Schöne Blumen in Storkow

Donnerstag, 25. November 2010 0:49 | Autor: admin

November. Im Gang zu ihrem Büro steht eine dunkle, gebeugte Gestalt, ein pelziger Mantel, eine Chapka auf den Kopf, älter. Jemand, der sehr augenscheinlich nicht hier hin gehört. Sie geht an ihm vorbei, er schaut sie kaum an, steht und wartet. Eine Kollegin fragt ein paar Minuten später, ob er vielleicht zu ihnen wolle. Ja, antwortet er und schaut auf eine Uhr am Handgelenk, aber er habe einen Termin erst in 25 Minuten. Exakt zur vereinbarten Stunde klopft es an der Tür und Herr Perebojew tritt ein. Aus einem Beutel holt er einen Pralinenkasten und zwei Gläser mit süß eingelegten Preisel- und Heidelbeeren, als Dank für die Fotos vom Friedhof.

März. Eine etwas entfernte Freundin betritt das Büro und fragt sie, ob es ihr möglich wäre, den Vater eines Bekannten zu finden, genauer: dessen Grab. Er habe bei Berlin gekämpft und sei 1945 gefallen, der genaue Namen sei unsicher, L.G. Peredajew wahrscheinlich. Ob es möglich sei, es zu fotografieren, ihr Bekannter könne selbst nicht mehr nach Deutschland reisen. Eine E-Mail an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel gibt unerwartet schnell, innerhalb von zwei Tagen, Auskunft: “Das Grab von Lukian Grigoriewitsch Peredajew, geboren 1906, liegt auf der Kriegsgräberstätte in Stralendorf bei Schwerin / Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Endgrablage: Abteilung 1, Block 3, Reihe 18 bzw 19. Primärer Bestattungsort war Rieplos nördlich Storkow / Mark Brandenburg.” Ein Aktenvermerk, der gründlicher nicht hätte sein können. Sie verspricht ihrer etwas entfernten Freundin, beim nächsten Deutschlandaufenthalt das Stralendorfer Grab aufzusuchen und zu fotografieren.

Juni. Die Suche in Stralendorf bei Schwerin bleibt erfolglos. Es gibt lediglich den ganz normalen Kirchfriedhof, auf dem sich keine Kriegsgräber befinden. Ein Soldatenfriedhof, der zudem in Abteilungen, Blöcke und Reihen unterteilt wäre, ist weder auf der Landkarte eingezeichnet noch den informierten Damen vom kombinierten Post-Blumenladen in der Hauptstraße bekannt. Auch die freundlichen Mitarbeiterinnen vom Verwaltungsamt Stralendorf kennen keinen größeren sowjetischen Friedhof in der Gegend. Immerhin aber haben sie Kenntnis von sechs Gräbern sowjetischer Kriegstoter im Verwaltungsbereich, von denen sogar in einem Aktenordner über den Zustand der verwalteten Friedhöfe Fotografien aufbewahrt werden. L.G. Peredajew ist jedoch nicht darunter. Die Antwort auf die Nachfrage, wohin die Stralendorfer Toten verschwunden sein können, benötigt zwei Wochen: “Dem Friedhof Stralendorf wurden über 300 russ. Kriegstote zugeordnet, die aber dort nicht ruhen können. In der uns vorliegenden Gräberliste von Stralendorf werden 6 Kriegstote nachgewiesen. Es kann sich bei der Liste, die leider kein ‘Deckblatt’ hat, evtl. um Stralsund handeln. Wir werden versuchen, eine Klärung durchzuführen. Jedoch wird dies einige Monate dauern.”

August. Unmittelbar nach Rückkehr aus Deutschland erhält sie vom Volksbund folgende Information: “Nunmehr können wir Ihnen mitteilen, dass der Genannte auf dem Friedhof der Stadt Storkow (1-3-18) seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die uns vorliegende Gräberliste war vollkommen falsch zugeordnet und daher versehentlich für Stralendorf erfasst worden. Hier wird noch eine entsprechende Korrektur erfolgen. Wir hoffen, Ihnen gedient zu haben.” Ob das derart lokalisierte Grab das tatsächlich gesuchte ist, bleibt bis auf Weiteres unklar.

