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KONTAKTE-KOHTAKTbI

Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Keine Kameraden.

Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen.

Christian Streit.

Am 26. August 1941 schrieb Helmuth James Graf von Moltke an seine Frau: „Die Nachrichten aus dem Osten sind wieder schrecklich. Wir haben offenbar doch sehr, sehr hohe Verluste. Das wäre aber noch erträglich, wenn nicht Hekatomben von Leichen auf unseren Schultern lägen.“[1] Moltke, eine der eindrucksvollsten Gestalten im deutschen Widerstand und durch seine Arbeit im Oberkommando der Wehrmacht sehr gut informiert, meinte nicht die schon damals immensen Verluste der Wehrmacht, auch nicht die noch viel höheren der Roten Armee. Er sprach von den Tausenden von Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten, die schon in den ersten Wochen Opfer der deutschen Vernichtungspolitik im Osten geworden waren. Anders als die große Mehrheit seiner Zeitgenossen sah er sehr deutlich, welch ungeheuerliche Verbrechen verübt wurden und in welchem Maße auch die Wehrmacht darin verstrickt war.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren neben den Juden diejenige Opfergruppe, die im Zweiten Weltkrieg das schlimmste Schicksal erlitt. Zwischen dem 22. Juni 1941 und Kriegsende gerieten etwa 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Hand. Im Januar 1945 zählte man in deutschen Lagern noch 930 000. Maximal eine Million waren entlassen worden, die meisten als sogenannte „Hilfswillige“ für – oft erzwungene – Hilfsdienste in der Wehrmacht. Weitere 500 000 waren nach Schätzung des Oberkommandos des Heeres (OKH) geflohen oder befreit worden. Die restlichen 3 300 000 (57,5 % der Gesamtzahl) waren umgekommen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Zahl wird noch deutlicher, wenn man weiß, dass von den 232 000 englischen und amerikanischen Soldaten in deutscher Hand 8348 (oder 3,5 %) starben. Im Herbst 1941 starben so viele sowjetische Gefangene an einem einzigen Tag.

Schon im August 1941 brachen in Lagern im Osten Seuchen wie Ruhr und Typhus aus, die bald das Reichsgebiet erreichten. In den Lagern im besetzten Polen wurden bis zum 20. Oktober 1941 bereits 54 000 Tote gezählt. Allein in den folgenden zehn Tagen verzeichnete man weitere 45 690 Todesfälle, täglich fast 4600. Im November erreichte die Sterberate 38 Prozent, im Dezember 46 Prozent. Von den 361 000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Herbst 1941 im Generalgouvernement in Lagern gewesen waren, starben bis zum April 1942 mehr als 85 Prozent. In den Lagern im übrigen deutschen Machtbereich wurde die Zahl der Gefangenen in ähnlicher Weise dezimiert. Insgesamt kamen bis zum Februar 1942 etwa zwei Millionen der 3½ Millionen Gefangenen des Jahres 1941 um.

Die in Nürnberg angeklagten Militärs führten dieses Massensterben auf einen unvermeidbaren Notstand zurück. Man habe solch riesige Gefangenenmassen nicht erwartet und es sei unmöglich gewesen, sie zu ernähren. Diese Erklärung ist unhaltbar. Von der ganzen Anlage des Feldzugs her musste man mit noch höheren Gefangenenzahlen rechnen, und die Ernährung der Gefangenen war nicht a priori unmöglich. Nicht das Massenproblem war die Ursache des Massensterbens, sondern die im Osten verfolgten Kriegsziele.

