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  • 3. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung

    Autismus bringt das Genie hervor

    Autismus bringt das Genie hervor

    Eine Hemmung in der linken Hirnhemisphäre verbessert die Gedächtnisleistung

    Nach einem 45-minütigen Flug über Rom konnte der Autist Stephen Wiltshire das Panorama der Stadt aus dem Gedächtnis originalgetreu zeichnen. Nach einem 45-minütigen Flug über Rom konnte der Autist Stephen Wiltshire das Panorama der Stadt aus dem Gedächtnis originalgetreu zeichnen. (Bild: PD)
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    Sogenannte Savants sind teilweise hoch talentiert und haben ein sehr gutes Gedächtnis, gleichzeitig sind sie geistig beeinträchtigt. Bei Autisten ist dieses Syndrom sehr verbreitet. Forscher untersuchen, welche autistischen Wesenszüge die Entwicklung von Talent begünstigen.

    Lena Stallmach

    Jeder Student kennt wahrscheinlich den leisen Anflug der Verzweiflung beim Anblick der vielen Bücher, deren Inhalt er in nur wenigen Monaten kennen muss. Die Aussicht, das meiste Gelernte schon bald nach der Prüfung wieder vergessen zu haben, macht die Sache nicht besser. Wie schön wäre es, die Seiten einmal durchzulesen und das Ganze für immer zu speichern. Es gibt Menschen, die das können, wie beispielsweise Kim Peek, das Vorbild für den autistischen Raymond Babbitt im Film «Rain Man». Peek selbst ist nicht autistisch, aber sein Gehirn weist seit seiner Geburt eine Anomalie auf. In vielen alltäglichen Tätigkeiten, wie etwa dem Ankleiden, ist er stark beeinträchtigt. Aber er kennt den Inhalt von mehr als 6000 Büchern nahezu auswendig. Für komplizierte Sachbücher braucht er nur wenige Stunden – er liest zwei Seiten gleichzeitig, eine mit dem linken, die andere mit dem rechten Auge, einmal Gelesenes vergisst er nicht mehr. Warum kann Peek so viele Informationen gleichzeitig verarbeiten und behalten? Wie schafft sein Gehirn etwas, das gewöhnliche Gehirne nicht können?

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    Inselbegabungen bei Autisten

    Kim Peek ist einer der bekanntesten Inselbegabten oder Savants. Das sind Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, die in einem Teilbereich enorme Leistungen vollbringen können. Das kann Mathematik, Kunst, Musik oder mechanisches Geschick betreffen und ist fast immer von einem aussergewöhnlich guten Gedächtnis begleitet. Inselbegabungen treten bei verschiedenen geistigen Behinderungen auf, besonders häufig sind sie bei autistischen Personen. Etwa einer von zehn Autisten ist ein Savant; und laut Schätzungen sind mehr als die Hälfte aller Savants Autisten. Das legt die Frage nahe, ob Autismus die Entwicklung von Talenten in irgendeiner Form begünstigt. Dies war auch eines der Hauptthemen an einer Konferenz über Talente und Autismus im September letzten Jahres. Die Theorien und Ergebnisse wurden Ende Mai im Wissenschaftsmagazin «Philosophical Transactions der Royal Society B» publiziert.

    In einer Studie haben Francesca Happé und Pedro Vital vom psychiatrischen Institut des King's College London beispielsweise untersucht, welche autistischen Merkmale in der Durchschnittsbevölkerung mit speziellen Talenten einhergehen. Ihre Untersuchung umfasste mehr als 6400 Achtjährige aus England und Wales. Mittels von den Eltern ausgefüllter Fragebögen wurde erhoben, ob ein Kind spezielle Begabungen im Bereich der Mathematik, Musik, Kunst oder Gedächtnisleistung hatte. Mit einem Test zur Diagnose des Asperger-Syndroms wurden zudem autistische Wesenszüge im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie das Auftreten von eingeschränkten und repetitiven Verhaltensweisen und Interessen ermittelt. Es zeigte sich, dass Kinder mit speziellen Begabungen deutlich mehr autistische Merkmale aufweisen als jene ohne Talente. Dabei trat die stärkste Korrelation mit repetitiven, eingeschränkten Verhaltensweisen und Interessen und vor allem mit einer ausgeprägten Aufmerksamkeit für Details auf.