Oktober. Die etwas entfernte Freundin, von der missglückten Suche etwas enttäuscht, fragt, ob es neue Erkenntnisse in der Sache Peredajew gibt und ein Foto des Grabes nicht irgendwie aufgetrieben werden kann. Sie beauftragt daraufhin eine andere Freundin, die in Berlin lebt, einmal ins südöstlich von Berlin liegende Storkow zu fahren und die Ruhestätte zu fotografieren. Nach einigen Wochen sagt die Freundin aus Zeitgründen ab. Sie fragt daher ihre in Westbrandenburg lebende Mutter, ob sie nicht Zeit und Energie für dieses Foto aufbringen könne. Diese sagt nach einigem Zögern, sie lasse ihren schwerkranken Schwiegervater so ungern allein, zu. Am 14.11. fährt die Mutter nach Storkow und sucht zuerst auf dem Stadtfriedhof, dort liegen jedoch keine sowjetischen Kriegstoten. Der gesuchte Friedhof befindet sich zwischen den Gemeinden Storkow und Rieplos. Während einer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages versucht die Mutter, die kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen zu entziffern. Schließlich macht sie einige Bilder eines Massengrabs, auf dem u.a. auch der Name Peredajew aufgeführt ist, allerdings ohne jegliche Vor- und Vatersnamen sowie Geburts- und Todesdaten, was ihn auf der Tafel zu einem von 10 Unbekannten unter 34 Soldaten dieses Grabes macht.

In Russland ist die etwas entfernte Freundin über das Auffinden des Grabes erfreut. Als sie die Bilder sieht, kann sie jedoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: “Das wird ihm ganz sicher nicht gefallen, ein Massengrab.”

Wie Herr Perebojew bei der Dozentin im Büro sitzt, sagt er: “Ich hatte ein bisschen gehofft, sie finden etwas anderes. Von dem Massengrab wusste ich doch. Ich war 1976 selbst dort.” Er hatte sich seither erfolglos eingesetzt, für seinen Vater ein würdiges Einzelgrab zu erlangen. Denn anders als der Grabstein aussagt, ist der Tote nicht unbekannt, zwar ein einfacher Soldat, ja, aber eben nicht unbekannt. Sein Vater, Lukjan Jegorowitsch Perebojew, am 26. September 1906 geboren und in der handschriftlich verfassten Sterbeanzeige vom 6. Mai 1945 Lukjan Georgiewitsch genannt, starb am 25. April 1945 in Berlin, 13 Tage vor der vollständigen Kapitulation Nazideutschlands, im Alter von 38 Jahren. Der Sohn, noch vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zur Welt gekommen, bemühte sich seit den 60er Jahren, das Grab seines Vaters ausfindig zu machen. Im Juli 1973 wurde ihm von der zuständigen Abteilung des Verteidigungsministeriums mitgeteilt, dass sein Vater, L.G. Perebojew, in einem Massengrab auf einem Friedhof im deutschen Storkow begraben liegt. Bei seinem Besuch des Grabes stellte er jedoch fest, dass alle Daten sowie Vor- und Vatersnamen fehlten, zudem der Familienname falsch geschrieben war: Peredajew. Daraufhin traf er sich mit einem in Frankfurt / Oder stationieren Offizier der sowjetischen Armee und bat diesen, ihm bei seinem Bemühen um ein korrekt beschriftetes Einzelgrab zu helfen, da die sowjetischen Behörden kein Interesse daran zeigten. Die Botschaft etwa antwortete ihm auf seine Anfrage, dass sie mehrere tausend Gräber verwalten würde und daher sich nicht um ein einzelnes Grab kümmern könne. Der Offizier versprach ihm, eine korrekt beschriftete Grabplatte zu besorgen. Der Sohn zahlte dafür eine nicht unbedeutende Summe Geldes, es musste an die Grabplatte und die notwendige Umbettung gedacht werden, außerdem eine Aufwandsentschädigung. Der Offizier verlangte zudem, dass beim Umzug seiner Mutter aus Sibirien nach Kiew geholfen und ihm aus Gründen der Heimatsehnsucht nach Frankfurt ein echter sibirischer Samowar geschickt werden sollte. Der Sohn tat alles. Und wusste seither nicht mehr, was mit dem Grab seines Vaters geschehen war. Nach beinah 35 Jahren Wartens hatte er nun auf den Fotografien erkennen müssen, dass absolut nichts geschehen war.

Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgrund der Namens- und Ortsverwechslungen nicht ein falsches Grab gefunden hatte. Ob es nicht auf dem Rieplos-Storkower Friedhof doch ein korrekt beschriftetes Einzelgrab gab, das allerdings ihre Mutter, da sie des Kyrillischen kaum mächtig ist, nicht entdeckt hatte. Oder ob es sich um zwei völlig verschiedene Soldaten handelte, die zufällig sehr ähnliche Namen trugen.