Die Nahrungsquellen der UdSSR waren eines der wichtigsten Ziele überhaupt. Hitler und seine Generale sahen im Hunger während des Ersten Weltkriegs einen wesentlichen Grund für die Niederlage Deutschlands. Die erbarmungslose Ausbeutung der Nahrungsquellen des Ostens sollte es ermöglichen, das deutsche Volk wie im Frieden zu ernähren und so die „Kriegsmoral“ zu sichern. Den Planern im OKW (Oberkommando der Wehrmacht) und in den Ministerien war dabei schon im Mai 1941 völlig klar, dass als Folge, wie es in einer Aktennotiz heißt, „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern“ würden.[2] Auch bei den Armeen war man sich schon damals darüber einig, dass die sowjetischen Gefangenen „nur die notwendigste Verpflegung“ erhalten sollten.[3] Dabei traf sich das ideologisch Erwünschte mit dem militärisch Erwünschten: Die Planung für das „Unternehmen Barbarossa“ beruhte darauf, dass alles, was an Kräften und Transportraum vorhanden war, für die militärischen Operationen eingesetzt wurde. Das Schicksal der Gefangenen spielte keine Rolle. Weder wurden Nahrungsmittel eingeplant, noch wurde die Gefangenenorganisation personell und materiell so ausgestattet, dass sie die erwarteten Millionen von Gefangenen versorgen konnte. Für die Gefangenen bedeutete dies von allem Anfang an Hunger. Zum Beispiel erhielten 1941 Gefangene während der oft wochenlangen Märsche nach Westen tägliche Rationen wie „20 g Hirse und 100 g Brot ohne Fleisch“ oder „zwei Kartoffeln“.[4]

Die Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe waren schon im September 1941 nicht zu übersehen. Für eine Reihe von Lagern ist belegt, dass die verzweifelten Gefangenen schon damals vor Hunger Gras, Laub oder Baumrinde aßen. Am 19. Oktober 1941 vermerkte ein Offizier im Stab des Militärbefehlshabers im Generalgouvernement: „O.K.W. hat Kenntnis davon, dass das Massensterben unter den [sowjetischen] Kgf. nicht aufzuhalten ist, da diese mit ihren Kräften am Ende sind.“[5] Dennoch verfügte der Generalquartiermeister des Heeres, General Eduard Wagner, zwei Tage später für den Heeresbereich eine drastische Senkung der Rationen. Dies traf vor allem diejenigen, die schon zu schwach zum Arbeiten waren.

Die Heeresführung nahm das Hungersterben der sowjetischen Gefangenen ganz bewusst als Faktum hin. Als der Generalquartiermeister im November 1941 von den Stabschefs der Ostarmeen darauf angesprochen wurde, dass die Armeen die sowjetischen Gefangenen als Arbeitskräfte brauchten, diese aber in den Lagern verhungerten, stellte er lapidar fest: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene […] haben zu verhungern. Arbeitende Kriegsgefangene können im Einzelfalle auch aus Heeresbeständen ernährt werden.“[6]

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Massensterben bereits epidemisches Ausmaß angenommen. Der hereinbrechende Winter, dem die Gefangenen fast schutzlos ausgesetzt waren, beschleunigte ihre Dezimierung. Für ihre Unterbringung waren kaum Vorbereitungen getroffen worden. Da man auch hier nur ein Minimum an Ressourcen aufwenden wollte, erhielten die Kommandanten zum Aufbau der Lager nur Stacheldraht, Kochkessel, Chlorkalk und Werkzeuge. Die Gefangenen sollten mit allerprimitivsten Mitteln ihre Unterkünfte selbst bauen. Auch im Reichsgebiet waren die Unterkunftsbedingungen nicht wesentlich besser als im Osten. In „Russenlagern“ wie Stukenbrock oder Bergen-Belsen musste ein Teil der Gefangenen bis zum Frühjahr 1942 in selbstgegrabenen Löchern und Erdbunkern vegetieren. Die Akten enthalten keinen Hinweis darauf, dass sich die beteiligten Wehrmachtstellen auf der mittleren oder oberen Führungsebene um eine Änderung dieser Politik bemüht hätten, deren Folgen auch einem phantasiearmen Menschen klar sein mussten.

