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Katyn – alles nur Zufall?

Wer die Anfangsszene in der Hollywood-Klamottenkomödie « King Ralph » gesehen hat, in der die gesamte britische Royal Family mitsamt allen möglichen Thronerben beim Aufstellen fürs Gruppenfoto auf einen (elektrischen) Schlag eliminiert wird, wird sich unweigerlich gefragt haben, ob ein solcher Fall von totaler Elitenauslöschung eigentlich tatsächlich möglich wäre. Auch wenn es heute beinahe unmöglich erscheint, so gibt es doch in der Vergangenheit prominente Beispiele, und in Zeiten von Aufruhr und Krieg wäre es jederzeit durchaus denkbar. Dabei steht wohl kein Name so synonym für das Ausmerzen der gesamten Führungsschicht eines ganzen Landes wie ‚Katyn‘, das Dorf bei Smolensk, in dem Stalins Schergen mehr als 20‘000 polnische Offiziere, Politiker und Intellektuelle hinrichten und im Waldboden verscharren liessen. Es ist die Ironie des Schicksals, dass genau 70 Jahre nach eben jenem Massaker an gleicher Stelle wiederum ein bedeutender Teil der polnischen Führungsriege den Tod findet. Soll das alles nur ein tragischer Zufall sein? Niemand zieht das in Zweifel. Könnte es aber nicht doch ganz anders gewesen sein? Wäre es möglich, dass das Ableben der prominenten Opfer in Wirklichkeit geplant oder zumindest forciert worden ist? Zur Erinnerung: zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn hat der russische Premier Wladimir Putin überraschenderweise den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk und hochrangige polnische Politiker eingeladen, gemeinsam der Vergangenheit zu gedenken. Staatspräsident Lech Kaczynski und sein Bruder Jaroslaw wurden dabei übergangen, und den unbedingten Versöhnungswillen liess Putin damit vermissen. Bei den Gedenkfeierlichkeiten wartete man dann auch vergeblich auf die grosse russische Entschuldigung. Lediglich der „stalinistische Terror“ wurde erwähnt. Allzu grosse polnische Erwartungen wurden damit tief enttäuscht. Warum Putin aber überhaupt offiziell zu dieser Erinnerungsveranstaltung an unrühmliche sowjetische Vergangenheit geladen hat, war sehr zweifelhaft und wurde in der Weltpresse auf vielfältigste Weise zu enträtseln versucht. Als Zeichen der Annäherung, als ausgestreckte Hand an den so oft geschundenen Nachbarn haben es die Gutgläubigsten gedeutet. Ein Signal an den Westen und die EU sei es, dass Russland wieder verstärkt nach Verbündeten in Europa suche, sagten skeptischere Experten. Aber ganz genau wusste es keiner. Denn es war ja ausgerechnet Putin, der Stalin wieder halbwegs hoffähig machte. Seit Putins Machtantritt von zehn Jahren werden Stalins Verbrechen wieder bevorzugt verschwiegen und wird die Sowjetzeit mit all ihren zweifelhaften Errungenschaften, auch zum ausgesprochenen Missfallen der polnischen Nachbarn, wieder mehr und mehr glorifiziert. Auch wenn Dimitri Medwedjew, vor zwei Jahren von Putins Gnaden zum Interimspräsidenten erhoben, sein Volk in einem Anflug persönlicher Emanzipation zu einer Abkehr von der Sowjetnostalgie auffordert – auf einer Linie mit dem ehemaligen KGB-Chef und Präsidenten in spe liegt er damit nicht. Wieso sucht Putin also plötzlich die Aussöhnung mit Polen? Vielleicht versucht Putin zwei Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl langsam wieder, das Augenmerk auf sich zu lenken und seine einstige Hoffähigkeit wiederzuerlangen. Zu harsch war die internationale Kritik an seinem autokratischen Führungsstil zuletzt, und zu sympathisch ist Medwedjew mittlerweile dem Westen geworden. Putin kann international nur punkten, wenn er wie ein echter Versöhnungspräsident à la Obama auftritt. Und mit wem läge Versöhnung näher als mit Polen, das dem gefrässigen Nachbarn vier Teilungen und unsägliche Demütigungen in der Geschichte noch lange nicht verziehen hat, und das durch EU und NATO mittlerweile zu stark nach Westen neigt? Polen dem Westen wieder zu entreissen ist essentiell für Russland. Neue US-Militärstützpunkte und Raketenabschussrampen direkt an seiner Grenze sind eine ernst zunehmende Bedrohung. Und zu leicht käuflich war Polen in Gestalt von Präsident Kaczynski für amerikanische Ansinnen in militärischer Richtung, so dass selbst hohe EU-Politiker rätselten, ob es seinen Stern lieber in der europäischen oder der amerikanischen Flagge hätte. Kaczynski allein war es, der auf Drängen der USA hin immer wieder versuchte, das Europäische Zusammenwachsen zu lähmen und mit seinen notorischen Stänkereien die Union zu schwächen. Er war gewissermassen das trojanische Pferd Amerikas in Europa und vor der russischen Haustüre. Kaczynski machte aus seiner Abneigung gegen alles russische kein Geheimnis und stieg vehement mit jedem ins