Herr Perebojew dankte nach einer halben Stunde Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. Auch wenn es nicht das angemessene Grab seines Vaters wäre, er sei ihr für ihre Hilfe dankbar. Und ihrer Mutter, denn die hatte so schöne Blumen gekauft.

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Pädagogische Maßnahme

Montag, 22. November 2010 22:21 | Autor: admin

Ein junger Student im vierten Studienjahr, nennen wir ihn Sergej, hatte sich als au pair nach Deutschland beworben. Die endgültige Zusage ließ ein wenig auf sich warten, sicherheitshalber hat er sich aber auch schon um ein Visum bemüht. Nach der endgültigen Zusage wird er das Visum abholen und dann sofort einen Flug nach Deutschland buchen. Zusätzlich wird er von der Universität zwei Urlaubssemester erbitten.

In der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche klingelte sein Handy, ein etwas nervöser Mensch gratulierte ihm in deutscher Sprache. Wofür, fragte Sergej, außerdem ist es 5 Uhr morgens. Der nervöse Mensch in Westeuropa entschuldigte sich, das sei ihm unangenehm, er habe die Zeitverschiebung nach Sibirien nicht bedacht, aber Sergej könne ab 01.12.2010 als au pair in einem Kinderheim in Jena anfangen.

Ein euphorischer junger Student stürmte zur Universität, ins Dekanat der Fakultät für deutsche Sprache, an der er studiert, um dort alles für ein Akademisches Jahr bzw 2 Urlaubssemester vorzubereiten. Die Dekanin erklärte, dass dazu ein Antrag notwendig sei inclusive Zeugnisskopien und ausführlicher Begründung. Freitag morgen eilte unser junger Student erneut ins Dekanat, um den fertigen Antrag abzugeben. Dort erfuhr er von der Dekanin, dass für die Beantragung eines Akademischen Jahres inzwischen neue Gesetze vorlägen. Darin sei eine Bestimmung enthalten, welche vorsieht, dass nur diejenigen Studierenden, die in sämtlichen Fächern ein “ausgezeichnet” vorweisen können, überhaupt antragsberechtigt sind. Das, wie sie aus seinen Unterlagen entnehmen könne, träfe auf ihn jedoch nicht zu.

Wie es dem jungen Mann gelungen ist, wissen wir nicht, doch am darauf folgenden Montag hatte er in seiner eigenen Angelegenheit einen Gesprächstermin mit dem Rektor der Universität vereinbart. Entsprechend nervös verließ er den laufenden Unterricht, die gesamte Studienklasse sah ihm fiebrig die Daumen drückend nach. Einige Minuten später kehrte er jedoch sehr geknickt zurück. Der Rektor habe ihm versichert, berichtete er traurig, dass ein au pair-Aufenthalt in Deutschland kein hinreichender Grund für ein Akademisches Jahr sei, selbst für einen Studenten der deutschen Sprache nicht. Er habe ihm daher den einzig möglichen Weg angeboten: sich vollständig von der Universität exmatrikulieren zu lassen und nach Rückkehr das Studium von vorne zu beginnen.

Vier Jahre Lebenszeit standen nun auf dem Spiel, verloren zu gehen. In ökonomischen Werten für die Universität ausgedrückt: 116.000 Rubel Mehreinnahmen, denn 29.000 Rubel / rund 700 kostet ein Jahr Deutschstudium an dieser Universität. Oder aber die Chance auf ein Jahr in Deutschland verstreichen zu lassen.

Die Dozentin bot dem hoffnungslosen Studenten ihre Hilfe an, so gut sie könne. Nach dem Unterricht klopfte sie am Dekanatsbüro und fragte ihre Vorgesetzte, wie es um die Sache ihres Studenten Sergej denn nun bestellt sei und was man tun könne. Die Dekanin erwiderte ihre Frage mit einem außerordentlich breiten Lächeln, nicht ohne Arroganz. Der Student Sergej habe nun einmal keine besonders guten Noten in der Fremdsprache Englisch. Ob das denn für ein au pair-Jahr in Deutschland denn eine Rolle spiele, wollte die Dozentin wissen. Eine grundsätzliche, antwortete die Dekanin. Aber die Kollegin solle sich wirklich keine Sorgen machen, schließlich wisse sie doch, wie man hier solche Fälle verhandelt. Und die Freundlichkeit der Dekanin wuchs mit jedem Wort. Selbstverständlich wird er sein Akademisches Jahr zugesprochen bekommen. Die Universität wollte sich aus guten Gründen ein Bild von ihm machen und nachforschen, warum er nicht vorbildlich lerne. Das sei als pädagogische Maßnahme zu verstehen. Schon morgen wird Sergej ein zweites Treffen beim Rektor haben.

