11.1.M. Wendt: Semantische Intertextualität
11.1. M. Wendt: Semantische Intertextualität
Zur Begründung der integrativen Funktion der Textdidaktik
(aus: Konstruktivistische Fremdprachendidaktik, Lerner-
und handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht aus neuer Sicht. Narr,
Tübingen 1996, S.34-60)
L'œuvre que je vous propose est un appel à votre participation
créatrice: chacun de vous doit être celui qui fait le film.
Alain Robbe-Grillet
1. Textdidaktik vor ihrem zwanzigsten Geburtstag
Die Geschichte der „modernen fremdsprachlichen Textdidaktik“,
die demzu-folge kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag stünde, läßt
Brusch (1993: 102) mit ei-nem Satz aus Nissens Kritischer Methodik (1974:
249) beginnen: „Ohne 'Text' (in des Wortes weite-ster Bedeutung) kein sinnvoller
FU!“. Indem er Wehrlichs Praktische Methodik (1986), die in mancherlei
Hinsicht an Nissen anknüpft (vgl. Stiller 1993), und sein ei-genes
Buch über Text und Gespräch (1986) als weitere Stationen aufführt,
übergeht er allerdings zahlreiche zwi-schenzeitlich erschienene Publikationen.
Darum soll hier dar-auf verwiesen wer-den, daß an dieser Stelle vor
ziemlich genau 17 Jahren in den Ar-beitsgruppen IIC und IID der siebten
Arbeits-tagung der Fremdsprachendidaktiker meh-rere wichtige Beiträge
zur Weiterent-wicklung der damals noch jungen Textdidak-tik geleistet worden
sind (vgl. Christ/Piepho 1977: 81-95). In seiner Einleitung zur Do-kumentation
des textdidaktischen Kolloquiums, das 1989 an der Universität Hannover
abgehalten wurde, bezieht sich Hellwig (1990: 11) ausdrücklich auf
den Gießener Vortrag von Kloepfer und Melenk (1977: 81-83), die die
„integrative Funktion der Textwissenschaft“ begründen, indem sie sie
als „Überschneidungsgebiet zwi-schen Linguistik, Literaturwissenschaft
und Lan-deskunde“ beschreiben.
Textdidaktik ist diesem Ansatz treu geblieben (vgl. Hellwig
1990: 10) und bezieht ihre Rechtfertigung weiterhin vornehmlich aus erweiterten
'Text'-Begriffen. Von ihrem so begründeten integrativen Potential
zeigen sich die Rezensenten der genannten Doku-mentation allerdings nicht
durchweg überzeugt (vgl. Rück 1991, Wagner 1992).
In den interdisziplinären Raum hinein erweiterte
Textbegriffe, wie sie namentlich von der Textlinguistik (z.B. Heinemann/Viehweger
1991) und der Semiotik (z.B. Schnur-Wellpott 1983) immer wieder vorgeschlagen
werden, mögen sich bei der Beschreibung des Gegenstands 'Text' bewähren;
sie eröffnen jedoch keinen Zu-gang zur prozessualen Dimension des
lernenden Umgangs mit Texten. So werden die Leitfragen zu der von Brusch
(a.a.O.) kritisch beleuchteten Frühjahrskonferenz über „Texte
im Fremdspra-chenunterricht als Forschungsge-genstand“ (Bausch/Christ/Krumm
1991: 6) von den weitaus meisten Beiträgern gegenstands-orientiert
interpretiert; doch klingt vor allem in dem von Bausch vor-gelegten Arbeitspapier
trotz einzelner an Nissen erinnernder For-mulierungen (Bausch 1991: 18)
ein zur prozessualen Dimension hin offener Textbe-griff an (ibid.: 15),
der „alle Textproduktions- sowie Rezeptionsformen... einschließen
kann.“
Ansätze der handlungsorientierten systematischen
Literaturwissenschaft (vgl. schon Stierle 1975: 12) und der Rezeptionspragmatik
(z.B. Köpf 1981: 81-85) können hier weiterführen, vorausgesetzt,
daß prozeßbezogene Theorien des Han-delns bzw. des Erkennens
eine Auffassung begründen helfen, die 'Text' nicht im Kontrast zu
'Welt' inter-pretiert, dergemäß vielmehr 'Welt' die semantische
Ebene von 'Text' darstellen kann.
2. Texte und Wirklichkeitskonstruktionen
Zur Beschreibung des Erkennens und Verstehens als Formen
des geistigen Han-delns (vgl. Rusch 1992b: 218 f.) empfiehlt sich die radikal-konstruktivisti-sche
Erkenntnis-theorie als fruchtbare Arbeitshypothese (vgl. Wendt 1993b, 1993c).
Konsequenter als ältere konstruktivistische Wahrnehmungsmodelle, zu
denen sich vor allem die erfah-rungsbezogenen top down-Paradigmen der Ge-stalttheorie
und des symbolischen Inter-aktionismus (vgl. Niehaus-Lohberg 1988: 4-6)
sowie die generativen Verstehensmo-delle (vgl. auch Schnur-Wellpott 1983:
184) rechnen lassen, betont der auf Arbeiten von Maturana (2. Aufl. 1985)
und von von Foer-ster (1985) aufbauende radikale Kon-struktivismus die
grundsätzliche Produktivi-tät und Selbstreferenz („Autopoiesis“)
des Gehirns. Bei allen konzeptionellen Unterschieden, die sich aus der
ihn kennzeichnenden Interdisziplinarität des Ansatzes fast selbstverständlich
ergeben, läßt sich nach S.J. Schmidt (1992d: 9 f., 1992 e: 429)
ein allgemeiner Konsens hinsichtlich der Annahmen beobachten, „daß
menschliches Wahrnehmen von Umwelt kein Abbildungs-, sondern ein Konstruktionsprozeß
ist“ und „daß wir die Welt, in der wir leben, durch unser Zusammen-Leben
konstruieren.“ Das mit der „Wirklichkeitskonstruktion“ beauf-tragte Gehirn
muß daher zunächst als „System ohne Input“ (Hejl 1992: 309 f.)
angesehen werden. Allerdings sind un-sere Sinne in der Lage, durch den
Empfang unspezifischer Reize (Schmidt 1992e: 429) rückzumelden, ob
die jeweiligen Wirklichkeitskonstruk-tionen „viabel“ (hier: gangbar, funktionsgerecht)
sind. Durch solche Viabilitätsprüfun-gen bzw. durch Versuch und
Irrtum (vgl. Rusch 1992b: 221) entstehen interin-dividu-elle Wirklichkeitskonstruktionen,
denen sich individuelle wenigstens partiell einfügen, sowie soziale
„Systeme“ (Hejl 1992: 319 ff.) wie z.B. die diese Tagung ausrichtende Gesellschaft
und geschieht Ler-nen als „Selbstentwicklung kognitiver Systeme“ (Schmidt
1992d: 21).
Wenn Individuen ihre Wirklichkeitskonstruktionen auf
die skizzierte Weise denen der Mitglieder einer Gruppe anpassen, wird Wirklichkeit
sozial konstruiert, sprechen wir im Hinblick auf das Individuum von Sozialisation.
Einander-Verstehen hat also mit Gemeinsamkeiten in der Sozialisation zu
tun (vgl. Schmidt 1992b: 32). Direkte Kommunikationsformen (vgl. Arroyabe
1984: 127 ff., 135 f. in Anknüpfung an Wittgensteins „Sprachspiel“),
Medienangebote, literarische Werke, kurzum Texte überhaupt, können
als bevorzugte „Anlässe“ für die Konstruktion von Sinn und Bedeutung,
für die Überprüfung bereits vorhande-ner Wirklichkeits-konstruktionen
und für die Her-stellung von Intersubjektivität gelten. Geistes-
und sozialwissenschaftlich bedeutsame Er-kenntnistheorien un-seres Jahrhunderts
- wie das „kollektive Gedächtnis“ nach Halb--wachs (1925, 1966), das
Falsifika-tionsprinzip von Popper (1934), Cassirers Phänome--nologie
der Erkenntnis (1929, 3. Aufl. 1958) oder das Handeln mit Sprache bei Wittgenstein
(1960) - lassen sich vergleichsweise problemlos zum radikal-konstruktivisti-schen
Grundmodell in Beziehung setzen.
3. Zeichen und Signale
Wollen wir aber Texte in erster Linie als „Anlässe“
zu eigenen Welt- und Sinn-kon-struktionen betrachten, verspricht der unspezifische
Charakter rezipierbarer Reize we-nig befriedigende Erklärungsmöglichkeiten.
Darin sehe ich den Grund, warum einzelne konstruktivistische Autoren (z.B.
Köck 1992: 359) das „Zeichen“ in ihre Konzepti-on aufgenommen haben,
das als Bestandteil eines erlernbaren Kodes „kommunikative“ Interaktion
ermöglicht (vgl. Schmidt 1992b: 34).
Das Saussuresche bilaterale Zeichenmodell beruht auf
der Annahme kodifizierter Be-ziehungen zwischen Zeicheninventaren und den
ihnen allgemein zuge-schriebe-nen Be--deutungskorrelaten. Die in dieser
Tradition stehende Semiotik klassifiziert Zeichen, ohne sich darum zu kümmern,
ob solchen „charakteristischen Bedeu-tungsgestalten“ vom Rezipienten tatsächlich
Zeichenfunktion zuerkannt wird (Janik 1980: 144 f.); sie bleibt vorderhand
im Sinne einer generativen Semantik am Gegenstand orientiert (z.B. Arbeitsgruppe
Semio-tik). Die Konzeption des Zeichens als triadische Relation bei Peirce
(vgl. Köller 1980, Walther 1978: 191 f.) und noch deutlicher die ausdrückliche
Einbeziehung des Interpreten bei Morris (vgl. Vigener 1978: 131 ff.) hingegen
zeigen auf, daß Zeichen nicht als „Gegenstände an sich“ verstanden
werden können, daß sie vielmehr nur insofern wirksam werden,
„als sie vom menschlichen Subjekt als Zeichen intendiert und verstanden
werden“ (Schmitter 1980: 109). Damit erschließt sich das „in den
formalen Strukturen des Zeichenträgers angelegte Sinnpotential“ erst
der Interpre-tation (Reiss 1980: 64), womit hier zunächst nur an das
inferencing (De Beau-gran-de/Dressler 1981: 8) wie immer gearteter Erfahrungen
(vgl. Heine-mann/Viehweger 1991: 67 ff.) gedacht ist. Das Gemeinte wird
besonders deutlich, wenn Arroyabe (1984: 138) Wörter als „Zeichen
von Inhalten, die letzten Endes aus der Erfahrung gewonnen werden“, definiert,
wenn Robbe-Grillet als Vertreter des nouveau film an die participa-tion
créatrice des Zuschauers appel-liert (Beylie/Pinturault 1990: 211)
und wenn Eco (1987; 5, 63-65) hervorhebt, ein Text sei keine lückenlose,
kohärente Information, er setze voraus, spreche an, beziehe ein, enthalte
jedoch Leerstellen und sehe damit den Leser als Interpreten ausdrücklich
vor. Daraus ziehen wir vorerst den Schluß, daß textuelle Referenzen
mentale Verknüpfungen nur höchst unvollkommen abzubilden vermögen.