Bett stieg, der Russland an die Wäsche wollte. Er solidarisierte sich mit Georgien, hielt es mit der Ukraine und forcierte mehr als alle anderen Europäer eine NATO-Osterweiterung. Damit war er ein spitzer Dorn im Auge Putins. Und bei einer Wiederwahl im Herbst wäre er es auch noch auf Jahre hin gewesen. Was hat sich mit dem Unglück vom Wochenende geändert? Einflussreiche Persönlichkeiten aus Polens Wirtschaft, Finanzwelt, Militär, von Opferverbänden und nicht zuletzt der Staatspräsident sind tot. Viele kluge oder einflussreiche Gestalten starben bei Smolensk. Der Zwillingsbruder des Präsidenten - Parteikamerad und ehemaliger Premierminister - entging dem Unglück nur durch Zufall, da er sich aus familiären Gründen gegen die Reise entschied. Der Verlust ist eine Tragödie für das Land, von der es sich nur langsam erholen wird. Es sind in erster Linie Männer gestorben, die nur bedingt und widerwillig im Dialog mit Putins Russland standen. Viele namhafte Vertreter der Katyn-Opferverbände sind verunglückt, und mit ihnen gestorben ist der unbedingte Wille nach Aufklärung des Stalinschen Gemetzels. Dabei handelt es nicht nur um moralische, sondern vor allem auch um finanzielle Belange. Die augenscheinlich bedingungslose Anteilnahme Russlands und nicht zuletzt Putins persönlich macht das trennende Katyn vergessen und schafft ein neues Katyn, das der Versöhnung und des Mitgefühls. In Polen wächst nach dem Wochenende womöglich der Respekt und die Sympathie mit dem grossen Nachbarn im Osten. Daraus könnte sich bei guter Pflege in Zukunft sogar der Wunsch nach einer russischen Schutzmacht entwickeln. Politisch wird es geschmeidiger als bisher weitergehen. Polen wird einen neuen Präsidenten wählen. Dieser kann nicht halb so stur sein wie der bisherige, und wie sollte er nach all dem Versöhnungswillen und der Hilfsbereitschaft Russland ernsthaft einen Wunsch abschlagen können. Kaczynski, der Unbequeme, wird in Zukunft schwarz umrandet in den Büros hängen, seine Politik aber bald vergessen sein.
Ist die Vorstellung eines geplanten Unglücks zu abstrus? Es gab schon ungeheuerlichere Verbrechen, und viele davon waren so unvorstellbar, dass sie es selbst nach lupenreiner Aufklärung noch waren und die Propaganda erhalten blieb. Grosse Strategen denken sehr viel weiter und verwinkelter als sich Normalsterbliche überhaupt vorstellen kann. Sie können Konsequenzen bereits frühzeitig berechnen, die noch beim späteren Blick in die Geschichtsbücher abenteuerlich erscheinen. Putin als ehemaliger KGB-Chef ist einer der raffiniertesten Strategen unserer Zeit. Man sollte seine intellektuellen Fähigkeiten wie auch seine Skrupellosigkeit nicht unterschätzen. Wer die gesamte Führungsriege eines Landes vernichten will, wird es nicht anders erreichen als wie es gerade in Smolensk geschehen ist. Man lädt alle einem gewogenen Gäste zu einem historisch bedeutsamen Ereignis ein, lässt die Zielpersonen aussen vor und brüskiert sie damit zutiefst. Man baut auf ihre gekränkte Eitelkeit und darauf, dass sich am Tag X viele Getreue kategorisch um sie scharen. King Ralph lässt grüssen. Aber wie sorgt man dafür, dass ein Flugzeug dann tatsächlich abstürzt? Dass man Piloten dazu bringen kann, für eine politische Sache die grössten persönlichen Opfer zu bringen, ist spätestens seit 9/11 klar. Hatte das russische Bodenpersonal dem Piloten nicht ausdrücklich empfohlen, auf eine Landung zu verzichten, und hat er es nicht um jeden Preis trotzdem tun wollen? Und war es nicht eine russische Maschine, in einer russischen Werkstatt gewartet? Was aber wäre gewesen, wenn an diesem Tag kein Nebel gewesen wäre? Wäre die Maschine dann nicht, oder nicht dort, oder erst beim Rückflug abgestürzt? Wir werden nicht erfahren, was gewesen wäre. Fakt ist, dass das Flugzeug abgestürzt ist und 97 Menschen, darunter den polnischen Präsidenten, in den Tod gerissen hat. Erst die Auswertung der Untersuchungsergebnisse wird genauen Aufschluss über die wahren Hintergründe des Unglücks bringen. Und da die schnelle Aufklärung desselben ein persönliches Anliegen Putins ist, wird er die Untersuchungskommission gleich selbst leiten.
In Russland war man noch nie zimperlich mit der Eliminierung politischer Gegner. Wer denkt, heutzutage wären dreiste poltische Morde nicht mehr möglich, verkennt den wahren Charakter der Politik. Nur selten erkennt der Normalbürger die Hintergründe und Dimensionen zeitgenössischer historischer Ereignisse. Wer trotzdem einen kleinen Indikator haben will, sollte in den kommenden Tagen zwischen den Zeilen politischer Statements lesen, welche von Menschen gemacht werden, die weit mehr von den Ränken der Politik verstehen als der Durchschnittsbürger.