Die Dozentin unterließ es, den jungen Studenten davon in Kenntnis zu setzen.

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Die Verschiebung des Baikal

Dienstag, 9. November 2010 23:31 | Autor: admin

Aus den Nachrichten der letzten Tage sticht eine besonders hervor: Der Baikal könnte im kommenden Jahr ein bisschen näher an Europa heranrücken, vielleicht aber auch nur sein östliches Ufer. Grund ist kein geografisches Wunder, sondern lediglich ein paar Entscheidungen mancher Parlamente, etwa des Irkutsker Gebietes, und der letztlichen Genehmigung des Regierungschefs Putin. Dem liegt nämlich ein Vorschlag aus Irkutsk vor, das Irkutsker Gebiet am westlichen Baikalufer um eine Zeitzone in eben den Westen zu verschieben. Man würde dann den Zeitunterschied zu Moskau auf 4 Stunden verringern können, was eine Reihe Arbeitserleichterungen insbesondere mit der russischen Hauptstadt zur Folge hätte. Der Vorschlag knüpft an die Zeitzonenreform des Präsidenten an, nach der mit Beginn der Sommerzeit 2010 die russischen Zonen von 11 auf 9 reduziert wurden. Dass von vielen Seiten eine noch radikalere Zeitkur für möglich gehalten wird, scheint nun auch Irkutsk zu einem geänderten Zeitplan getrieben zu haben. Denn ganz freiwillig ist der Vorschlag nicht entstanden.

Eine überaus radikale Zeitkur wurde am Ostufer des Baikal, in der Republik Burjatien, angeregt, in der normalerweise die Uhren gleich wie am Westbaikal ticken. Eine Abstimmung des burjatischen Nationalparlamentes in Ulan-Ude hätte aber zu einer paradoxen Situation geführt: Während das östliche Burjatien im März 2011 auf die Sommerzeitumstellung verzichten und somit eine Stunde an Moskau heranrücken würde, hätte das westliche Irkutsker Gebiet seine Zeitzone beibehalten – und der wohl einmalige Fall einer entgegengesetzten Zeitverschiebung innerhalb eines Landes wäre eingetreten. Damit selbst in Russland nicht alles möglich ist, kam nun die Gebietsverwaltung Irkutsk dem zu erwartenden Zeitparadox zuvor. Eigentlich ein bisschen schade.

Eine Moskauer Entscheidung über die Verschiebung des Baikal steht bislang aus.

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Auf der Weihnachtsfeier

Dienstag, 2. November 2010 16:18 | Autor: admin

Die Weihnachtsfeier wurde begleitet von einem umfangreichen Kulturprogramm. Schüler, Studenten und Lehrer verschiedener Schulen und Universitäten der Stadt, die sich auf irgendeine Weise mit Deutsch beschäftigten, waren gekommen und präsentierten ihre Fähigkeiten in der Fremdsprache. Die Darbietungen waren bunt gemischt, Gedichtvorträge, Tanzeinlagen, Theateraufführungen, Gesang, und  hatten insgesamt Varieté-Charakter. Der Ablaufplan sah vor, dass der etwa 10jährige Junge, Schüler der vierten Klasse, in der zweiten Hälfte des Abends sein Gedicht vortragen sollte. Nach über einer Stunde Wartens und Zuschauens, gestiegener Nervosität und Erregung vor so viel Publikum, überhörte er den Aufruf seines Namens. Seine etwa 40 Jahre alte Lehrerin schob ihn ermunternd und bestimmt aus der Bankreihe, in den Empfangsapplaus, den sie genoss. Der Junge trat auf die kleine Bühne, blickte in den stiller werdenden Saal, den Zettel mit dem Gedicht schwitzig zerknüllt in seinen Händen. Dann formulierte er stotternd den Titel und ein wenig der ersten Zeile, mechanisch, undeutlich, leise, gesenkten Blickes. Die Lehrerin an ihrem Platz formte mit den Lippen überdeutlich den Gedichttext, machte weite, unterstützende Handbewegungen im Metrum der Verse. Der Junge bemerkte die pädagogischen Gesten nicht. Er stolperte durch die Silben, die sich ihm als Anhäufung bedeutungsloser Geräusche darboten. Vertauschte Vokale, Konsonanten, wiederholte sich korrigierend, verwirrte sich erneut. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er da aufsagte. Hilfesuchend blickte er den Zettel an, fand sich noch immer am Anfang einer lyrischen Odyssee durch einen immer endloser werdenden Text. Blickte auf, der gesamte Saal bedachte ihn mit Aufmerksamkeit. Die Lehrerin rief ihm etwas zu. Er begann die erste Strophe erneut, brachte unzusammenhängende Laute hervor, in die sich Panik und Verzweiflung mischten. Er hatte zugestimmt, mit seiner Lehrerin, die ihn als besten Schüler seiner Klasse für den Auftritt erwählt hatte, das Gedicht auswendig zu lernen und vorzutragen. Während ihm die Worte zu bloßen Geräuschen zerfielen, ahnte er kaum, wie sehr sie sich öffentliche Anerkennung für ihre Arbeit wünschte. Als er wegrannte, weinte er bereits. Den Rest des Programms erlebte er im Nebenraum in den Armen der Lehrerin, die am schluchzenden Körper sich selbst zu trösten versuchte.