Viele Zehntausende verloren ihr Leben auf dem Weg von der Front in die Lager. Die meisten Gefangenen des Jahres 1941 wurden in wochenlangen Elendsmärschen über viele Hunderte von Kilometern nach Westen geführt. Marschblöcke von Zehntausenden wurden dabei von wenigen Kompanien deutscher Soldaten bewacht, die fast zwangsläufig zu brutalster Gewalt griffen, um die hungernden Gefangenen zum nächsten kümmerlich improvisierten Rastplatz zu treiben. Tausende erschöpfter Gefangener wurden kurzerhand erschossen, auch inmitten großer Städte wie Minsk oder Smolensk. Einzelne Truppenbefehlshaber verurteilten dies mit empörten Befehlen, taten aber nichts, um die Ursachen zu beheben. Andere Befehlshaber waren ohnehin völlig anderer Meinung; in der 6. Armee des Feldmarschalls von Reichenau bestand der Befehl, „alle schlappmachenden Kriegsgefangenen zu erschießen“.[7]

Beim Abtransport der Gefangenen mit der Eisenbahn gestattete das OKH nur die Verwendung offener Güterwagen, was mit Einbruch des Winters enorme Verluste verursachte. Im Bereich der Heeresgruppe Mitte wurde die Verwendung geschlossener Waggons erst am 22. November 1941 erlaubt, nachdem schon mehr als drei Wochen strenger Frost herrschte. Unmittelbarer Anlass für die Änderung war, dass bei einem relativ kurzen Transport von 5000 Gefangenen 1000 erfroren waren. Nach einem Bericht aus dem Reichskommissariat Ostland starben damals bei Bahntransporten „zwischen 25 und 70 Prozent der Gefangenen“.[8]

Zwischen Oktober 1941 und März 1942 starben im deutschen Machtbereich Tag für Tag Tausende sowjetischer Gefangener. Es ist zu bezweifeln, dass das grauenhafte Sterben diese Dimensionen erreicht hätte, wenn nicht Wehrmacht- und Heeresführung mit ihren grundsätzlichen Befehlen den deutschen Soldaten klar gemacht hätten, dass dem Leben sowjetischer Gefangener und Zivilisten kein wesentlicher Wert beigemessen wurde. Der sogenannte „Barbarossa-Erlaß“ hatte die völlige Unterwerfung der Zivilbevölkerung und die Beseitigung eines jeden Ansatzes von Widerstand zum Ziel und führte zur Exekution von Zehntausenden. Der Kommissarbefehl forderte von den Truppen, aus der Masse der Gefangenen die politischen Kommissare der Roten Armee herauszusuchen und zu erschießen. Anders als ehemalige Soldaten immer wieder beteuerten, wurde der Befehl im Sommer und Herbst 1941 fast allgemein befolgt. Er wurde erst im Mai 1942 auf Drängen der Frontbefehlshaber aufgehoben, weil das Bekanntwerden der Erschießungen den Widerstand der Roten Armee drastisch verstärkt hatte.

Diese Völkerrechtsbrüche wurden dadurch erleichtert, dass die UdSSR im Juni 1941 weder die Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 ratifiziert noch ausdrücklich die Haager Landkriegsordnung von 1907 als verbindlich anerkannt hatte. Die deutsche Führung nutzte dies zu der Behauptung, man sei der UdSSR gegenüber völkerrechtlich in gar keiner Weise verpflichtet. Dies traf nicht zu, denn nach der Völkerrechtslehre waren in einem solchen Fall beide Seiten durch die Grundsätze des allgemeinen Kriegsvölkerrechts gebunden. Das bedeutete, dass das Leben der Gefangenen geschützt war und dass sie menschlich behandelt und etwa nach dem gleichen Standard ernährt, mit Kleidung versehen und untergebracht werden mussten wie die deutschen Ersatztruppen. Die Sowjetunion hatte überdies – wie Deutschland – die Genfer Verwundetenkonvention von 1929 ratifiziert, so dass hier eine ganz konkrete Bindung bestand, die aber von der deutschen Führung bewusst beiseite geschoben wurde. Sie wollte sich weder in der Kriegführung noch in der Behandlung der Gefangenen, noch in der Besatzungspolitik irgendwelchen Beschränkungen unterwerfen.

