre nach weiteren eineinhalb Stunden Wanderung. Beinahe im gleichen Augenblick biegen wir um eine Ecke -- und prallen entsetzt zurück. Aus einer Wandnische grinst ein Totenkopf, seine leeren Augenhöhlen leuchten gespenstisch. Kurz zuvor muß ein Witzbold hier vorbeigekommen sein, der eine brennende Kerze in den Schädel pflanzte. Berge von menschlichen Knochen und Schädeln türmen sich in dem Gang. Direkt über unseren Köpfen liegt der Friedhof Montmartre. 1786 wurde auch der Inhalt seiner alten Gräber hier heruntergeschafft. 15 Monate soll die Überführung der Skelette gedauert haben, und zahlreiche Opfer der Revolution wurden gleich in diese Endlosprozession eingereiht.

"Nehmt ja keine Knochen als Erinnerungsstücke mit", warnt Jean. "Das ist Grabschändung und schlägt mit 600 Mark Strafe zu Buche, wenn wir erwischt werden!" Was passiert überhaupt, wenn die Polizei einen Kataphilen schnappt? "Beim ersten Mal gar nichts, da werden nur die Personalien festgehalten. Im Wiederholungsfall allerdings ist man mit 200 Mark Bußgeld dabei. Hier unten aber kann uns nichts passieren. Keine Kontrollen. Ein- und Ausstieg sind die einzigen kritischen Momente."

Der Versuch, zurück an die Oberweit zu gelangen, ist wirklich sehr viel schwieriger als der Beginn des Streifzuges. Am gewählten Ausstieg treffen wir erstmals auf zwei andere Kataphile. Verärgert haben diese gerade festgestellt, daß sich der Gullydeckel nicht bewegen läßt. "Das kommt schon mal vor, Irgendein Idiot hat wohl sein Fahrzeug auf dem Gehsteig geparkt, und ein Reifen muß genau auf dem Ausgang stehen." Nach einigem Palaver beschließt Main, uns zurück zum Ausgangspunkt zu führen. Das bedeutet einen mehr als zweistündigen Marsch.

Bei Port Royal jedoch erwartet uns die zweite böse Überraschung. Findige Polizisten haben Tränengas in den Aufstiegstunnel geblasen. Die illegalen Nachtschwärmer sollen so gezwungen werden, einen benachbarten Ausgahg zu benutzen. "Dort warten sie natürlich schon auf uns", kommentiert Pierre wütend. Die Verschworenen sind alle schon mindestens einmal geschnappt worden und stehen auf der schwarzen llste

200 Mark aber will natürlich keiner bezahlen. Wir binden uns Taschentücher vor das Gesicht oder ziehen unsere Pullover über die Nase und schlagen uns durch den Tränengasnebel. Wenigsten dem Bußgeld, Main nennt es spöttisch "Katakomben-Mautgebühr" sind wir entkommen. Kein Ordnungshüter weit und breit. Dafür wird unser völlig verdreckter und verheulter Haufen von den Pariser Frühaufstehern entgeistert gemustert. Es ist längst tag

Hier irgendwo soll ein Schatz der Nazis liegen Nur David kommt ohne Karte und Kompaß durch Verdreckt und verheult kriecht der Haufen heraus