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[Update] Fotoausstellung

Freitag, 22. Oktober 2010 14:43 | Autor: admin

Unlängst wurde im Irkutsker Kunstmuseum “Gutshof von Sukachov” eine Fotoausstellung eröffnet, die Bilder des deutschen Fotografen Stefan Koppelkamm aus der Reihe “Ortszeit – local time” präsentierte. Die seit 2006 existierende und mittels Goethe-Institut weltweit verbreitete Ausstellung zeigt Fotografien von Gebäuden ostdeutscher Innenstädte kurz nach der Wende und noch einmal rund 12 Jahre später. Die schwarzweißen Ansichten werden kommentarlos dem Betrachter überlassen, als Hinweis dienen nur Stadt, Straße und Jahr der Aufnahme.

Die Ausstellungseröffnung verlief ohne größere Zwischenfälle. Der Chor “Poj-Friend” (= Singfreunde) der TU Irkutsk sang ein Ode-an-die-Freude-Medley, in das auch einige sowjetische Pionierlieder eingeflochten waren. Die Bilderrahmen wurden erst kurz vor der Eröffnung fertig und nachdem alle Gäste gegangen waren brach ein Rahmen auseinander. Der Mitarbeiter des Kulturministeriums, der mir die Ausstellung zu organisieren ermöglicht hatte, lag mit Hüftbeschwerden im Krankenhaus. Und eine Kollegin einer anderen Universität antwortete auf die Frage, wie ihr die Ausstellung gefalle, dass das Bierfest vor wenigen Tagen ganz toll gewesen sei.

Ich hatte wenig Gelegenheit, mit den Anwesenden zu reden, da ich vor und nach der Eröffnungszeremonie mit der unerwarteten Flut geladener Journalisten zu tun hatte. Es gab zwei TV-Kanäle, eine Radioreporterin und einige Zeitungs- bzw Internetjournalisten. (Weil ich keinen Fernseher habe, bleibt mir von meinen eigenen Minuten TV-Ruhm nur ein einziges Foto.)

Nachdem dann wirklich alle gegangen waren, hielt mich noch die diensthabende Wachfrau auf und fragte, ob sie die Bilder richtig verstanden hätte. Denn die älteren der beiden Aufnahmen zeigten doch den wirklich hässlichen Zustand der Gebäude aus sozialistischer Zeit, also als “die Russen” in der DDR waren. Und im Vergleich zu den schönen Fassaden der neueren Aufnahmen sei das doch dann ein ganz eindeutiges negatives Statement, also insgesamt eine antirussische Ausstellung. Meine Anmerkung, dass die Fotos keinerlei antirussische Propaganda intendierten und dies zu keiner Zeit im Sinne des Fotografen sei, ließ sie nicht gelten. Jaja, sie wisse doch, jeder habe nunmal seine Meinung und sie sähe in den Bildern nunmal eine Aufwertung Deutschlands und eine Abwertung Russlands. Und nein, sie möge und unterstütze diese Ausstellung überhaupt nicht. Dazu lachte sie höflich. Aber ich bräuchte mich nicht beunruhigen. Ihre Meinung behalte sie natürlich für sich und sage sie keinem weiter.

Und ich solle doch unbedingt wiederkommen.