Mit der Weitergabe der genannten Befehle senkte die militärische Führung die Hemmschwellen in der Wehrmacht ganz bewusst. Dazu diente auch die Verbreitung des Feindbildes vom „Untermenschen“ durch die Wehrmachtpropaganda. All dies war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich innerhalb weniger Tage nach dem 22. Juni in der Truppe ein Klima extremer Gewaltbereitschaft entwickelte. Auch die Befehle zur Behandlung der Gefangenen, die noch deutlicher von der NS-Ideologie geprägt waren, trugen dazu bei. Der bolschewistische Soldat, hieß es, sei höchst gefährlich und hinterhältig, er habe „jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat […] verloren“.[9] Immer wieder wurde „rücksichtsloses Durchgreifen“ gefordert. Der für das Kriegsgefangenenwesen verantwortliche General Hermann Reinecke erklärte in einem Grundsatzbefehl vom 8. September 1941, bei diesen Gefangenen sei es „schon aus disziplinären Gründen nötig, den Waffengebrauch sehr scharf zu handhaben. Wer zur Durchsetzung eines gegebenen Befehls nicht oder nicht energisch genug von der Waffe Gebrauch macht, macht sich strafbar. Auf flüchtige Kr.Gef. ist sofort ohne vorherigen Haltruf zu schießen. Schreckschüsse dürfen niemals abgegeben werden. […] Waffengebrauch gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen gilt in der Regel als rechtmäßig.“[10] Dies war ein klarer Freibrief für Mord, und viele Soldaten verstanden es auch so.

Gegen die Abkehr vom traditionellen Grundsatz, dass wehrlose Kriegsgefangene menschlich zu behandeln seien, erhob sich nur vereinzelt Widerspruch, in aller Regel nur auf unterer Ebene. Proteste aus der Heeresführung oder von Truppenführern sind nicht feststellbar. Einen der wichtigsten Versuche, zu einem grundlegenden Wandel zu kommen, unternahm der schon erwähnte Graf Moltke. Auf sein Drängen hin forderte der Chef der deutschen Abwehr, Admiral Canaris, vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Feldmarschall Keitel, die Aufhebung von Reineckes Befehl vom 8. September. Keitel lehnte kategorisch ab: „Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung! Deshalb billige ich die Maßnahmen u[nd] decke sie.“[11] Canaris' Protest wie auch die Antwort Keitels bezogen sich auch auf systematische Morde. Zu dieser Zeit ging die Verstrickung der Wehrmacht in die Ausrottungspolitik schon weit über die Ermordung der Kommissare hinaus. Mitte Juli 1941 hatte das OKW ein Abkommen mit Reinhard Heydrich geschlossen, in dem der Kommissarbefehl fortgeschrieben wurde. Einsatzkommandos der Sipo und des SD sollten unter den Kriegsgefangenen alle „politisch Untragbaren“ für die Ermordung selektieren. Damit wurde die Opferzahl mit einem Schlag vervielfacht, denn zu den Opfern gehörten nicht nur Funktionäre der KPdSU, sondern, neben weiteren Gruppen, auch – „alle Juden“.[12] Die Zahl der Kriegsgefangenen, die als „politisch untragbar“ umgebracht wurden,\pagebreak wird auf weit über 140000 geschätzt.

Die Verknüpfung dieser Massenmorde mit dem Völkermord an den Juden ist offenkundig, wurden doch alle Juden unter den sowjetischen Gefangenen zur Ermordung bestimmt, bevor die Entscheidung für die „Endlösung“ fiel. Es gibt aber noch deutlichere Verbindungen. Auch die beim Judenmord angewandte Vernichtungsmethode wurde bei der „Sonderbehandlung“ sowjetischer Gefangener entwickelt. Im KZ Auschwitz „erprobte“ man die Giftwirkung des Pestizids Zyklon B an 600 „untragbaren“ Gefangenen, die zur Exekution ins KZ gebracht worden waren. Nach weiteren „Probevergasungen“ – betroffen waren mindestens weitere 900 sowjetische Gefangene – begannen dann 1942 die Vergasungen jüdischer Opfer.

