Kommen Sie uns nicht mit 1945!

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ZEIT: Brauchen wir mehr Optimismus?

Schmidt: Die Deutschen sind gegenwärtig geneigt, ihre Lage schwärzer zu malen, als sie tatsächlich ist. Es gibt ein einziges Feld, auf dem wir wirklich besondere Probleme haben. Das ist der Umstand, dass wir in den sechs östlichen Bundesländern eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit haben, aber nur eine etwas mehr als halb so hohe Produktivität wie im westlichen Teil des Landes. Sonst ist die deutsche Situation wirklich nicht schlechter als die französische oder die italienische oder die spanische.

ZEIT: Sie haben den Pessimismus schon Ende der siebziger Jahre beklagt.

Schmidt: Er ist ein Erbteil der deutschen Katastrophe, der Katastrophe der Weimarer Demokratie, Adolf Nazis und des Zweiten Weltkriegs. Die Neigung zur Schwarzmalerei hat es vor 1914 nicht gegeben. Es ist ein psychisches Phänomen, das nach den beiden Weltkriegen in Erscheinung trat.

Biedenkopf: Na ja, in den fünfziger und sechziger Jahren und Anfang der Siebziger war die Stimmung der Deutschen doch sehr viel besser. Man erwartete eine ständige Steigerung des Wohlstands. Das Problem ist vielleicht, dass die Deutschen weniger als andere Völker eine nationale Identität entwickelt haben, die ihnen einen nichtökonomischen Antrieb vermittelt, also den Stolz auf Deutschland, das Gefühl, wenn ich etwas Gutes zustande bekomme, bringe ich auch das Land voran.

ZEIT: Helmut Schmidt hat das Thema Ostdeutschland angesprochen. Es ist viel darüber gesagt worden, was falsch gemacht wurde. Was kann man jetzt noch tun?

Schmidt: Vor allem muss man sich zu der Erkenntnis durchringen, dass man der Wirtschaftstätigkeit in Ostdeutschland künstlich einen Wettbewerbsvorteil einräumen muss gegenüber der westdeutschen Wirtschaft. Man könnte dem Osten erlauben, eine Reihe von Regulierungen aufzuheben – und das im Westen erst 15 Jahre später zulassen. Die ostdeutschen Landtage müssten insoweit das Recht bekommen, von der Bundesgesetzgebung abzuweichen. Das Zweite wäre ein steuerlicher Vorteil bei der Wertschöpfung im Osten. Warum setzen wir nicht für die nächsten 15 Jahre den Mehrwertsteuersatz für den Osten Deutschlands auf die Hälfte? Drittens ist der vernünftige Vorschlag gemacht worden, die durch Staatsfinanzierung geförderte Wirtschaftsentwicklung zu konzentrieren auf einige so genannte Cluster, also Schwerpunkte. Weder Herr Schröder noch Frau Merkel ist bereit, auch nur einen dieser drei Punkte in ihr Programm aufzunehmen.

Biedenkopf: Wenn es gelingen sollte, den Abbau von Reglementierung in Ostdeutschland auf Ostdeutschland zu begrenzen, hielte ich das für sehr gut. Ich würde allerdings zögern, die Regulierung dann den Landtagen zu überlassen, weil ich nicht sicher bin, ob sie einer solchen Aufgabe gewachsen wären.

Schmidt: Die hätten zum ersten Mal wirksam etwas zu entscheiden.

ZEIT: Gibt es so etwas wie eine Rangfolge der deutschen Probleme nach Dringlichkeit?

Schmidt: Das größte Problem ist die Massenarbeitslosigkeit, das zweitgrößte ist der Osten, und das drittgrößte ist die künftige Finanzierung des Wohlfahrtsstaates.

Biedenkopf: Und das Bildungssystem.

Schmidt: In der Tat. Das ist auch ein Beispiel für erforderliche Deregulierung. Zwischen 1871 und 1914 hat sich die deutsche Universität und Wissenschaft zu ungeahnten Höhen aufgeschwungen, ohne Reglementierung durch das Reich. Die Wiederherstellung von Wettbewerb auf diesem Feld ist eine absolute Notwendigkeit. Dazu muss die Gemeinschaftsaufgabe Universitätsbau raus aus dem Grundgesetz, dazu muss die Kultusministerkonferenz weg, die im Grundgesetz überhaupt nicht vorkommt, deren intellektuelle Qualitäten man aber gut erkennen kann, wenn man sich die Rechtschreibungskalamitäten ansieht, die diese angeblichen Fachleute angerichtet haben.

Biedenkopf: Es gibt einen sehr einfachen ökonomischen Grund, warum die Bildungsfrage so wichtig ist, und wieder hat er mit der Demografie zu tun. Die geburtenstarken Jahrgänge, die die nächsten zehn bis zwölf Jahre aktiver politischer Gestaltung bestimmen und sich dann der Rente nähern, haben 30 Prozent weniger Kinder als die Vorgängergenerationen. Also auch 30 Prozent weniger Aufwand für das Aufziehen von Kindern. Das kann man mit ungefähr 60 Milliarden Euro im Jahr veranschlagen. Diese Generation lebt in einer Wohlstandsillusion: Sie verbraucht in der Gegenwart Geld, das sie eigentlich für die Zukunftssicherung hätte ausgeben müssen, für Kinder.

Wenn sie das nicht tut, muss sie aber die wenigen Kinder sehr viel besser ausbilden und ihnen einen größeren Kapitalstock zur Verfügung stellen, damit sie insgesamt das Gleiche leisten können wie ihre Eltern. Unsere Reaktion in Deutschland auf die geringere Kinderzahl ist, unter Beibehaltung der Klassenstärken die Lehrer abzubauen und die Schulen zu schließen. Die Finnen haben es genau umgekehrt gemacht. Auch sie haben weniger Kinder. Aber sie behalten die Lehrer bei, bilden die Kinder besser aus und verbessern die Schulen: die Gebäude und den Unterricht.

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