[Update 04.11.2010] Nun kann man doch noch den Nachrichtenbeitrag des TV-Senders vesti.irk ansehen. Iwan, der Mann der Mitarbeiterin meiner Frau, arbeitet als Kameramann für den Sender (was mir zum Zeitpunkt der Aufnahme unbekannt war) und hat mir eine Kopie des Beitrags zukommen lassen. Die Einblendungen des Senders während der Nachrichten zu Personen etc, wie im Foto der Website, fehlen. Dafür bin nicht nur ich selbst zu sehen, sondern als allererstes Maria, die Frau des Kameramanns beim Betrachten der Bilder (nette Liebeserklärung), und später auch meine Frau, die unsere Tochter trägt. Herzlichen Dank!

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Sechszeiler des Monats

Donnerstag, 14. Oktober 2010 10:29 | Autor: admin

Wenns kein Arbeit nicht gäb
Wüsst ich nicht wie ich läb.

Wenns kein Arbeit nicht hätt
Wär ich wohl ziemlich fätt.

Doch zum Glück bin ich schlank
Und vor Arbeit ganz krank.

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Sibirischer Herbst

Mittwoch, 13. Oktober 2010 11:49 | Autor: admin

3.10.2010

9.10.2010

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Die letzten Tage meines Bruders

Montag, 27. September 2010 23:48 | Autor: admin

I

Zwei Wochen lang hatte ich eine Katze zu hüten.

Meine Eltern fuhren voll quälender Ungeduld, Furcht nach Frankreich.

Zwei Wochen vorher hatte mein Vater nach Gera telefoniert, sein Sohn und er stritten sich erneut, brüllten sich durch die Hörer an, ergebnislos. Wenige Tage später hatte die Geraer Ärztin mit meinem Vater telefoniert, sehr ruhig. Sein Sohn habe gestern das Heim verlassen und sei nicht zurückgekehrt. Er habe sein Zimmer gekündigt und die Auszahlung seiner noch verbliebenen finanziellen Mittel für diesen Monat verlangt. Sie sah keinerlei Handhabe, sich seinen Forderungen zu widersetzen, sie könne ihn nicht anbinden. Der Sohn sei seit gestern mit einem Freund, ein ehemaliges Heimmitglied, unangenehmer Zeitgenosse, aus dem Haus, gemeinsam wären sie die Straße in Richtung Bahnhof gegangen bzw der Sohn im Rollstuhl gefahren. Einen Aufenthaltsort hätten sie nicht angegeben.

Meine Eltern verfielen in eine Panik, die sich als strenge Pragmatik äußert. Sollten sie dem Sohn, 3 Tage nach seinem Weggang, folgen? Wenn ja, wohin? Sollten sie den geplanten Urlaub absagen und in ihrer Wohnung warten, ob er wieder eintreffen würde? Sie waren sich beide im Klaren, dass es vergebenes Warten wäre. Mein Vater telefonierte mit mir, erklärte ruhig die Situation, teilte mir den Entschluss mit. Sie fuhren ab, hinterließen mir Telefonnummern für den Fall einer Entwicklung. Sie wussten, dass nur eine Entwicklung anzunehmen war. Mein Vater sagte, dass mit allem zu rechnen sei. Was bedeutete, nur mit diesem einzigen. Meine Eltern warteten darauf in Frankreich, ich im Beisein einer Katze.

Ich begab mich in die Wohnung des ebenfalls verreisten Freundes und betrachtete das schwarze Tier. Es hatte bei meinen gelegentlichen Besuchen auf meiner Schulter gesessen und den salzigen Schweiß meiner Achseln aus meinem Hemd geleckt. Jetzt beobachtete es mich aus sicherer Entfernung.

II

Aus den wenigen Dokumenten geht hervor, dass mein Bruder mit der Bahn von Dessau nach Magdeburg gefahren und ohne gültigen Fahrausweis angetroffen worden war. Der Leitung des Geraer Heimes lag eine Zahlungsaufforderung der Bahn an meinen Bruder vor, die offenen Transportkosten zzgl Straf- und Bearbeitungsgebühren in Höhe von … zu begleichen. Bei Verlassen des Heimes betrug sein Barvermögen zwischen 120 und 80 Euro, den Großteil hatte die Heimleiterin ihm aufgrund seiner Forderung ausgezahlt, hinzu kam wohl noch ein wenig in bar Gespartes. Die Bahnreise durch Sachsen-Anhalt hatte eine Woche nach seiner Flucht stattgefunden.