Ende Oktober 1941 fiel in der deutschen Führung eine Entscheidung, die zunächst eine grundsätzliche Wende in der Behandlung der sowjetischen Gefangenen möglich erscheinen ließ. Da der gravierende Arbeitskräftemangel in der Kriegswirtschaft mit dem Scheitern des Blitzkriegskonzepts nicht durch die Demobilisierung von Soldaten beseitigt werden konnte, sollten nun die sowjetischen Gefangenen in großer Zahl eingesetzt werden. Selbst Hitler räumte ein, dass dies eine „angemessene Ernährung“ voraussetzte.[13] Es zeigte sich aber bald, dass die NS-Führung nicht bereit war, deswegen die Ernährung der deutschen Bevölkerung zu verschlechtern. Die Gefangenenrationen wurden zwar angehoben, blieben aber weiterhin unterhalb des Existenzminimums. Es sei betont, dass in der absolut ungleichen Ernährung von sowjetischen Kriegsgefangenen und deutscher Zivilbevölkerung ein entscheidender Unterschied in der Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland und in der Sowjetunion bestand. Die deutschen Gefangenen hungerten mit der sowjetischen Bevölkerung, während ein Hungern der deutschen Bevölkerung auf Kosten der sowjetischen Gefangenen vermieden wurde.

Immerhin bewirkte das Ende 1941 erwachte Interesse an der Arbeitskraft der Gefangenen, dass das Massensterben im Frühjahr 1942 abnahm und dass auch die Massenerschießungen eingeschränkt wurden. Weiterhin wurden aber sowjetische Gefangene in entschieden größerer Zahl und mit entschieden geringeren Bedenken als andere alliierte Gefangene erschossen.

In der Heeresführung und in Teilen der Truppenführung im Osten ist ab Mitte 1942 ein gewisses Umdenken feststellbar. Neue Befehle des OKH, die auch in den Armeen weitergegeben wurden, betonten nun die Notwendigkeit, das Leben und die Arbeitsfähigkeit der Gefangenen zu erhalten. Ausschlaggebend dabei waren nicht humanitäre Erwägungen, sondern andere Motive: Einerseits hatte man erkannt, dass die Art und Weise, in der die Gefangenen 1941 behandelt worden waren, die wichtigste Ursache dafür war, dass sich der Widerstand der Roten Armee entscheidend ververstärkt hatte. Auf der anderen Seite stand die Erkenntnis, dass der Arbeitskräftemangel in der deutschen Kriegswirtschaft so groß war, dass man auf jeden Gefangenen angewiesen war. Mit den Mitteln, die die deutsche Führung nun einzusetzen bereit war, konnte aber die Sterblichkeit unter den sowjetischen Gefangenen nie auch nur entfernt auf ein normales Maß gebracht werden. Sie stieg vielmehr von Ende 1943 an erneut, da nun bei immer mehr Gefangenen als Folge der langen Entbehrungen Krankheiten wie Tbc auftraten. Im April 1945 zählte man in einigen Lagern wieder bis zu 100 Tote am Tag.

Es gab natürlich auch Soldaten, die sich für eine menschlichere Behandlung der Gefangenen einsetzten. Aus den Akten ist dies freilich oft nur indirekt zu erschließen. Schon im Juli 1941 rügte der Oberbefehlshaber des Heeres, Feldmarschall von Brauchitsch, dass gegenüber Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen „nicht an allen Stellen mit der erforderlichen Härte durchgegriffen“ werde.[14] Ähnliche Wendungen finden sich auch in anderen Quellen, etwa, wenn der Generalquartiermeister des Heeres, General Wagner, die Hungerpolitik den Gefangenen gegenüber verteidigte oder wenn der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Feldmarschall von Reichenau, es als eine „mißverstandene Menschlichkeit“ rügte, dass Zivilisten und Kriegsgefangene, die nicht im Dienst der Wehrmacht standen, von der Truppe verpflegt wurden.[15]

Die Quellen zeigen aber zugleich, dass die Wehrmacht als Institution – und zwar das Oberkommando der Wehrmacht ebenso wie die Heeresführung und die Truppenbefehlshaber im Osten – eben diese Bemühungen mit aller Konsequenz unterdrückte. Die Soldaten, die menschlich handeln wollten, waren eindeutig eine Minderheit, die überhaupt nur dort wirken konnten, wo sie auf Gleichgesinnte trafen. In der Wehrmachtführung fanden sie grundsätzlich keine, in der Truppenführung nur im Ausnahmefall Unterstützung.