Die Feststellung der semantischen Unschärfe und
Interpretationsbedürftigkeit von Texten erklärt jedoch noch nicht,
auf welche Weise die zu seinem Verstehen notwendigen Erfahrungen aufgerufen
werden. Um die Prozessualität dieser Erscheinung hervorzuheben, benutze
ich für Zeichen, die die Überprüfung oder weitere Ausformung
von Wirklichkeitskonstruktionen anregen, den Begriff 'Signal', obwohl dieser
bekanntlich auch als Bezeichnung für konditionierte Reize (z.B. Gagné
dt. 2. Aufl. 1970: 33 f.) und für Auslöser von Valenzhandlungen
(van Parreren 2. Aufl. 1972: 349 f.) weidlich in Anspruch genommen worden
ist. Wenn es sich nun - unter Rückbindung an das radikalkonstruktivi-stische
Grundmodell - so verhält, daß das menschliche Gehirn mit der
Außenwelt nur über Sig-nale in Verbindung steht, die durch Sozialisationsprozesse
(vgl. auch Schmidt 1992b: 35) über die selbstreflexive Gehirntätigkeit
Bedeutung erhalten haben, wäre versuchsweise der Schluß zu ziehen,
daß wir auf je subjektive Weise nur das verstehen, was in irgendeiner
Form im Laufe der eigenen Sozialisation und Individuation bereits eine
Rolle gespielt hat und insofern als Primärtext angesprochen werden
kann. Das hieße z.B., daß die Meldung „Tschernobyl-Reaktor
soll nicht mehr ans Netz“ vom 26.5.1992 eine Signalwirkung hauptsächlich
für jene Leser besitzt, die den Störfall vom 26.4.1986 bewußt
erlebt haben, sowie für solche, die die Existenz von Atomreaktoren
mehr oder weniger bewußt als Gefährdung empfinden; allerdings
bemerken wohl auch andere mit Problemen der Energieversorgung ver-traute
Personen eine ähnliche Signalwirkung.
In der Übersicht auf der nächsten Seite habe
ich versucht, drei Signaltypen zu unterscheiden, die wenigstens ansatzweise
in der Literatur beschrieben sind. Eingrenzbar scheinen mir zunächst
einmal Signale, die in erster Linie für Individuen Bedeutung besitzen
und von denen nach Moray (2. Aufl. 1972: 89) und Herriot (dt. 1974: 35)
an-genommen werden kann, daß sie einen besonders hohen emotionalen
Wert für die jeweiligen Rezipienten besitzen. Ein zweiter Si-gnaltyp
scheint dann vorzuliegen, wenn Erscheinungen mit interindividuell ähnlichen
Bedeutun-gen belegt und somit in größe-rem Ausmaß kollektiv
wirksam werden. Signale der zweiten Art lassen sich in zwei Gruppen aufteilen,
je nachdem, ob ihre Gültigkeit durch Konvention für längere
Zeit geregelt ist oder ob ihnen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche
Bedeutung zuge-messen wird; auf diese letztgenannte Gruppe kommen wir noch
zu sprechen. Die dem dritten Typ zuzurechnenden Signale wirken nur in bestimmten
Konfigurationen in spe-zifischer Weise (vgl. Schröder 1969: 65 f.);
sie werden erst durch besondere Kon-texte oder absichtli-che Kontextualisierung
mit einem Bedeutungspotential infiziert.
SIGNALTYPEN
I biographische
mit persönlicher Biographie verbunden z.B.
der eigene Name
stark emotionalisiert, vor allem Aussehen bestimmter
Dinge,
individuell bedeutsam Tiere, Persone
INDIVIDUATION
der bereits deren Nennung
II interindividuelle
mit interindividueller Be-
deutung belegt
kollektiv wirksam (soweit in-
dividuell akzeptiert)
a) konventionelle
beeinflussen individuelles z.B. Pictogramme, Verkehrs-
und kollektives Handeln zeichen, Parteiinitialen,
in entscheidenden Real- Kreuzsymbol
situationen
SOZALISATION durch Gebote, Konvention und Kontrast
Verbote, Werturteile, Ge- (Paukenschlag in Symphonie)
bräuche, Zweckdienlichkeiten, Gestik, Mimik,
Prosodie, Ausrufe,
Vorurteile, Regeln, Formen der Elemente der Textgestaltung
Kommunikation
b) virulente
vorübergehend oder in Ab- z.B. Bekleidungsmoden,Stilrichtun-
ständen wirksam gen der Pop-Musik, Fußball-WM
bsd. MASSENMEDIALE SOZIA-
LISATION:Suggestivierung Reinlichkeits-, Familien-,
und Mythisierung elementarer Landnahme-, Paradies-,
Gut- Individuations-/Sozialisations- Böse-, Fortbewegungs-,
Eva-
erfahrungen sions-, Todesmythos
III kontextuelle
nicht-spontane Wirksamkeit in besonderen z.B. themenspezifische
Lexik,
Kontexten/Konfigurationen Symbole, Metaphern
über Intentionen, Erwartungen,
Selektion "aufgeladen" Berufssphäre, Sozialstatus
Interindividualität als Postulat (hierzu
auch Privatsphäre:
bsd. SCHULISCHE/BERUFLICHE Kulturelles, Familie,
Einrich-
tung)
SOZIALISAT
4. Intertextuelle Bedeutungsstrukturen
Signale sind definitionsgemäß nicht an konkrete
Einzeltexte gebunden, sie sind intertextuell wirksam. Da die von ihnen
aufgerufenen Wirklichkeitskonstruk-tio-nen als intertextuelle Bedeutungsstrukturen
- etwa in Form von Daseinsentwürfen - gelten kön-nen, interessieren
wir uns hier weniger für formale (vgl. De Beaugrande/Dressler 1981,
Broich/Pfister 1985) als für semantische Intertex-tualität. Medialisierte
und dadurch interindividualisierte sowie suggestivierte Bedeu-tungsstrukturen
können wir als se-mantische Makrostrukturen oder Inter-texte und in
vielen Fällen als „Mythen“ bezeich-nen (Wendt 1993c: 118 f.). Mit
dem letztgenannten Begriff knüpfen wir an Sorel (11. Aufl. 1950: 177,
180-182), der poli-tisch-soziale Mythen als ungeheuer wirksame „Konstruktionen“
be-schreibt, und an Barthes (1957: 8. 217, 222-228; 1972: 7; vgl. auch
Schnur-Wellpott 1983: 183) an, nach dessen Auffassung mythische Bedeutung
sich mit den unterschied-lichsten Formen von Zeichen verbinden kann und
die einfache Benennung von Mythen zu ihrer Identifizierung ausreicht. Das
Verfahren selbst, das mit den be-kannten Analysen nordamerikanischer Gesellschaftsmy-then
- wie way of life-Mythos (Holzner 1988), success-Mythos (Freese 1990) oder
Individuationsmy-then (Wimmer 1993) - wenigstens den intertextuellen Ansatz
gemein hat, habe ich unlängst (Wendt 1993c) u.a. für die unter
Signal-typ IIb in der rechten Spalte der Übersicht auf-geführten
sozialisationsrelevanten Mythen vorgeführt. Eine wichtige Hilfe bei
der Identifizierung der Mytholo-geme leisten Personen- und Motivwörterbücher
(z.B. Aziza/Oliviéri/Sctrick 1981, Daemmrich/Daemmrich 1987).
Einen im engeren Sinne textwissenschaftlichen Zugriff
versucht Greimas in seiner Sémantique structurale (1966: 93 f.,
142-146, 172 ff., 234 ff.): Semanti-sche und se-miologische Ebene verbinden
sich zu textübergreifenden Sinnebe-nen, die er als isoto-pies collectives
bezeichnet und begrifflich auf die „Mythos“-Konzeption bei Barthes rückbezieht
(a.a.O.: 183). Eco (1990: 117) erklärt Greimas' Isotopien zu Ergebnissen
von Interpretationen im Rahmen der von einem Text offengehaltenen Möglichkeiten;
sie zu erkennen bleibt damit von in-tertextuellen Erfahrungen ab-hängig.
Für Kristeva, die zwar auch mit Semanaly-sen arbeitet, jedoch eher
trans-formationellen Vorstellun-gen verpflichtet ist, konstituiert sich
jeder Text aus frü-heren Texten, weil er eher durch logische als durch
sprachliche Kategorien zu-gänglich wird (1969: 255); einen Roman be-zeichnet
sie daher als les livres dans le livre (1970: 146 ff.). Kultur ist für
sie der Generaltext, in dem die verschie-densten Textsorten situiert
werden müssen, weil sie einen Teil von ihm bilden (1970: 12.).
Auf unterschiedliche Weise stützt jede dieser Theorien
die Annahmen, daß die Bedeu-tung eines Textes immer auch eine intertextuelle
ist, und daß wir zur Her-stellung se-mantischer Intertextualität
das jeweils notwendige Text- und Weltwis-sen benötigen. Dieses entwickeln
wir aus konstruktivistischer Sicht durch stän-dige Überprüfung
unse--rer Wirklichkeitskonstruktionen sowohl an Fernsehfilmen wie auch
an Zeitungsmel-dungen, an der Schullektüre und in der face to face-In-teraktion.
Die Bedeutung, die der Zeitungsleser dem Handschlag von Jitzhak Rabin und
Jassir Arafat am 13. September 1993 attribuiert, ergibt sich folglich aus
der Erprobung seiner Wirklichkeitskonstruk-tionen oder Da-seinsentwürfe,
in die seine Vorstellungen über die Lage im Nahen Osten ebenso eingehen
können wie eine vielleicht vorhandene Einstellung zu dem von Hitler
und Pétain ausgetauschten Handschlag, und diese kann ihrerseits
durch ein „Vertragt Euch wieder“ als eige-nes Sozialisationserlebnis in
der Kindheit ge-prägt sein.