Desweiteren konnte nachgewiesen werden, dass ihm das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland in Richtung Niederlande von den deutschen Grenzbehörden an einem Grenzübergang bei Münster untersagt wurde. Er war mit seinem Begleiter, dem ehemaligen Heiminsassen, als Fußgänger am Grenzposten erschienen, lediglich der Begleiter durfte weiterreisen. Mein Bruder wurde trotz gültigen Passes abgewiesen und musste im Land verbleiben, die Gründe der Abweisung sind unbekannt. Daraufhin trennten sich die Reisenden. Mein Bruder hatte kurz darauf einige Tage Quartier in einem Hotel in Münster bezogen. Während des dreitägigen Aufenthaltes im Hotel leerte er die im Zimmer befindliche Minibar und verwüstete das Zimmer. Für die aus den Schäden resultierenden Kosten zzgl der hohen unbeglichenen Rechnung versuchte die Hotelleitung, meine Eltern haftbar zu machen. Allerdings erfolglos, da das Hotel den Gast nicht hätte aufnehmen müssen und er soweit mündig war, für seine Taten selbst verantwortlich zu sein. Während des Aufenthaltes im Hotel hatte sich ein fachkundiger Gast um die ärztliche Versorgung meines Bruders gekümmert. Er gab an, dass die Füße verletzt waren, Abschürfungen aufwiesen, entzündet waren, glücklicherweise ohne ernsthafte Schäden. Er hatte die Füße mit Salben und Pflastern behandelt. Der Gast nannte meinen Bruder einen ruhigen Mann, der die ihm gebotene Hilfe dankend und freundlich angenommen habe. Dass mein Bruder medikamentös behandelt wurde, sei ihm nicht aufgefallen.

Einige Tage später, nachmittags, wurde mein Bruder im Tal unter einer Brücke in Düsseldorf tot aufgefunden. Aus Passantenbefragungen ging hervor, dass mein Bruder, allein und im Rollstuhl, lediglich mit sauberer Unterwäsche bekleidet – so war er entdeckt worden – auf der Brücke gesehen wurde. Er habe über das Geländer geblickt und sich kaum bewegt. Am Rollstuhl hingen T-Shirt und andere Kleidungsstücke. Etwa eine Stunde später muss er sich über das Geländer gezogen und ins Tal gestürzt haben. Dennoch ermittelte die Polizei in alle Richtungen. Meinen Eltern wurde angeboten, Fotos zur Identifizierung zu sehen. Sie lehnten ab und versicherten, dass weitere Ermittlungen überflüssig wären. Die Beamten sagten, mein Bruder habe sich wetterbedingt seiner Kleidung entledigt, den ganzen Tag habe in Düsseldorf die Sonne geschienen.

Mein Vater informierte mich in der Katzenwohnung telefonisch.

III

Die gesamte letzte Reise, eine Art Flucht, meines Bruder dauerte etwas über 4 Wochen. Das meiste ist vollständig unbekannt und es ist ungewiss, ob ich es je in Erfahrung bringen kann. Wo hat er außer in Münster übernachtet? Wie hat er sich ernährt? Wovon hat er gelebt? Aufgrund seiner schizophrenen Depressionen und Selbstmordversuche bedeuten diese letzten Tage eine ungeheure Anstrengung und Willensleistung, den Willen zu leben, eine ungewisse Zeitlang frei und ohne elterlichen Vormund und Heimaufsicht zu leben – immer mit dem konkreten Ziel zu sterben. Seltsam genug: Diese Reise verdient Bewunderung.

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Inneneinrichtung (nature morte)

Donnerstag, 16. September 2010 21:35 | Autor: admin

Über dem Bett in der Ablage befindet sich eine Komsomolskaja Prawda, ausgelesen, das Kreuzworträtsel gelöst, zusammengefaltet. Der Beginn eines Artikels aus der Rubrik Ich verstehe das nicht ist zu erkennen, zu der Frage, warum Kleinkinder als erstes “там” = “da” sagen. Der Rest der Zeitung ist verdeckt von einer Illustrierten unbekannten Namens, ebenfalls zusammengefaltet, eine junge Frau lächelt herab. Dazu sind in der Ablage zwei Plastetüten, gelb und dunkelblau, ebenfalls gefaltet, weiterhin ein zusammengerollter Gürtel, ein benutztes Taschentuch, eine Rolle Klopapier, weiß mit lila Blumen, perforiert, außerdem hängt ein Stift herunter.

