Luther Blissett, Fußballer und Medienphantom

Ich bin viele

Text: Dirk Gieselmann  Bild: David Binnewies/imago

Luther Blissett schoss Watford in die Erste Liga, saß mit Elton John am Flügel, schrieb mit dem Fahrrad Buchstaben in die Landkarte und verfasste einen Roman. Die bizarre Geschichte eines Mannes, den es tausendfach gab. 

Ich bin viele


Den eigenen Namen in einem Lexikon zu lesen, sich einzureihen zwischen den Großen der Menschheitsgeschichte, ist für manche Ziel all ihres Strebens. Ein Eintrag im »Brockhaus« oder auch nur bei »Wikipedia«, und die irdische Existenz hat sich gelohnt. Sie werden Luther Blissett beneiden. Denn dieser Mann hat das gleich zwei Mal geschafft: als Fußballer – und als Medienphantom.

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Die erste Erwähnung verdiente er sich noch selbst. Und das war harte Arbeit. Geboren 1958 in Falmouth, Jamaika, aufgewachsen in den monochromen Vorstädten von Watford vor den Toren Londons, schliff Luther Blissett unermüdlich an seinem bisschen Talent. Disziplin, Enthaltsamkeit, Dauerlauf vor und nach dem Training, Sonderschichten, wenn seine Mitspieler längst im Pub saßen und ihre Pints tranken – Blissett wusste, dass er als Schwarzer in dieser Zeit mehr auf dem Kasten haben musste, wenn er es schaffen wollte. »Wenn du ganz unten bist«, sagt er, »dann hast du mehr Anlauf für den Sprung nach oben.«

Der Auftakt zu Blissetts Karriere war wie unzählige andere. Wenig deutete darauf hin, dass er je in einem Lexikon Erwähnung finden würde. 1975 lief er erstmals für den FC Watford auf, einen Viertligisten im Schatten der Londoner Superklubs. Dort wäre er wohl geblieben, hätte sich nicht ein Mann in den Kopf gesetzt, seinen Lieblingsverein an die Spitze des englischen Fußballs zu hieven: Elton John, der Paradiesvogel aus dem Popgeschäft, wurde Präsident des FC Watford.

Mit Elton John am Flügel


John investierte sein Geld, das er mit Welthits wie »Your Song« und »Crocodile Rock« verdient hatte, an der richtigen Stelle. Der Aufstieg des FC Watford begann – und mit ihm der Aufstieg des jungen Stürmers Luther Blissett. »Elton war ein guter Präsident«, erinnert er sich. »Der Klub war mehr als nur ein Hobby für ihn. Wenn wir verloren, war er ziemlich sauer. Wenn wir gewannen, war er vollkommen aus dem Häuschen. Aber nur einmal hat er sich für uns an den Flügel gesetzt.« 1982 war das, der FC Watford hatte es in nur fünf Jahren bis in die Erste Liga geschafft. Während die Anhänger des Provinzklubs noch unter dem Jetlag des Durchmarschs litten und sich benommen umsahen, wohin es sie verschlagen hatte, brauchte Blissett keine Eingewöhnungszeit: Er war nun da, wohin er gewollt hatte. 27 Tore schoss er in dieser Saison und machte den FC Watford auf Anhieb zum englischen Vize-Meister. »Gegen Terry Butcher oder Steve Bould,  diese Kleiderschränke, ein Tor zu schießen, ihnen zu entwischen und das Ding reinzumachen, das war ... mein Gott!«, sagt Blissett und wird noch immer ganz starr vor Verzückung. »Das war ... WOW!«

Was noch fehlte zu Blissetts erstem Lexikoneintrag folgte bald: Der große AC Milan verpflichtete ihn 1983 für eine Million Pfund, im Herbst darauf machte er sein erstes Länderspiel. Beim 9:0 gegen Luxemburg erzielte er einen Hattrick – die ersten Tore eines schwarzen Spielers in der Geschichte der englischen Nationalmannschaft. England kannte ihn, Europa kannte ihn – dann begann der Abstieg. Die drei Tore blieben seine einzigen für England, die Boulevardpresse schmähte ihn bald als »Luther Missit«, beim AC Milan konnte er sich nicht durchsetzen. Nach nur einem Jahr ging er zurück nach Watford, ohne die alte Treffsicherheit je wieder zu erlangen. »Zu spüren, dass ich schon mit Mitte 20 den Zenit überschritten hatte, war damals nicht gerade ein Grund zur Freude«, sagt er. »Irgendwas war abhanden gekommen. Aber heute denke ich: Hey, die wenigsten schaffen es überhaupt dahin, wo ich war.«

Nicht einmal nur die wenigsten, sondern wohl niemand schafft das, was dann folgte: Luther Blissett kam zu seinem zweiten Lexikoneintrag. Er verdoppelte, ja, er vertausendfachte sich, ohne selbst etwas dazu zu tun. Aber der Reihe nach: Anfang der Neunziger, kurz nachdem er seine Karriere bei Mansfield Town hatte ausklingen lassen, blätterte Luther Blissett daheim in einer Zeitung. »Die Meldung musste ich fünfmal lesen und glaubte sie dann immer noch nicht«, erinnert er sich. In Rom waren vier Studenten wegen Schwarzfahrens in der Straßenbahn verhaftet worden. Der Schaffner wollte von jedem ein Ticket sehen, sie aber zeigten ihm nur eins. Ihre Begründung, bei der sie auch auf der Polizeiwache blieben, lautete: »Wir sind Luther Blissett!« Der echte Luther Blissett an seinem Küchentisch legte die Zeitung beiseite und war bereit, das ganze als seltsamen Streich in Erinnerung zu behalten. Doch kurz darauf wurde gemeldet, dass ein Mann namens Luther Blissett auf dem Fahrrad durch Italien fährt und auf seiner Route Städte so miteinander verbindet, dass sich daraus das Wort »Art« (»Kunst«) ergibt. Er sei, so hieß es, bei dieser Aktion verschollen, und werde jetzt in der Sendung »Chi l’ha visto?«, dem Pendant zu »Bitte melde dich!«, gesucht. »Wo bist du denn gewesen?«, musste sich der echte Luther Blissett daraufhin in den Straßen von Watford fragen lassen, und: »Was machst du denn für Sachen?«



Aus Heft #89 04/2009

Schwalben: Die 25 besten Flüge


weiterlesen [1] [2]


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Kommentare

  • User
  • 31.03.2009 19:14:31 ColePorter

    Interessanter Artikel !

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