5. Unterrichtliche Aspekte
Aus dem Gesagten ziehe ich einige Folgerungen für
den Unterricht mit Texten in Form thesenartiger Akzentsetzungen im Bereich
wohl weithin be-kannter, wenn auch nicht ausnahmslos akzeptierter Leitsätze:
1) Jeder Unterricht ist von den Erfahrungen her zu reflektieren,
die die Wirk-lich-keits-vorstellungen der einzelnen Lernenden konstituieren.
2) Auch Sprechen ist eine Form der Vertextung von Wirklichkeitskonstruktio-nen.
Da somit auch das Erlernen einer Fremdsprache auf Sozialisations- und Indi-vidua-tionsprozessen
beruht, sind die Sprach- und Kulturkontakte der Lernen-den zu in-tensivieren.
3) Da auch beim Schreiben und beim Sprechen in der Fremdsprache
Texte ent-stehen, sollte Grammatik immer auch Textgrammatik sein. Für
die Vermitt-lung der text-konstituierenden Funktionen auch satzgrammatischer
Erschei-nungen scheint die Freinet-Methode, die Viabilitätsprüfungen
systematisch ein-schließt, in besonderem Maße geeignet.
4) Textproduktion und Textrezeption werden im Bereich
der Bedeutungskon-sti-tution aufeinander beziehbar.
5) Es ist damit zu rechnen, daß Texte und insbesondere
fremdsprachliche Texte für die rezipierenden Lernenden zunächst
Kookkurenzfälle bisweilen un-deutli-cher und noch weitgehend unverbundener
Signale darstellen.
6) Da einem Text nur im mehr oder weniger expliziten
Vergleich mit anderen Texten Bedeutung zugeordnet werden kann, sollte die
Textauswahl themen-be-zogen und textgruppen- sowie textsortenübergreifend
erfolgen.
7) Das intertextuelle Mythenkonzept steht dem themen-
und motivgeschichtli-chen Ansatz sehr nahe. Er beschränkt sich jedoch
nicht auf literarische Texte und sen-sibilisiert für das Verbinden
mit eigenen Grunderfahrungen („Primärtexte“). Über-haupt gilt
die Annahme, daß Texte nur als „Anlässe“ für eigene Wirklichkeits-kon-struktionen
und deren Überprüfung rezipierbar sind, für literarische
und nichtlite-rarische Texte in gleicher Weise.
8) Die Beschäftigung mit transkulturellen Mythen
- wie z.B. dem Familienmy-thos- scheint einen möglichen Zugang zu
Fremdkulturen zu eröffnen. Gene-rell sind uns die Mythen (medialisierte
Wirklichkeitskonstruktionen) anderer Kul-turkreise nur in dem Maße
verständlich, in dem wir bereit sind, die eige-nen Sozialisierungserfah--rungen
und Wirklichkeitskonstruktionen um das zunächst Fremde zu bereichern.
9) Aus einem Deutungsgespräch entsteht ein Deutungstext,
in den Wirklich-keits-kon-struktionen eingehen, die anhand vorher begegneter
Texte erprobt und weiterent-wickelt wurden. Der Deutungstext sollte nicht
allein die Wirk-lich-keitskonstruktio-nen bzw. Deutungsmuster der Lehrperson
reflektieren. Daher sind gemeinsame Be-deutungskonstruktionen im „interpretativen
Spiel“ nach Köpf (1981: 96), in wel-ches Deutungen von allen Teilnehmen-den
probeweise eingebracht werden, in der interpretative community nach Fish
(1976), beim "Lesen im Plural" nach Nissen (1990) bzw. "freieren Re-zeptionsgespräch"
nach Raabe (1991: 126) vorzuziehen. Diese Einschätzung ist als Plädoyer
für ein kontrolliertes „Hineininterpretieren“ zu verstehen, dessen
Ergebnisse inso-fern nicht „beliebig“ sein dürften, als es möglich
blei-ben muß, sie an den Textstrukturen und an den Deutungsbeiträgen
der Mitin-terpreten zu überprü-fen.
10) Im Deutungstext reduziert sich die Unterscheidung
von Text und Welt auf die je-weiligen Signalsysteme. Textarbeit ist somit
immer zugleich mit dem Text, dem zielsprachigen Referenzbereich und der
Zielsprache selbst befaßt.
Die Auswahl von Texten für einen nach diesen Leitsätzen
konzipierten Unter-richt sollte folgenden interkulturellen Aspekten Rechnung
tragen:
* Welche erfahrungsweltlichen Anknüpfungspunkte
bieten sich? Inwiefern fal-len darunter auch bestimmte außerschulische
Rezeptionserfahrungen der Ler-nenden (z.B. Fernsehen, Comics)?
* Welche vor allem inhaltliche Gemeinsamkeiten mit bereits
bekannten oder noch bekannt zu machenden Texten lassen sich feststellen?1
* Welche Textkonstituenten könnten von den Lernenden
mehr oder weniger spontan als Signale empfunden werden und ihre Aufmerksamkeit
in dem Sinne erregen, daß sie vorhandene Wirklichkeitskonstruktionen
aktivieren und über-prüfen?
* Eignen sich die Texte zu einer Überprüfung
und Weiterentwicklung vorhan-dener Wirklichkeitskonstruktionen in einer
erzieherisch zu befürwortenden Richtung?
Einige Beispiele aus dem Französischunterricht sollen
dies nachfolgend ver-deutli-chen.
6. Maupassant: Le Horla
Die Erzählung Le Horla von Maupassant wird gern
mit der Biographie ihres spätestens ab 1883 von Alpträumen und
Zwangsvorstellungen heimgesuchten Verfassers in Ver-bindung gebracht und
in die Tradition der phantastischen Ge-schichten oder der Schau-ergeschichten
in der Nachfolge Edgar Allan Poes2 ge-stellt. Die intertextuellen Bezüge
reichen jedoch viel weiter.
Die erste Version der Erzählung aus dem Jahre 1886
besteht, formal gesehen, in der Hauptsache aus Bericht und Anamnese des
von ungewöhnlichen Vorstel-lun-gen heim--gesuchten Protagonisten vor
einem Team von hervorragenden Ner-ven-ärzten. Die aus--führliche
Darstellung des eigenen Falles vor einer Versamm-lung von „Spezialisten“
kennt zahlreiche Parallelen in der Literaturgeschichte: ange-fangen mit
Hiob in der Konfrontation mit drei theologisch geschulten Freunden über
Sokrates, der sich vor Gericht gegen den Vorwurf verteidigt, die Athener
Jugend verführt zu haben, und Cicero in seinen Reden gegen Catilina
bis hin zu Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie und
zu Kästner über Kästner von dem Autor gleichen Namens. Daß
vorzugsweise die erste Version von Le Horla im Französischunterricht
zum Einsatz gelangt, liegt wohl an ihrer Kürze und an dem Vorhandensein
einer annotierten Schul-ausgabe (Contes fan-tastiques). Unter intertextuellen
Aspekten ungleich ergiebiger und aufgrund der Tagebuch-form auch unmittelbarer
und spannender ist die zweite Version aus dem Jahr 1887, auf die ich mich
nachfolgend hauptsächlich beziehe.
Als primär - und daher auch als für die inhaltliche
Kontextualisierung besonders ge-eignet - können folgende intertextuelle
semantische Makrostrukturen (intertextuelle Bedeutungsstrukturen) angesehen
werden:
* Kritik an der Effizienz menschlicher Sinneswahrnehmungen:
die Unsicht-bar-keit des Windes (2 juillet); Produktivität des Gehirns
und Viabilitätsprü-fung (7 août: l'appareil vérificateur,
le sens du contrôle); Insuffizienz des menschli-chen Auges (19 août).
Kontextualisierung dieser erkenntnistheore-tischen Wirklichkeitskon-struktion
z.B. durch täuschende Abbildungen (trompe-l'œil), wie sie zur Einführung
in die konstruktivistische Wahrneh-mungskritik benutzt werden (Beispiele
in Mer-ten/Schmidt/Weischenberg Hrsg. 1990/1: 64, 1990/2: 16, 23 f., 34
f.) oder durch Berichte über die Grenzen wissenschaftli-chen Forschens
(z.B. d'Ormesson in L'Ex-press v. 10. Aug. 1995).
* Geheimnisvolle Erkrankungen, „Killer-Viren“: cette
surprenante folie; le trois-mâts (19 août). Vgl. z.B. Bericht
in Der Spiegel 2/1995: 140-151.
* Über den Menschen als bisherige „Krone der Schöpfung“
hinausgedachte Evolu-tionstheorie (Fortschritts- und Bedrohungsmythos):
(17 août); des êtres invisibles bien que tangibles; pourquoi
serions-nous les derniers... sa nature est plus par-faite (19 août);
bezogen auf das Tierreich: le papillon... J'en rêve un qui serait
grand comme cent univers ... il va d'étoile en étoile (ibid.).
Die Erscheinungsfor-men des Horla finden sich in den Filmen The Invisible
Man (Whale 1933) und The Return of the Invisible Man (May 1940) recht genau
nachgestaltet; Vorläufer z.B. Tarnkappenmotiv. Vgl. auch Rieseninsekten
in Horrorfilmen.
* Eroberung der Weltherrschaft aus dem Weltall, u.U.
durch Schwächung der Men-schen oder Erzeugung von Willenlosigkeit:
Hypnoseexperiment (16 juillet); tous les ressorts de l'être physique
semblent brisés, toutes les éner-gies anéantis, tous
les muscles relâchés; aucun pouvoir même de mettre en
mouvement ma volonté (13 août); quelqu'un ordonne tous mes
actes, tous mes mouvements, toutes mes pensées... rien qu'un spectateur
esclave et ter-rifié de toutes les choses que j'ac-com-plis. (14
août). Un d'eux, un jour ou l'autre, traversant l'espace, n'apparaîtra-t-il
pas sur notre terre pour la con-quérir, comme les Normands jadis
traversaient la mer pour asservir des peuples plus faibles? Nous sommes
si infirmes, si désarmés, si ignorants, si petits... (17
août), gouvernés comme un bétail humain, populations
en délire, cette arme du Seigneur nouveau, la domination d'un mystérieux
vouloir sur l'âme humaine (19 août). Entsprechende moderne
Mythen: Superman, Bat-mann, Goldfinger (Hamilton 1964) aus der James Bond-Reihe.