    Ein Stadtbild aus dem Gedächtnis

    Dieser Fund unterstützt ein konzeptuelles Modell, das als Weak Central Coherence Theory von breiten Kreisen der Savant-Forscher schon seit Jahren vertreten wird. Die Theorie geht davon aus, dass Autisten eine andere Art der Wahrnehmung und Kognition haben als der Durchschnitt. Sie konzentrieren sich demnach weniger auf die Bedeutung einer Information und haben Probleme, grössere Zusammenhänge zu erkennen, dafür haben sie eine besondere Merkfähigkeit für Details und können diese in unglaublicher Präzision wiedergeben.

    Nach einem 45-minütigen Flug über Rom konnte der Autist Stephen Wiltshire das Panorama der Stadt aus dem Gedächtnis originalgetreu zeichnen.
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    Ein extremes Beispiel dafür ist der Autist und Künstler Stephen Wiltshire. Nach einem 45-minütigen Flug im Helikopter über Rom gab man ihm drei Tage Zeit, die Stadt auf einer fünf Meter langen Leinwand nachzuzeichnen. Ohne sich vorher eine grobe Skizze zu machen, die das Gesamtbild wiedergegeben hätte, begann er in der Mitte der Leinwand mit der Spitze des Petersdoms. Detail um Detail fügte er hinzu, bis am Ende die ganze Stadt originalgetreu abgebildet war – sogar die Anzahl der Fenster in den grösseren Gebäuden war korrekt.

    Laut der neuen Studie scheint es so, dass eine stark ausgeprägte Aufmerksamkeit für Details und ein besonderes Interesse für ein eingeschränktes Gebiet die Entwicklung von Begabungen allgemein begünstigen. Simon Baron-Cohen und Bhismadev Chakrabarti vom Forschungszentrum für Autismus der Cambridge-Universität argumentieren jedoch, dass dies allein noch kein Talent ausmacht. Vielmehr sei es das Bedürfnis, alles Wahrgenommene zu analysieren und zu systematisieren, was bei Autisten besonders ausgeprägt sei. So könnten sie wiederkehrende Muster erkennen und Regeln nach dem Prinzip «Immer wenn a kommt, folgt b» aufstellen. Die Aufmerksamkeit für Details sei eine Voraussetzung für dieses Systematisieren und werde ihrerseits von überempfindlichen Sinnen, wie einige Studien sie bei Autisten nachweisen konnten, unterstützt, schreiben die Forscher. Sie spekulieren daher, dass beispielsweise eine Obsession für Zahlenreihen oder Tonfolgen darauf beruhen könne, leise Abweichungen erkennen zu wollen.

    Dieses Modell habe im Vergleich zur Central Coherence Theory den Vorteil, dass es einbeziehe, dass Autisten durch das Lernen von Regeln und Gesetzmässigkeiten mit der Zeit auch grössere Zusammenhänge verstehen können. Wenn sie dazu nicht in der Lage wären, würden sie immer in den Details verloren bleiben.

    Der Psychiater Darold Treffert von der Wisconsin Medical School, der das Savant-Syndrom seit über 40 Jahren erforscht und eines der umfassendsten Bücher darüber mit dem Titel «Extraordinary People» geschrieben hat, denkt, dass es keine allgemeingültige Erklärung für alle Savants gibt. Er gliedert das Syndrom in drei Stufen. Über eine Expertise in Belanglosigkeiten wie etwa Telefonnummern zu besonderen Begabungen in einem Fachbereich bis hin zu Wunderkind-Savants (prodigious savants). Letztere sind sehr selten, weltweit kennt man nur etwa 100 solche Fälle – bedeutende Musiker, Künstler oder Allround-Talente wie Kim Peek. Ihre Begabungen sind so spektakulär, dass sie auch bei einer Person, die geistig nicht beeinträchtigt ist, als herausragend gelten würden.

    Von all den verschiedenen Theorien, die in den letzten Jahren zur Erklärung des Savant-Syndroms aufgestellt wurden, hebt Treffert eine besonders hervor. Diese sieht eine Störung im Gleichgewicht der linken und der rechten Gehirnhälfte als Ursache für das Syndrom. Diese Hypothese kam bereits vor fast 30 Jahren auf, als bei einem Knaben nach einer Verletzung der linken Gehirnhälfte savantähnliche Fähigkeiten auftraten. Seitdem wurden mehrere solche plötzlichen oder erworbenen Savant-Fähigkeiten beobachtet – bei bestimmten Formen der Demenz, Hirnschlägen oder Kopfverletzungen. Untersuchungen ergaben, dass sie meistens mit einem Funktionsverlust im linken vorderen Scheitellappen einhergehen.