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Leser-Kommentare

12.04.2010 um 12.20 Uhr
1. alles nur Zufall?

...?

12.04.2010 um 12.31 Uhr
2. hollywood-klamottenkomoedie

ein sehr passender begriff fuer dieses plot.

12.04.2010 um 13.29 Uhr
3. Bündnistheorie!

Sie schreiben: “Es ist die Ironie des Schicksals, dass genau 70 Jahre nach eben jenem Massaker an gleicher Stelle wiederum ein bedeutender Teil der polnischen Führungsriege den Tod findet." Damit könnte man es bewenden lassen. Sie ergänzen jedoch mit der Frage: " Soll das alles nur ein tragischer Zufall sein?" Und geben die Antwort gleich hinterher: " Niemand zieht das in Zweifel."
Ab dem darauf folgenden Satz machen sie jedoch genau das:
“Könnte es aber nicht doch ganz anders gewesen sein? Wäre es möglich, dass das Ableben der prominenten Opfer in Wirklichkeit geplant oder zumindest forciert worden ist?"
Vorher schreiben sie noch von "totaler Elitenauslöschung".
Auch wenn mir die Insassen des Flugzeuges in Gänze nicht bekannt sind, ist davon auszugehen, daß ein Volk mit 38 Mio. Einwohnern in der Lage ist, die entstandenen Verluste an politischen und militärischen Funktionsträgern auch intellektuell wieder auszufüllen. Möglicherweise wäre hier mit ihren Kenntnissen ein Artikel über potentielle Nachfolger interessanter als eine Verschwörungstheorie gewesen.
PS: Sollte ihre Theorie stimmen, ähnlich der Pelikan Akte im Film "Die Akte" könnte dem KGB und vor allem Putin mit seinen, wie sie schreiben “intellektuellen Fähigkeiten wie auch seiner Skrupellosigkeit" demnächst daran gelegen sein, ihnen einen Besuch abzustatten. Wer weiß welche Verbindungen zu ZEIT ONLINE bestehen? Gab es nicht schonmal Journalisten (FOCUS), die vom (deutschen) Geheimdienst angeworben wurden?

13.04.2010 um 10.49 Uhr
4. @Zeitgeist,

beherzigen Sie um Himmels Willen maculaturs Warnung! Sie sollten öffentlich eingenommene, nicht selbst zubereitete Heißgetränke ab sofort mit Vorsicht und Geigerzähler genießen.

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