*- Spiegel/Spiegelbild als Mythologem: l'armoire à
glace (19 août). Seit der Antike (Narziß-Mythos) bekannt, bis
zur Renaissance als Veranschaulichung der Wech-selbeziehungen zwischen
der physischen Welt und der metaphysi-schen Region (bsd. Tod; vgl. Daemmrich/Daemmrich
1987), zeigt der Spie-gel das Vergängliche, fungiert er als Eingang
in das Reich des Todes, in die Welt der Träume und der (Zukunfts-)
Visionen (Aziza u.a. 1978a: 132-134) oder symbolisiert er die persön-liche
Identität und ihre Gefährdung (vgl. Chevalier-Gheerbrant 1982:
635-639). In diesen Funktionen finden Spiegel und Spie-gelbild auch in
Märchen (z.B. Schnee-wittchen) und als bevorzugte filmische Stilmittel
Verwendung; so in den französi-schen Filmklassikern Le Jour se lève
(Carné 1939), Les Visiteurs du soir (Carné 1942), Les Enfants
du paradis (Carné 1945), La Beauté du Diable (Clair 1950),
Orphée (Cocteau 1950; vgl. Aumont u.a. 1994: 18, 170, 174-176),
Hiroshima mon amour (Resnais 1959), Le Cri du hibou (Chabrol 1987). Da
Tote (z.B. Vampire) kein Spie-gelbild haben, fehlen kon-sequenterweise
Spiegel in Sartres Drama Huis Clos.
Obwohl sich unter den aufgezeigten intertextuellen Bezügen
viele finden, die den Re-zeptionserfahrungen der Lernenden entsprechen
könnten3 , ist natürlich nicht mit Si-cherheit vorauszusagen,
welche Signale sie bei der Lektüre von Le Horla mit welchen semantischen
Makrostrukturen in Ver-bindung bringen werden. Die Schülerin J. in
ei-nem schwach besuchten Lei-stungskurs des Jahrgangs 12, der die erste
Version behan-delte, äußerte, nach-dem die ersten beiden Seiten
gelesen wa-ren, zwei Vermutungen über den Grund der angenommenen seelischen
Erkran-kung, die leider beide von dem unterrichtenden Praktikanten zurückgewiesen
wurden: Il n'a pas de femme, il est tout seul, il se nourrit mal (im Text:
Je ne suis pas marié... Je maigrissais d'une façon in-quiétante...)
und wenig später: Ah, il a peut-être un tumeur du cerveau (im
Text: une sorte d'inquiétude ner-veuse...J'avais des colères
subi-tes).
Natürlich kann die Empfänglichkeit für
Signale auch durch den unter-richtlichen Zu-sammenhang, in dem ein Text
gelesen wird, durch vorherige Lektüre oder durch Vor-texte verstärkt
werden. Derart evozierte Kon-Texte werden neben dem Textverstehen natürlich
auch die inhaltliche Interpretati-on beeinflussen. Einge-denk der vier
zuvor gestellten Fragen würde ich daher wahrscheinlich einem Einstieg
über Beispiele für die erste der intertextuellen semantischen
Makrostruk-turen den Vorzug geben. Etwas zeit-aufwendiger, aber im Hinblick
auf Deutungs-gespräche (Leitsatz 9) wesentlich ergiebi-ger ist natürlich
eine selbständige ar-beitsteilige Vorbereitung der Lernenden auf der
Grundlage von zur Auswahl an-gebotenen Textbeispielen (-auszügen)
zu allen fünf Makrostrukturen.
Die Erzählung Le Horla ist reich an Anlässen
für die Entfaltung der Produk-tivität der Lernenden in einer
Weise, die die ständige Rückbindung an den Text nahelegt und
da-durch - etwa im Sinne der These 4 - eine Intensivierung der Textrezeption
bewirkt. Längere Beschreibungen werden vor allem von jüngeren
Menschen in der Regel mit geringerer Aufmerksamkeit bedacht. Das dürfte
auch für die Be-schreibung des Anwe-sens und seiner Lage zur Seine
zu Beginn der Erzählung (8 mai) zutreffen, obwohl Maupassant selbst
auf ihre Bedeutung für das Verständnis hinweist (21 juillet:
tout dépend des lieux et des milieux.). Was liegt also näher,
als wenigstens einigen Lernen-den vorzuschlagen, eine möglichst genaue
Skizze anzufertigen, in die auch die Schiffe eingetragen werden sollten?
Andere Stellen der Erzählung - z.B. das Gespräch mit dem Mönch
(2 juillet), die Mme Sablé-“Geschichte“ (16 juil-let) oder die in
der Rückschau auf den 9. September er-zählte gespenstische Schlußszene
- scheinen für die Umarbei-tung in ein Hörbild (Hörspielszene)
besonders geeignet; dabei kommt es nicht nur auf die dialogische Ausgestal-tung
und interpretierendes Lesen, sondern auch auf die Aus-wahl pas-sender Geräusche
und Musikunterlagen an. Die Tatsache der Existenz zweier Ver-sionen der
Erzählung läßt sich alternativ in zweierlei Weise nützen:
Wäh-rend der direkte Textvergleich auf formale Analysekriterien (Aufbau,
Span-nungskurve, Erzähl-distanz u.ä.) kaum verzichten kann, könnte
eine Gestal-tungsaufgabe (Le malade expli-que son cas à un groupe
de spécialistes) die „Erfindung“ der ersten Version zum Ge-genstand
haben. Die ausschließliche Bearbeitung der ersten Ver-sion hingegen
legt eine Anschlußdiskussion nahe, in der sich Lernende in der Rolle
der konsultierten Spezia-listen (die jeder über ein Ärzteteam
verfügen könnten) äußern.
Freie Gestaltungsaufgaben (z.B. Zeitungsberichte, Interviews
mit „Nachbarn“ o.ä.) hingegen können sich an den obengenannten
Makrostruk-turen inspirieren.
7. Prévert: Familiale
Jacques Prévert ist ein beliebter „Schulautor“,
und viele seiner Gedichte sind schon mehrfach im Hinblick auf ihren unterrichtlichen
Einsatz interpretiert wor-den (vgl. Wacker 1977, Brütting 1986). Das
Gedicht Familiale, 1945 erstmals in Paroles (vgl. Katz 1976) veröffentlicht,
hat auch in Lehrbücher (z.B. Barrera-Vi-dal/Franke: 1968: 184) und
Textsammlungen für die Schule (z.B. Bür-mann/Moreau 1970: 33)
Aufnahme gefunden. Eine semantisch-strukturelle Ana-lyse dieses Gedichts
hat Coenen-Menne-meier (1976: 564-569) vorgenommen. Unter Berücksichtigung
sprachlicher Aspekte läßt es sich vom dritten Lernjahr an einsetzen.
FAMILIALE
La mère fait du tricot
Le fils fait la guerre
Elle trouve ça tout naturel
la mère
Et le père qu'est-ce qu'il
fait le père?
5 Il fait des affaires
Sa femme fait du tricot
Son fils la guerre
Lui des affaires
Il trouve ça tout naturel
le père
10 Et le fils et
le fils
Qu'est-ce qu'il trouve le fils?
Il ne trouve rien absolument rien
le fils
Le fils sa mère fait du tricot
son père des affaires lui la guerre
Quand il aura fini la guerre
15 Il fera des affaires
avec son père
La guerre continue la mère
continue elle tricote
Le père continue il fait des
affaires
Le fils est tué il ne continue
plus
Le père et la mère vont
au cimetière
20 Ils trouvent ça
naturel le père et la mère
La vie continue la vie avec le tricot
la guerre les
affaires
Les affaires la guerre le tricot la
guerre
Les affaires les affaires et les affaires
La vie avec le cimetière.
Schon vom Titel des Gedichts gehen zwei Hinweise auf den
intertextuellen Be-reich aus: Zum einen klingt der Familien-Mythos an,
der im Folgenden durch die Personen-bezeichnungen wiederholt signalisiert
wird, zum anderen läßt sich der Begriff fami-lia-le, den es
im Französischen als Substantiv nicht gibt, als Analo-giebildung zu
pasto-rale, als eine Anspielung also auf Schäferspiel (ital.
pa-storella), Hirtengedicht und ländliche Idylle verstehen. Der bereits
ein Stück Interpreta-tionsarbeit leistende Auf-trag, den Titel ins
Deutsche zu übersetzen, könnte also etwa „Familien-Idylle“ zum
Ergeb-nis haben.
Diese Makrostruktur bleibt das ganze Gedicht hindurch
präsent, wird aber, be-ginnend mit Vers 2, durch eine der ersten entgegengesetzte,
jedoch ebenfalls durch mehrfache Wiederholung mit aller Deutlichkeit signalisierte
zweite Makrostruktur parallelisiert und zunehmend überlagert. Indem
wir diese als „Krieg und Frieden“ bezeichnen, stel-len wir Sinnbezüge
zu einer Fülle anderer Texte her, von denen Zeitungs- und Tagesschau-Berichte
über mehr oder weniger ent-fernte Kriegshandlungen und Abbildungen
von Soldatenfriedhöfen sowie im Fernsehen übertragene Kriegsfilme
sicherlich eher zu den Rezeptionserfahrun-gen unserer Lernenden gehören
als Im Westen nichts Neues (Remarque 1929), als das Kurzdrama Le Piquenique
en campagne von Fernando Arrabal (1958) oder die in der Schule mitunter
eingesetzte Erzählung Le Silence de la Mer (Vercors 1942). Als Vor-
oder Folgetexte zu unserem Gedicht bzw. als Vergleichstexte eignen sich
wahr-scheinlich vor allem solche, die das Schicksal oder die Sicht junger
Men-schen thematisieren (z.B. das Chanson Le déserteur von Boris
Vian, u.a. gesungen von Esther Ofarim); im Sonett Dormeur du Val (Rimbaud
1870; z.B. in Ahting o.J.: 72-76) treten noch das in der zentralen Aussage
von Familiale ebenfalls impli-zierte Motiv des „Unbekannten Soldaten“ und
die Zerstörung einer scheinbaren Idylle hinzu.
Zwei weitere intertextuelle Strukturen sollen wenigstens
noch erwähnt werden. Im se-mantischen Bereich ist dies das Zusammentreffen
der beiden Isotopieebe-nen 'Tod' und 'Leben' im letzten Vers, welches das
Gedicht in eine Tradition stellt, die von den alt-testamentarischen Psalmen
über das mittelalterliche Me-mento Mori bis zur Definition der absurdité
in Camus' Mythe de Sisyphe (1942) reicht. Naturge-mäß könnte
sich vor allem der letztgenannte mögliche Anknüpfungspunkt als
fruchtbar erweisen. Im forma-len Bereich eignet sich Familiale durchaus
dazu, vor-handene Vorstellungen von und Erfahrungen mit der literarischen
Darstellungs-form 'Gedicht' bzw. mit der Textsorte 'Fabel' zu viabilisieren.