    Seit langem ist bekannt, dass der Aufgabenbereich der beiden Gehirnhälften verschieden ist. Während die Entwicklung von abstrakten und verbalen Fähigkeiten eher in der linken und dominanten Hälfte geschieht, ist die rechte auf Wahrnehmungsprozesse und die Ausbildung von künstlerischen Fähigkeiten spezialisiert. Während der Entwicklung ist die linke Hemisphäre für Störungen sehr viel anfälliger, weil ihre Ausreifung im Fötus länger dauert und auch beim Neugeborenen noch nicht abgeschlossen ist. Untersuchungen haben ergeben, dass viele Menschen mit Savant-Syndrom von Funktionsstörungen in der linken Gehirnhälfte betroffen sind, so auch Kim Peek. Ausserdem scheinen solche linksseitigen Störungen eine Begleiterscheinung von Autismus zu sein. Eine kompensatorische Überentwicklung der rechten Hirnhälfte könnte laut Treffert die Entwicklung besonderer Fähigkeiten ermöglichen.

    In jedem schlummert ein Savant

    Anstatt einer Kompensation könnte es aber auch sein, dass bei einer Funktionsstörung der dominanten linken Hemisphäre ihr hemmender Einfluss auf die rechte wegfällt und Letztere dadurch erst ihr Potenzial entfalten kann. Diese These wird vom Hirnforscher Allan Snyder propagiert, dem Direktor des australischen «Centre for the mind». Er glaubt, dass Savant-Fähigkeiten in jedem Menschen schlummern; meist würden sie aber von der dominanten Hirnhälfte unterdrückt. Durch einen Fehler in dieser Hemmung hätten Savants laut Snyder privilegierten Zugang zu tieferen, weniger verarbeiteten Informationsebenen, wo Informationen noch nicht mit Bedeutung versehen und in ganzheitliche Konzepte verpackt sind. Diese könnten einfach nur abgelesen und müssten nicht bewusst gelernt werden.

    Um diese These experimentell zu überprüfen, wandten er und seine Kollegen als erste die Transkranielle Magnetstimulation (TMS) an. Diese Technik ermöglicht es, Teile des Gehirns kurzfristig zu hemmen. In den letzten zehn Jahren haben auch andere Forscher in verschiedenen Experimenten bei Menschen mit durchschnittlichen kognitiven Leistungen verschiedene Tätigkeiten wie Zählen, Malen und Gedächtnisleistungen bei gleichzeitiger Hemmung des linken vorderen Schläfenlappens untersucht. Tatsächlich konnte durch die Hemmung eine nachweisliche Verbesserung der Leistungen erzielt werden. Snyder nimmt deshalb an, dass jeder Mensch spezielle Fähigkeiten entwickeln kann, wenn er Zugang zu diesen Informationsebenen hat.

    Doch gebe es wahrscheinlich auch einen guten Grund dafür, dass dieser Zugriff verwehrt sei, räumt er ein. Denn normalerweise ist es nicht wichtig, nach einer Städtereise die genaue Anzahl Fenster jedes Gebäudes zu kennen, der Gesamteindruck ist viel wichtiger. Durch die Gliederung von Informationen nach ihrer Bedeutung wird auch das Lernen vereinfacht, denn ohne dies ist das Gehirn schnell überfordert. So brauchen etwa Autisten einen klar strukturierten Tagesablauf – möglicherweise, um die fehlende innere Ordnung dadurch zu kompensieren. Kim Peek, der kein Autist ist, benötigte Jahrzehnte, um sein ganzes Wissen nicht nur wiederzugeben, sondern auch auf kreative Weise Assoziationen herzustellen. Teilweise hat er immer noch Schwierigkeiten zu abstrahieren, beispielsweise bei der Interpretation von Sprichwörtern. Einen Preis für den Zugang zu so vielen Informationen muss man also zahlen.

     

    Autistische Störungen

    Autistische Störungen

    lsl. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, bei der die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung anders abläuft als beim Durchschnitt der Menschen. Merkmale der Störung sind Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie stereotype Verhaltensweisen. Es wird zwischen dem frühkindlichen Autismus und dem Asperger-Syndrom unterschieden, das sich oft erst nach dem dritten Lebensjahr bemerkbar macht. Meistens wird jedoch von einer Autismusspektrums-Störung gesprochen, was der Tatsache Rechnung trägt, dass es sehr unterschiedliche Schweregrade gibt – von leichten Verhaltensproblemen bis zu starker geistiger Behinderung.


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