Anders als in der westlichen Welt, wo Kriegsgefangenschaft als eine Ehrenhaft verstanden wird, galt in der Sowjetunion Kriegsgefangenschaft als Schande; die sowjetischen Gefangenen wurden als feige Verräter angesehen. Schon im August 1941 wurden sie mit Stalins Befehl Nr. 270 zu Deserteuren erklärt; die Familien von Offizieren wurden verhaftet, den Familien einfacher Soldaten die staatliche Unterstützung entzogen. Gefangene, denen die Flucht durch die Front gelang oder die befreit wurden, „durften“ im besten Fall in Strafbataillonen als Kanonenfutter ihre „Schuld mit Blut begleichen“.[16] Im Mai 1945 wurden 100 „Filtrationslager“ für jeweils 10000 Gefangene eingerichtet. Nach neueren russischen Untersuchungen wurden „praktisch alle männlichen Repatrianten – Kriegsgefangene und Zivilisten – über 16 Jahre“ in verschiedene Formen der Zwangsarbeit überführt.[17] Sie, wie selbst Frauen und Kinder, wurden beim NKWD (Volkskommissariat für Inneres) registriert, was selbst für Angehörige z.B. Berufsverbote und vorgeschriebene Wohnorte bedeutete. Im Zuge der Entstalinisierung wurden die zu Lagerhaft verurteilten Gefangenen amnestiert, bezeichnenderweise erst Monate nach verurteilten Kollaborateuren, die z.B. als Hilfspolizisten in deutschen Diensten Verbrechen begangen hatten. Aber auch danach blieben die ehemaligen Kriegsgefangenen gesellschaftlich geächtet. In der Phase von Glasnost setzten 1987 Bemühungen zu ihrer Rehabilitierung ein, die gegen viele Widerstände schließlich am 24. Januar 1995 mit einem Erlass Jelzins erfolgte, ohne dass dies den Betroffenen spürbare Vorteile brachte. Wie sehr die ehemaligen Gefangenen auch nach dem Krieg noch leiden mussten, zeigt die Tatsache, dass von ihnen 1998 nur noch ein Prozent am Leben waren, während von den übrigen Veteranen noch 10 Prozent lebten.[18]

Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren zuerst Opfer der nationalsozialistischen Politik, die im Krieg gegen die Sowjetunion das Völkerrecht ganz bewusst brach, dann des eigenen Staates, der ihre Leiden – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart – zynisch ignorierte.


Literaturhinweise:

[1] Brief Moltkes an seine Frau vom 26.8.1941, zit. nach Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn, 3. Aufl. 1997, S. 131.

[2] Streit, S. 63 (Nürnb. Dok. 2718-PS).

[3] AOK 17/OQu., 30.5.1941, BA/MA AOK 17/14311/2.

[4] Streit, S. 131, 152.

[5] Streit, S. 136.

[6] Streit, S. 157f.

[7] Streit, S. 171 (Nürnb. Dok. NOKW-3147).

[8] Streit, S. 166.

[9] Streit, S. 181.

[10] Streit, S. 181.

[11] Streit, S. 182.

[12] Streit, S.89-92 (Nürnb. Dok. NO-3414).

[13] Streit, S. 204.

[14] Text des Befehls: Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette (Hrsg.), „Unternehmen Barbarossa“. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, Paderborn 1984, S. 349.

[15] Streit, S. 161f.

[16] Vladimir Naumov/Leonid Resin, „Repressionen gegen sowjetische Kriegsgefangene und zivile Repatrianten in der UdSSR 1941 bis 1956“, in: Klaus-Dieter Müller u.a. (Hrsg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1998, S. 343.

[17] Naumov/Resin, S. 350.

[18] Manfred Zeidler/Ute Schmidt (Hrsg.), Gefangene in deutschem und sowjetischem Gewahrsam 1941 bis 1956: Dimensionen und Definitionen, Dresden 1999, S. 29.

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