Die unterrichtliche Beschäftigung mit dem Inhalt
des Gedichts kann in persön-lich-keitsbildender Hinsicht dazu beitragen,
einer verbreiteten Gleichgültigkeit ge-genüber dem sinnlosen
Sterben im Krieg entgegenzuwirken, und darauf auf-merk-sam machen, daß
schon mangelnde Anteilnahme an unserer nächsten Um-gebung und die
Geschäf-tigkeit des Alltags emotionale Abstumpfung bewirken können.
Soweit sich eine Einbettung des Gedichts in eine Reihe
von ähnlichen Texten nicht realisieren läßt, empfiehlt
sich ein einstimmendes Gespräch, das von ei-nem jener groß-flächigen
Fotos eines Soldatenfriedhofs mit einer unübersehba-ren Menge weißer
(ggf. unbeschrifteter) Kreuze ausgehen kann, wie sie von il-lustrier-ten
Zeitschriften jährlich vor Totensonntag veröffentlicht werden,
und das unge-fähr so verlaufen könnte:
Qui sont ces morts? (Des soldats./On ne les connaît
pas.)
C'est où? (On ne sait pas. Il y en a partout.)
Par exemple? (En Yougoslavie...)
Qui pense à ces morts? ( Peut-être leurs
parents, leurs femmes...)
Et nous aussi, pensons-nous à eux/à ceux
qui sont tués (:einzuführen) dans les guerres?
Vous pensez souvent à eux?
Pourquoi pas? (C'est très loin. Il faut penser
à ses activités de tous les jours...)
Est-ce que leur mort nous laisse donc indifférents
(: einzuführen)?
Mit diesem Gespräch sind das Lesen4 des Textes und
die anschließende sponta-ne Aus-sprache über ihn vorbereitet.
In deren Verlauf wird irgendwann ein Punkt er-reicht sein, von dem an die
Lehrkraft darauf achten wird, daß die for-malen Be-sonderheiten dieses
Gedichts, die durchaus zu dessen Aussage beitra-gen, be-rücksichtigt
werden. Dabei können folgende Fragen hilfreich sein:
Êtes vous sûrs qu'il s'agisse d'un vrai poème?
(Il y a des rimes.)
Comment sont les rimes? (Il n'y a que des rimes 'pauvres'
sur [ER].)
Quels mots ne riment pas avec les mots sur [ER]? (tricot,
fils, plus)
Comment vous expliquez-vous cela?
Notre poème a-t-il des strophes?
Diese letzte Frage ist insofern sehr wichtig, als bei diesem Gedicht die innere Struktur nicht in einer äußeren Strophenform sichtbar wird. Die Erarbeitung der inneren Struk-tur kann vom Vorhandensein refrainartiger Verszeilen (3, 9, 20) sowie davon ausge-hen, daß sich - wie im Film - verschiedene „Perspektiven“, „Einstellungen“ oder „Sze-nen“ unterscheiden lassen5. Schreibt man diese fünf Perspektiven (oder „Strophen-überschriften“) in einer linken Spalte untereinan-der auf und trägt man die jeweiligen Tätigkeiten rechts daneben ein, ergibt sich etwa folgendes Tafelbild:
la mère __* tricote
_____* continue _________ ---------- *
le père __* fait des affaires
* continue.._________ --------- *
le fils *
fait la guerre * NE CONTINUE
PLUS*
la guerre
* continue ________-------*
la vie
* continue ________-------*
Die Tatsache, daß Prévert die entsprechende
Stropheneinteilung nicht auch sicht-bar vollzogen hat und überdies
auch die Interpunktion sehr weitgehend vernach-lässigt, bewirkt nun
den Eindruck, die ständig wiederkehrenden Ele-mente seien miteinander
verwoben (le tricot) und bildeten einen ununterbro-chenen monotonen Ablauf,
der auch bei kleinen Störungen (le fils est tué) weit-gehend
reibungslos funktioniert (la vie conti-nue), der sich aber letztlich bis
zur Sinnlosigkeit (l'absurde) perpetuiert, wie der Zer-fall der Sprache
in den letzten Versen dieses "sprachlosen" Gedichts andeutet. Dies führt
weiter zu der Frage nach der Bedeu-tung des Einzelnen in diesem monotonen
Ablauf und vielleicht zu der Erkenntnis, daß Krieg nur eine der Formen
ist, die Ent-menschlichung annehmen kann, daß sich diese auch im
geschäftigen, aber teilnahmslo-sen Ne-beneinanderherleben of-fenbaren
kann (trouver naturel).
Endlich sollte der parabelhafte Charakter des Gedichts
nicht unbeachtet bleiben. Er erschließt sich aus der generalisierenden
Verwendung des bestimmten Arti-kels, der an die Fabel erinnert, und aus
dem Rückgriff auf die bereits im hinfüh-renden Gespräch
thematisierte Jederzeitlichkeit und -örtlichkeit (C'est qui/où/quand?).
Daraus ergeben sich die Fragen nach unserer eigenen Haltung und etwaigen
Konsequenzen:
Trouvez-vous normal (naturel) qu'après une guerre
les gens continuent à vivre comme s'il n'y avait rien eu?
Peut-on /Doit-on rester indifférents à
une guerre qui ne se passe pas loin de chez nous/dans une autre partie
du monde?
Qu'est-ce qu'on pourrait/qu'il faudrait faire?
Welche der vorgeschlagenen Interpretationsteile auf einem
gegebenen Lernni-veau in der Fremdsprache realisiert werden können,
muß natürlich von der Lehrkraft entschie-den werden. Allgemein
dürfte gelten, daß die Entwicklung von Tafelbil-dern sprachli-che
Defizite der Lernenden sehr weitgehend kompen-siert, aber auch kleinschrittiges
Herausfragen (vgl. z.B. Ahting o.J.) begünstigt. Im Sinne der These
9 ist jedoch im allgemeinen das freie Deutungsgespräch zu bevorzugen,
zu dem die Lehrkraft allen-falls in Form von zwei bis drei als In-itialimpulse
(schriftlich) vorgegebenen Fragen bei-steuert. Dabei sollte jede Deu-tung
akzeptiert werden, die sich in der interpretative community und im Rück-bezug
auf den Text als viabel erweist. Das Problem, wie trotz--dem primär
nicht vorhandene und den-noch für die Textarbeit notwendige Kenntnisse
und Tech-niken vermittelt werden können, wird im folgenden Beispielblock
angespro-chen.
8. Themenzentrierter Textunterricht: Les Matins se suivent
et ressemblent...
Nicht wenige Lehrpläne für die Oberstufe enthalten
eine Auflistung zu behan-delnder Textsorten. Im Berliner Rahmenplan Französisch
(Senatsverwaltung 1984/91: 11 ff., 28, 30) z.B. sind für das 1. Kurshalbjahr
der Jahrgangsstufe 12 u.a. Grund- und Lei-stungskurse zu den Themen Fables,
con-tes et nouvelles und Poésies et chansons aus-gewiesen. Nach
heutigen Vorstel-lungen müßte die Arbeit mit Texten dieser Sorten
zum „autonomen“ Umgang mit ihnen befähigen. Ein solcher setzt jedoch
die Kenntnis bestimmter Analysever-fahren oder „Techniken“ voraus.
Semiotische Verfahren zentrieren das Augenmerk auf die
verwandten Zeichen-systeme (bsd. mündlich, schriftlich, bildhaft),
textpragmatische auf die Wahl der Ausdrucksmit-tel in Abhängigkeit
von Vertextungsabsichten und -anlässen, Text-syntax auf Textglie-derung
und -kohärenz, Textsemantik auf intra- und in-tertex-tuelle semantische
Struktu--ren. Die genannten Verfahren und viele weite-re beru-hen auf Vorstellungen
von „Text“ und „Verstehen“, die ihrerseits als weitgehend konsensfähige
Paradigmen und als trendabhängige interindividu-elle Konstruk-tionen
gelten müssen. Es ist daher weniger wichtig, welche dieser Techniken
die Lernenden - in der Mehrzahl zukünftige Nicht-philologen - ken-nenlernen,
als daß sie überhaupt motiviert werden, sich auf die Suche nach
potentiellen Be-deutungsbeziehungen zu begeben, und daß sie dafür
geeignete Hilfen erhalten.
Deren Erarbeitung und Bewußtmachung geschieht vorzugsweise
zu Beginn ei-ner Un-terrichtsreihe zu einem ausgewählten Thema, in
deren weiterem Verlauf die Lernenden in eigener „Regie“ und ggf. arbeitsteilig
thematisch verwandte Texte u.U. nach eigener Wahl selbständig bearbeiten.
Außer den zuvor erprobten Techniken steht ihnen dann auch der implizite
oder explizite Textvergleich als „natürlichstes“ Interpretationsver-fahren
zur Verfügung. Bezeichnungen für Stil-mittel können sie
selbst anhand für diese Zwecke zur Verfügung gestellter Über-sichten
(z.B. Huda 1989) erschließen.
Auch bei der Suche nach einer größeren Anzahl
von Texten zu einem geeigne-ten Thema hilft der hier als „semantische Intertextualität“
bezeichnete Ansatz, und zwar nicht nur bei den derzeit virulenten und oft
sehr umfassenden Themen (z.B. l'homme et la nature; vgl. Haar/Schenk 1985)
oder Teilthemen, in die sich diese „großen“ Themen untergliedern
lassen (z.B. L'homme et la mer)7, sondern auch bei spezielleren Themen
wie z.B. Le matin. Diese eignen sich, wie wir nachfol-gend sehen werden,
sehr gut da-zu, Lernende für literarische Beschrei-bungen zu interessieren
und für die Besonder-heiten unterschiedlicher Textsor-ten zu sensibi-lisieren.
Das ehedem vom Hahnenschrei (Prud'homme: Le Point
du Jour), vom angelus (Hugo: Deux chevaliers; vgl. noch Amadou), vom airain
(Chateaubriand: Ro-mance), den ma-tines (Frères Jacques), heute
in der Regel vom Wecker einge-läutete allmorgentliche Sozialisationsritual8
beginnt
mit dem Aufstehen und setzt sich in der Regel mit der Morgentoilette, dem
Anziehen, dem Frühstück und dem häufig mit der Trennung
von Angehörigen oder Partner/innen verbun-denen Auf-bruch zur Schule
oder zur Arbeits-stelle fort. Außer unterschiedlichen Frühstücks-gewohnheiten
und der Tatsache, daß ein spezieller Morgengruß in den romani-schen
Verkehrssprachen „fehlt“, lassen sich - an-gefangen vom Ablie-fern in der
école maternelle über die Wahl der Schul- oder Be-rufskleidung
bis hin zur be-kanntlich arbeitsintensiven levée du roi zu Zeiten
Ludwigs XIV. - ei-ne Fülle von kulturkreis- und schichtenspezifischen
Besonderheiten feststel-len, die einen festen Bestandteil des jeweiligen
persönlichen Verhaltensrepertoires ausmachen.
Angesichts der großen erfahrungsweltlichen Bedeutung
des Morgens nimmt die her-ausragende Rolle, die er in mythologischer Sicht
spielt, nicht wunder. Die bi-blische Schöpfungsgeschichte bringt ihn
mit der Erscheinung des Lichts in Ver-bindung (Gene-sis I. 3-5), jenes
Lichts, das das Dunkel der „ewigen“ Nacht been-det und das Je-sus als Definiens
seiner eigenen Natur sowie als Metapher für die Erkenntnis und das
wahre Leben benutzt. Auch im Popul Vuh (: 23-32; vgl. auch Raynaud 1925:
2-12) der gua-temaltekischen Mayas ist der Morgen der Moment in der Schöpfungsgeschichte,
in dem das Licht (la claridad) und das Leben er-scheinen9. Griechen
und Römer würdig-ten den Morgen speziell für die Morgen-röte
zuständiger Göttinnen, Eos und Aurora, während Rimbaud in
den Illumina-tions l'Aube selbst als Göttin anspricht.
Aus der Erscheinung des Lichts und oft auch des Nebels
erklären sich die dem Morgen attribuierten Farben Weiß, Grau
oder Goldrot10 und die Bezeichnung alba (frz. aube) für mittelalterliche
Tagelieder. Der provenzalische Begriff au-bada (frz. aubade) be-zieht sich
auf ein morgendliches Konzert unter dem Fen-ster einer verehrten Person,
vorzugsweise einer Dame. Daemmrich/Daemmrich (1987) geben unter dem Stichwort
„Tagesanbruch“ Beispiele für bekannte Mor-genlieder des 12. bis 20.
Jahrhunderts und fassen unter Hinweis auf Bellenger (1975) die typischen
Begleitumstände zusammen: Wächterruf oder Vogelstim-men, Abschied
der Liebenden, deutliches Hervortreten der Umwelt und sich durchsetzender
Anspruch der Wirklichkeit. Chevalier/Gheerbrant (1982) deu-ten den Morgen
in der Dichtung (Stichwort: matin) unter Bezugnahme auf my-tholo-gische
Elemente: Il symbolise le temps où la lumière est encore
pure, le com-mencement où rien n'est encore compromis. Le matin
est à la fois symbole de pureté et de promesse: c'est l'heure
de la vie paradisiaque.
Im geistlichen Lied der frühen Neuzeit (vgl. Die
helle Sonn' leucht' jetzt herfür von Nikolaus Hermann und Melchior
Vulpius) beendet der Morgen die Nacht, in der die Seele durch die Macht
des Teufels in besonderer Weise gefährdet wird (1. Strophe), und wird
Gott um den Segen für das Tagwerk gebeten (3. Strophe). Überhaupt
stellt das Kapitel Morgen in evangelischen Gesangbüchern eine Fund-grube
für morgenspe-zifische Mythologeme dar.
Das Tagwerk gehört auch im Volkslied zum Morgenthema
(vgl. Frères Jacques11 ). An seine Stelle tritt allerdings - bsd.
in Pfadfinderliedern - auch häufig eine an-dere Form des Aufbruchs:
der Beginn oder die Fortsetzung der Wanderschaft im noch sehr fri-schen
Morgenwind, der die Gedanken reinigt und freudige Erwar-tung weckt (Vent
frais, vent du matin...; vgl. auch Im Frühtau zu Berge)12 .
Morgenschilderungen finden sich natürlich auch in
sehr vielen Romanen. Das Kapitel I 2 in L'Étranger von Camus berichtet
gleich zweimal davon, wie schwer Meursault das morgendliche Aufstehen fällt.
Immerhin wird ihm beim Aufwachen am Morgen des Sonnabends als erstes schlagartig
klar, warum sein Chef die bei-den Urlaubstage nur ungern gewährte.
Unmittelbar danach plant er seinen Tag und bricht auf. Der Sonn-tagmorgen
stellt eine Variante der traditionellen mor-gendlichen Trennung des Liebes-paares13
dar: Auf der Suche nach dem Geruch von Maries Haaren im traversin kann
sich Meursault nicht zum Aufstehen ent-schließen; es bleibt ein Tag
ohne Aufbruch. Einen Kontrast hierzu bildet der Sonntagmorgen in I6: Marie
hat es schwer, ihn zu wecken, er hat Kopfschmerzen und Hunger, die Zigarette
schmeckt bitter, und das Sonnenlicht schmerzt wie eine Ohrfeige. Zwar beginnt
der Tag nicht mit einer Tren-nung, sondern mit dem gemeinsamen Aufbruch;
aber es ist der Tag, an dem Meursault vom Schwert der aggressiven Sonne
geblendet, verwirrt und zum Mord veranlaßt wird. Im Gefäng-nis
schließlich wird l'aube zur heure douteuse des langen Wartens auf
die Hin-richtung, das erst durch das Hellwerden des Himmels beendet wird
(II 5).
Einige der herkömmlichen mit dem Tagesanbruch verbundenen
Motive begegnen auch in der Schilderung der Schlacht in der Ebene von Ypres
in dem mit dem Prix Goncourt 1990 ausgezeichneten Roman Les Champs d'honneur
von Rouaud, allerdings in grau-sam pervertierter Form. Die Morgenstunde
ist nicht der Moment der Freude und des erwachenden Lebens, sondern der
souffrances atroces und des Todes (: 154 ff.). Das Morgenlicht ist grünlich
(olivâtre, ver-dâtre, coloration pistache)14 , und die brume
verte, die immense nappe bouil-lonnante stellt sich nicht als sich hebender
Morgenne-bel, sondern als in alle Schützengräben und Unterstände
kriechende todbringende Chlorgaswolke her-aus. Selbst die Entstehung der
Erde erscheint in einem anderen Licht:
Oh bien sûr, l'aube de méthane des premiers
matins du monde n'était pas hospi-talière, ce bleu qu'on
nous envie, lumière solaire à nos yeux diffractée,
pas plus que nos vies n'est éternel. Il virera selon les saisons
de la nature et l'inclémence des hommes au pourpre ou au safran
... (: 155; Hervorheb. d. Vf.)
Auch der Film hat sich des Morgenthemas bemächtigt;
besonderer Beliebtheit erfreut sich die Trennung der Liebenden. Der klassische
„Fall“ ist der berühmte Schluß von Les Enfants du paradis (Carné
1943/45; Text: Schneider 1985: 119 ff.). Der ersten physischen Erfüllung
einer großen Liebe, die über viele Jahre nur im Träumen
vonein-ander leben konnte, folgt der Einbruch der Realität: Garances'
Aufbruch gilt der Ret-tung Frédéricks, und Baptiste, an diesem
Karnevalsmorgen von lauter Pierrots umringt, selbst jedoch nicht in der
üblichen Weise verkleidet, wird von Nathalie und Garance darauf hingewiesen,
daß er nicht das Recht habe, ausschließlich seinen Träumen
zu leben. Im vierten Film der Comédies et proverbes von Rohmer,
Nuits de la pleine lune (1984), ähnelt die endgültige Trennung
den sich jeden Morgen vollziehenden. Indem sie aber einen Schluß-strich
unter eine bereits eingetretene Entfremdung setzt, gerät sie zum halbherzi-gen
Aufbruch aus einer längst bestehenden Beziehungslosigkeit. Das
Leben des Arbeiters François in Carnés Film Le Jour se lève
(1939) wird, wie er selbst schildert, vom morgendlichen Läuten des
Weckers regiert:
Oh! c'est pas compliqué... On prend le réveil...,
on le remonte ..., on dort..., il sonne ..., on se lève ... T'as
compris? (Text nach Prédal 1988: 217 f.)
Dieses ertönt auch am letzten Morgen, unmittelbar
nachdem sich François er-schossen hat, am Ende eines Films, der
bereits kurz zuvor zu seinem Anfang zu-rückgekehrt ist. Auch die anderen
schicksalhaften Ereignisse zwischen erwar-tungsvollem Aufbruch und verzweifeltem
Abbruch tragen sich morgens zu: Die Waisen-“Kinder“ François und
Françoise lernen sich an ihrem gemeinsamen Na-menstag kennen (Text:
Prédal 1988: 215-217), Valentin belügt François, Valentin
wird von François erschossen, was den ersten Polizeiangriff auslöst,
und vor dem letzten Polizeiangriff, der sich ebenfalls an einem Morgen
ereignet, zerstört François seine bisherige Identität
(Quoi, François? Quel François? François, connais
pas.), indem er den Spiegel zerschlägt.
Auch in Erzählungen wird der Morgen gern mit einem
Aufbruch in Verbindung ge-bracht; so etwa in der bereits erwähnten,
erstaunlich dichten, beziehungsrei-chen und interessant strukturierten
Erzählung Pierre Roulin, caissier, deren Autor im Lehrbuch (s. Fußnote
8) nicht genannt wird. Weiß erscheint hier als Farbe ei-niger Haare
des Pro-tagonisten, den dieser plötzlich bei der Morgentoilette
ent-deckter, höchst ernüchtern-der Umstand zum Überdenken
seiner Situation, zur Trennung von Familie und Ar-beitsplatz und zum Aufbruch
aus dem grauen, schmutzigen und regennassen Paris in eine sonnenbeschienene
Ungewißheit ver-anlaßt, die die Möglichkeit einer Rückkehr
in das verlorene Paradies suggeriert.
Beschreibungen des sich bei Tagesanbruch bietenden
Naturschauspiels gehören zu den schönsten Stellen in den auch
als Schullektüre erschienenen Erzählungen von Le Clézio
(1978).
In Mondo (: 31-33) geraten der andeutungsweise an eine
Geburt erinnernde Son-nen-aufgang und der Aufbruch des Protagonisten in
die Stadt zu einer Symphonie der Lich-ter und Farben, von der die nachfolgend
herausgezogenen Mythologeme nur eine erste Vorstellung zu geben vermögen:
... il regardait le soleil se lever. À quatre heures
cinquante le ciel était pur et gris ... nuages de vapeur au-dessus
de la mer ... une flamme qui s'allume... une auréole pâle
qui élargissait sa tâche dans l'air ... cette vibration bizarre
qui faisait trembler l'horizon, comme s'il y avait un effort ... le disque
apparaissait ... jetait un faisceau de lumière ... la mer et la
terre semblaient de la même couleur. Un in-stant après venaient
les premières couleurs, les premières ombres. Mais les réverbères
de la ville restaient allumés, avec leur lumière pâle
et fatiguée... quel-ques mouettes ... L'eau était très
transparente, grise, bleue et rose, et les cailloux étaient très
blancs ...tout devenait rose et clair... Les poissons se réveillaient
... leur ciel pareil à un miroir, ils étaient heureux au
milieu des milliers de soleils qui dansaient, et les hippocampes montaient
le long des tiges d'algues pour mieux voir la lumière nouvelle.
Même les coquilles entrouvraient leurs valves pour lais-ser entrer
le jour.... les vagues lentes qui tombaient sur les cailloux de la plage
en allumant des étincelles.
... il avait froid... Mondo se plongeait jusqu'au cou
... dans l'eau pour voir le fond ... le crissement fragile des vagues ...
une musique qu'on ne connaît pas sur terre ... jusqu'à ce
que ses doigts deviennent blancs... il attendait les yeux fermés
que la chaleur du soleil enveloppe son corps.
La belle lumière ... les façades blanches
des villas ... un glacier qui s'applait La Boule de Neige... le soleil
éclairait bien les trottoirs ... les gens ... fatigués ...
les cheveux et les cils blanchis par le sel ... une vitrine remplie de
cuisinières très blanches ... (Hervorheb. d. Vf.)
An einem Morgen wie diesem vollziehen sich auch Mondos
Trennung von der kleinen Vietnamesin und sein Aufbruch aus dem Paradies
(: 67-69). Lautlos steigt er die Stufen des Weges hinab und stillt seinen
Durst am Tau der Blätter. Der Himmel zeigt bereits eine rosa Färbung,
als er das Brummen der Mopeds ver-nimmt (en faisant leur bruit de bourdon),
auf denen die Werktätigen zur Arbeit fahren. Bevor er sich auf die
Suche nach dem Bettler mit den Tauben macht, nutzt er die Ruhe des morgendlichen
Stran-des, um mit allen Leuten, die er mag, fast telepathisch in Verbindung
zu treten.
Lullabys Aufbruch zur Findung ihrer Identität (:
81-83)15 in einer weiteren Erzäh-lung von Le Clézio ereignet
sich natürlich auch an einem sehr frühen Morgen, beginnend mit
dem Beschluß, zunächst nicht mehr zur Schule zu gehen. In dem
Brief an ihren in der Ferne weilenden Vater spielt der vor ihr stehende
Wecker eine wichtige Rolle. Ebenfalls an einem Morgen (: 111: Le ciel était
presque blanc... Les rochers blancs semblaient des icebergs ... lumière
... vent) wird ihr klar, daß sie das Leben der ver-gangenen Tage
nicht fortsetzen kann und in die Schule zurückkehren muß. Auch
Da-niel in Celui qui n'avait jamais vu la mer (: 167 ff.) wählt für
seinen Aufbruch zum Meer die frühen Morgenstunden (: 173): Elle brillait
dans la lumière, elle changeait de couleur et d'aspect, étendue
bleue, puis grise, verte, presque noire, bancs de sable ocre, ourlets blancs
de vagues.
Das mit dem Morgen sehr häufig verbundene Motiv
des Aufbruchs oder Neuan-fangs weist in den bisher betrachteten Texten
mehrfach den Bezug zu einem Tagwerk auf, das fröhlich angegangen oder,
im Gegenteil, verweigert wird. In Gedichten ist dieser Bezug zur konkreten
Lebenspraxis weitaus seltener, obwohl das Aufbruchsmotiv mit-unter durchaus
eine wichtige Rolle spielt. Hierbei denken wir vor allem an Moïse
von Vigny. Der Dichter läßt den hundertjährigen Führer
der Juden aus dem vom Morgen-tau befeuchteten Sand der Moabebene aufbre-chen,
um dem Herrn in seiner blitzenden Wolke den Führungsauftrag zurückzuge-ben.
Und wir denken an Hugos Aufbruch zum Grab seiner Tochter:
Demain, dès l'aube, à l'heure où
blanchit la campagne,
Je partirai...
In unserem Zusammenhang ist dieses Gedicht vor allem durch den Kontrast zu anderen Morgengedichten interessant, der sich daraus ergibt, daß der mit trauernd nach innen gerichtetem Blick wandernde Dichter die Mitteilung hör- und sehbarer Morgener-scheinungen ausdrücklich verweigert :
Je marcherai les yeux fixés sur mes pensées,
Sans rien voir au dehors, sans entendre aucun bruit,
....
Triste, et le jour pour moi sera comme la nuit.
Andere Morgengedichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
enthalten keinerlei Auf-bruchsmotiv, auch nicht in Form einer Trennung;
sie stellen das Naturschau-spiel voll-kommen in den Vordergrund. Das Rondo
Le jour aus Les Exilés von Banville schildert die joie immense der
cieux flamboyants d'aurore, der terre en fleur, der feuillages au pur contour,
der sich verfärbenden Behausungen, der Gewässer, Blumen und Vögel
bei der von Blätterrauschen, Wassermurmeln und Vogelgesang klanglich
untermalten Rückkehr des Morgens.In einem kaum stärker zu denkenden
Gegensatz zu diesem friedvollen Text steht das von Georges Brassens (Philips
PG 581/836 291-4 Cass. 3) durchgehend in Moll vertonte und gesungene schauerliche
Morgengedicht Le Verger du roi Louis desselben Dich-ters. In makabren Bildern
und mit nur drei Reimen / dy, or und ui / ausgestattet, beschreibt es eine
lange Reihe noch zuckender Gehängter, wobei fast alle übli-chen
Mythologeme Verwendung finden (Sp. d. Vf.):
... La forêt où s'éveille Flore
À des chapelets de pendus
Que le matin caresse et dore...
Le soleil levant les dévore.
Regardez-les, cieux éblouis,
Danser dans les feux de l'aurore...
Tandis qu'aux cieux, d'azur tendus
Où semble luire un météore
La rosée en l'air s'évapore.
Un essaim d'oiseaux réjouis...
Dans le doux feuillage sonore...
In seinem Gedicht Le Point du Jour schildert Prud'homme
die Rückkehr der Morgen-röte von der heure indécise...
Quand il ne fait ni nuit ni jour über das - von uns schon bei Le Clézio
kommentierte - Erbeben des Horizonts beim Son-nenaufgang bis zu dem Moment,
in dem das rosa, purpurne und goldene Licht die Felder übergießt,
wobei er eine ganz erstaunliche Fülle an weiteren visuellen (der blauweiße
Rauch eines premier feu, der feine, fahle Schleier des Taus, Feld und Ochsen
im Morgenrot), an akustischen (coq; tous les nids chantent en chœur; l'alouette)
und taktilen (humide, tendre, souffle léger) Eindrücken entfes-selt.
Vor allem interessant scheint die symbolische Umsetzung des bereits ange-sprochenen
morgendlichen Wechsels aus dem Reich der Träume in die Wirklich-keit
in das Bild der fliehenden Nebelschwaden (Strophe 3). Sehr gute Ver-gleichsmöglichkeiten
bieten Le déjeuner du Soleil von Rostand (Besonderheit: Perso-nifizierung
der Sonne), Le matin en fête von Lihoreau (Sonett; die Glocken
leiten die Morgenfreude des Himmels in die Seelen) und Le petit jour von
Roy (Personifizierung des petit jour; auch in Contes, fables et poésies
modernes 1989: 12).
Gemessen an der Anzahl seiner Kommentierungen in literaturdidaktischen
Bei-trägen kann Déjeuner du matin aus den Paroles (1945) von
Prévert als das im Unterricht be-liebteste und vielleicht am häufigsten
als Grundlage von réécriture-Versuchen ge-wählte Gedicht
dieses Autors gelten,16 auch wenn es bisweilen lei-der zur Einführung
des passé composé oder als Illustration französischer
Früh-stücksgewohnheiten miß-braucht wird.
Hat schon Roy das Morgengeschehen aus der Natur in das
Innere seiner Behau-sung verlegt, so verengt Prévert die Perspektive
auf wenige Gesten, die, stünden sie im Prä-sens, wie die Anweisungen
zu einer Pantomime gelesen werden könnten. Es ist be-kannt, daß
der Autor in seinen Drehbüchern - z.B. zu Les Enfants du paradis (1943/45;
vgl. Dokumentationsfilm von Gehring 1968) - alle Einzelheiten genau festlegte.
Unter diesem Aspekt ließe sich der Aufbau dieses Gedichts mit einem
travelling arrière und gleichzeitigem Übergang vom détail
zum plan d’ensemble vergleichen. In Anlehnung an den genannten Film könnte
diese „stumme“ Sequenz auch als Pantomine von den Lernenden dargestellt
wer-den; dies scheint näher zu liegen als die Umsetzung in ein Schattenspiel
(vgl. Ar-beitsgruppe Französisch 1982). Eine ganz andere Wirkung läßt
sich erzielen, wenn die stummen Gesten parallel zu einer der bekannten
Vertonungen17 ausge-führt werden.
Dem erwähnten Ortswechsel entsprechend, erscheinen
die Mythologeme in ver-wandel-ter Form. Mit der schwarzen Farbe des soeben
eingegossenen Kaffees kontrastieren das Weiß der Milch, des Zuckers
und der Zigarette und die farbli-chen Zwischentöne des Milchkaffees,
des Rauches, der Asche und des vermutlich grauen Himmels. Assozia-tionen
des Zigarettenrauchs mit dem morgendlichen Rauch eines pre-mier feu in
älteren Gedichten (s.o.: Le Point du Jour) oder mit den ebenfalls
häufig erwähnten Frühnebel-schwaden und die Erklärung
von Il a mis les cend-res/dans le cendrier zur symboli-schen Geste sollten
ebenso „erlaubt“ sein wie ein „kühner“ Gedankensprung von den ronds
zu verwabernden Ketten-gliedern oder sich auflösenden Freundschafts-
bzw. Eheringen. Nicht einmal der vom Titel des Gedichts oder der vorherigen
Lektüre von Le déjeuner du Soleil u.U. ausgelösten Deutung
des Aufbrechenden als Personifizie-rung des Morgens wi-derspricht der Text.
Konsensfähig in der interpretative commu-nity der Lernen-den dürfte
hingegen die Auffassung des Aufbruchs in Hut und Mantel in die re-gennasse
Stadt als innere oder tatsächliche Trennung eines Paares sein; schließ-lich
wird zunächst ein „ganz normaler“ Morgen signalisiert, deuten aber
schon die refrainartig wiederholten Verse eine Unüblichkeit an und
legen die Geste und das Weinen in den Schlußversen eine entsprechende
Interpretati-on nahe. Auf dem Hinter-grund der bereits besprochenen Texte
erscheint der Morgen auch hier als Stunde Null, als Moment der Ernüchterung,
der Rückkehr aus der Welt der Träume und der Erinne-rungen in
den grauen Alltag und in die reale Isolation durch Nicht-Kommunikation18.
Als günstig gilt der Vergleich von Gedichten mit
thematisch ähnlichen Chansons19. Mehrere von Joe Dassin gesungene
Chansons behandeln das Mor-genthema. Das wohl bekannteste, L'Été
indien, gestaltet sprachlich gekonnt und farbenprächtig20 die Auf-hebung
der Zeit und des Ortes in der Erinnerung an einen offensichtlich lang zurück-liegen-den
Morgen des Glücks; typische Mythologeme wie Aufbruch und Hoffnung
im Refrain treten jedoch hinter den eher traumhaft-visionären Bildern
in den reimlo-sen, gesprochenen und von Mollakkorden begleite-ten Strophen
zurück. Das weit weniger bekannte Entre deux adieux ist da schon „typischer“:
Le soleil fait mal au petit jour; die Träume entweichen; Il faut bien
la retrouver, la réalité - und dies bedeutet hier, endlich
Schluß mit der Verlogen-heit eines noch geheim-gehaltenen Verhältnisses
zu machen. Die größte Nähe zum soeben besproche-nen Prévert-Gedicht
weist das eben-falls von Dassin gesungene, aus zahlreichen Antithesen zusammengefügte
Anti-Sonett Salut les amoureux. auf (Sp.d.Vf.):
SALUT, LES AMOUREUX
Les matins se suivent et se ressemblent,
quand l'amour fait place au quotidien.
On n'était pas faits pour vivre ensemble,
ça n'suffit pas toujours de s'aimer bien.
C'est drôle, hier on s'ennuyait
et c'est à peine si l'on trouvait
les mots pour se parler du mauvais temps.
Et maintenant qu'il faut partir
on a cent mille choses à dire
qui tiennent trop à cœur pour si peu de temps.
REFRAIN: On s'est aimé comme on se quitte,
tout simplement, sans penser à demain,
à demain qui vient toujours un peu trop
vite
aux adieux qui quelquefois se passent un peu trop
bien.
On fait ce qu'il faut, on tient nos rôles,
on se regarde, on rit, on craint un peu,
on a toujours oublié quelque chose.
C'est pas facile de se dire adieu.
Et l'on sait trop bien que tôt ou tard,
demain peut-être ou même ce soir,
on va se dire que tout n'est pas perdu.
De ce roman inachevé
on va se faire un conte de fée,
mais on a passé l'âge, on n'y croirait plus.
REFRAIN
Roméo, Juliette et tous les autres,
au fond de vos bouquins, dormez en paix.
Une simple histoire comme la nôtre
est de celles qu'on n'écrira jamais.
Allons, petite, il faut partir,
laisser ici nos souvenirs.
On va descendre ensemble, si tu veux.
Et quand elle va nous voir passer,
la patronne du café
va encore nous dire: Salut, les amoureux.
REFRAIN
Im Vordergrund stehen auch hier der morgendliche Aufbruch
und die Desillu-sion, die Unfähigkeit, über die eigentlich wichtigen
Dinge zu sprechen, und schließlich die Trennung. Wie schon in Pierre
Roulin und in Déjeuner du ma-tin, aber auch in dem von Michel Sardou
gesungenen Lied Comme d'habitude22 hat der ernüch-ternde Alltag (le
quotidien) in den Mythos der großen Liebenden (Roméo, Juliette
et tous les autres) Einzug gehalten und diesen zerstört.
Seine Wirksamkeit ist auf die Funktion einer Wahrnehmungsschablone
redu-ziert: Der nicht mehr unbedingt gewollte (si tu veux) gemeinsame Aufbruch
wird durch das tenir nos rôles zum sinnentleerten Abbild eines einträchtig
zu-rückgelegten Stücks Weges im Leben und wirkt nur noch auf
den Außenste-henden (la pa-tronne) wie echte Verbun-denheit. Zur
Sensibilisierung für die ent-sprechenden Signale im Unterricht eignen
sich der Einstieg über ein Assozio-gramm zu dem Sprichwort Les jours
se suivent et ne se ressemblent pas und die bei der weiteren Besprechung
gemeinsam vorgenommene Aufteilung des Textes in die drei the-matisierten
Zeitstufen: le passé (hier, nos souve-nirs) -
le présent (le matin) - le futur (demain, ce soir).
Natürlich verlegen moderne Chansons nicht grundsätzlich
das morgendliche Ge-sche-hen in den Wohnbereich sich ernüchternd fremd
gewordener Lebenspartner. Aber nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch
deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung des Rahmenthemas können
zur intertextuellen Betrachtung anrei-zen. In dem sehr be-kannten und heutigen
Jugendlichen auch musikalisch zugäng-lichen, von Jacques Du-tronc
gesungenen Paris s'éveille schweift das nicht loka-lisierbare, vielleicht
mit den Bögen und Tremolos der flûte traversière assoziier-bare,
beschreibende Ich über die erwachende Metropole, von deren pulsierendem
Rhythmus es sich zunehmend anstek-ken läßt (je n'ai pas sommeil)23
. Dieser Rhythmus „zerhackt“ die allenfalls durch Par-allelismen und Wortspiele
aufeinan-der bezogenen, jedoch durch die paratak-tische Textgestaltung
- nur dreimal ist ein Satz auch hörbar länger als eine meist
acht-hebige Verszeile - zersplitterten Im-pressionen.
Obwohl weder der Morgenkaffee noch die Morgenfarbe Weiß
(la place Blanche; lait ) fehlen und auch das Aufbruchsmotiv verschiedentlich
anklingt (Les ban-lieusards sont dans les gares etc.), signalisieren farbliche
Zwischentöne (der von den Straßen und den Glasscheiben zu entfernende
Schmutz; die Fleischverarbei-tung in den abattoirs der Villette, die erlöschenden
Lichter von Paris by nigth), die morgendliche Kälte und eine ganze
Reihe weiterer Umstände durchaus keine heitere Stimmung: la place
Blanche a mauvaise mine, la gare n'est plus qu'une carcasse, les ouvriers
sont déprimés, les gens...sont brimés.
Ich habe mehrfach erlebt, daß der Zugriff zu diesem
Chanson im Unterricht über zwei temporale Aspekte (etwa: avant - après
5 heures oder: la nuit - le jour) ver-sucht wur-de. Das hat sich jedesmal
als schwieriges Unterfangen herausgestellt; denn die Er-eignisse sind nun
einmal recht genau auf fünf Uhr morgens datiert: Il est cinq heures...
Überdies stellt sich in diesem Zusammenhang auch wieder die Frage
nach dem kaum greifbaren Ich: C'est l'heure où je vais me coucher.
Gehört der Erteiler dieser Aus-kunft, der sich selbst als le dauphin
de la place Dauphine bezeichnet, etwa zu dem in der zweiten Strophe (s.
Fußnote 23) angesprochenen Personenkreis oder vielleicht gar zu den
paumés du petit matin, die Jacques Brel in dem gleichnamigen Chanson24
be-singt? Dem beschreibenden Charakter ange-messener und auch ertragreicher
ist die Verfolgung seiner beiden Isotopieebenen +/- animé (bzw.
personnes-objets),da hier-durch eine reizvolle Eigentümlichkeit unseres
Textes ins Bewußtsen gehoben wird, nämlich die häufigen
Überschnei-dungen beider Ebenen in jener Stunde Null entre la nuit
et la journée: la place Blanche a mauvaise mine, les balayeurs sont
plains d'ba-lais, les cafés nettoient leurs glaces, la tour Eiffel
a froid aux pieds, l'Arc de Triomphe est ranimé.
Da eines der obengenannten Lernziele für die
Behandlung des Morgenthemas in der Weckung des Interesses für literarische
Beschreibungen bestand, wurden hier - mit zwei Ausnahmen - nur literarische
Texte besprochen. Im Sinne der ebenfalls beabsich-tigten Sensibilisierung
für die Besonderheiten unterschiedlicher Textsor-ten läge es
je-doch durchaus, nichtliterarische Texte in größerer Anzahl
einzube-ziehen (vgl. Rück 1977: 396). Solche sind im Hinblick auf
unser Thema nicht sehr leicht zu finden; Aus-sicht auf Erfolg bietet wohl
am ehesten die Werbung für Frühstücksprodukte.
Umso notwendiger scheint es, beim Vorschlagen von Gestaltungsaufgaben
an-dere Textsorten zu berücksichtigen. Sowohl für Naturbeschreibungen
als auch für Berichte über zwischenmenschliche Beziehungen bieten
sich der persönliche Brief, die Bildbe-schreibung und die Mitteilung
der Eindrücke von einem Mu-sikstück an. Als besonders reizvolle
und gegebenfalls in kleinen Gruppen - idea-lerweise im zweisprachigen Tan-dem
- zu bearbeitende Aufgabe empfiehlt sich das Texten einer selbsterstellten
Dia-reihe zu unserem Thema; sie eignet sich so-gar als Initialimpuls zur
Behandlung der Texte. Damit soll keinesfalls von eigenen „literarischen“
Versuchen der Lernenden abgeraten werden.
9. Zusammenfassung
Mündliche und schriftliche Texte erschließen
sich nur durch die Kenntnis anderer, zu-vor rezipierter Texte und damit
letztlich über die in permanenten Individua-tions- und Sozialisationsprozessen
ausgebildeten Primärtexte.
Primärtexte von Angehörigen einer Institution
oder Gruppe weisen mehr Gemein-sam-keiten auf als die von Bewohnern derselben
Region. Es gibt mehr Gemein-samkeiten in den Primärtexten der Angehörigen
derselben als verschiedener Sprach- und Kulturge-meinschaften. Interkulturelles
Lernen besteht in der Ver-mehrung von Gemeinsamkei-ten zwischen den Primärtexten
Angehöriger ver-schiedener Sprach- und Kulturgemein-schaften.
Verstehen ist die Herstellung von Sinnbezügen zwischen
den in einem Text als solche empfundenen Signale und zwischen diesen Signalen
und bereits vorhande-nen Kennt-nissen und Erfahrungen. Das Erkennen von
Signalen setzt eine entspre-chende Sensibi-lisierung voraus. Das Herstellen
von Sinnbezügen in und zwischen fremdsprachlichen Texten ist eine
Form fremdsprachlichen Handelns. Es ist lehr- und lernbar.
Durch die in den Abschnitten 6-8 gegebenen Beispiele
sollte nachgewiesen wer-den, daß der als Semantische Intertextualität
bezeichnete Ansatz solchen Erfor-dernissen in besonderer Weise gerecht
wird.