Rechts neben der Ablage über dem Bett ist eine Metallstange an das braune Sprelacart mit Holzmuster angebracht, über der ein kleines, rauhes Stofftuch hängt, ein weißes Leinen, blau gestreift, gestärkt. Das Tuch ist Bestandteil des Bettwäschepaketes und dienst als Handtuch. Es ist ordentlich gefaltet und aufgehängt.

Links neben der Ablage, die aus einem gebogenen Metallrohr besteht, das ein ca 15x50cm großes Rechteck ergibt, mit einem dazwischen gespannten Stoffnetz, und an zwei kleinen Halterungen an der Wand befestigt ist, befindet sich ein Haken. Daran hängt eine schwarze Plastetüte mit etwas Essbarem darin, aufgrund der Ausbeulungen vermutlich Waffeln oder Kekse in größerer Stückzahl. Darunter hängt eine farblos durchsichtige Plastetüte, in ihr sind zwei Äpfel, zwei handlange Gurken, ein großer Löffel und ein Portionsbeutel Instantkaffee. Die Henkel der beiden Tüten sind gedehnt, diese Tüten befinden sich seit längerer Zeit an ihrem Ort.

Zwischen die Matratze des darüberliegenden Bettes und dem etwa 15cm langen, 5cm breiten Metallhaken zur Auflage desselben neben dem Fenster an der Stirnseite des Bettes ist eine weitere Plastetüte eingeklemmt, darin befinden sich einige Birnen, ein Sechserpack Eier aus Pappe und weitere Gurken. Die Tüte hängt etwas höher als die benachbarten beiden, aber zentral über dem Kissen bzw über dem Kopf der schlafenden Person. Das Kissen selbst ist, wie auch die ausrollbare Schlafmatratze, mit dem weißen, blaugestreiften Leinen bezogen, aus dem auch das Handtuch gefertigt ist. Unter dem Kissen, nicht auf den ersten Blick erkennbar, ist die schwarze abgegriffene Handtasche, darin alle Wertsachen, die Geldbörse und der Pass der Reisenden verborgen.

Unter dem Bett, an der dem Fenster zugewandten Seite, neben der Box für Reisegepäck, die von der klappbaren Matratze verschlossen wird, stehen als Vorrate ungeöffnete Lebensmittel, eine Reihe Tetrapacks für Milch und Kefir und eine metallene Brotdose.

Am Fußende des Bettes, auf der Matratze, steht die schwarzweiß gemusterte Waschtasche, vor dieser liegt ein in eine Plastehülle gesteckter, mehrseitiger Internetausdruck des Zugfahrplans mit allen Haltepunkten, der jeweiligen Ankunft- und Abfahrtszeit sowie die Aufenthaltsdauer (in Minuten). Zusätzlich liegt ein altes Reisehandbuch bereit, das vermutlich alle Strecken der sowjetischen Bahn verzeichnet, als rote Linie in schematische Karten gezeichnet, an deren Verlauf die Haltepunkte und größere Gewässer zur Orientierung eingetragen sind. Das Buch ist aufgeschlagen auf der Seite, das den Streckenverlauf zwischen Krasnojarsk und Irkutsk wiedergibt. Befindet sich die Reisende im Abteil, liegt darauf eine Zigarettenpackung Chesterfield Gold.

Am Kleiderhaken neben der Abteiltür, auf einem zugeigenen schwarzen Plastebügel, ist ein dunkelgraues T-Shirt aufgehängt, darüber eine leuchtend hellgrüne Allwetterjacke.

Auf dem Tisch ist eine schneeweiße Tischdecke ausgebreitet, darauf liegt eine nicht gefaltete, ebenfalls ausgelesene Komsomolskaja Prawda, als Unterlage zur Schonung des hell leuchtenden Stoffes. An vorderer Tischkante und der dem Bett zugewandten Seite liegt eine ältere Ausgabe von Charlotte Brontes Jane Eyre in unbekannter russischer Übersetzung. Das Buch ist in Kunstleder mit einem ähnlich braunen Farbton wie die Abteilwände und -gardinen gebunden, Titel und Autorin waren einst mit goldenen Lettern in den Einband geprägt. Als Lesezeichen schaut am oberen Seitenrand, etwa in der Mitte des Textes, ein sauber zusammengefaltetes orangefarbenes Bonbonpapier heraus. Auf dem Buch liegt eine Lesebrille auf dem Rücken, die Bügel geöffnet. Hinter dem Buch, näher zum Fenster, steht linkerhand eine farblose Plasteschale, geöffnet, der Deckel liegt darunter. In ihr befindet sich ein Teil einer vor längerer Zeit angeschnittenen, leicht fleckigen gelben Birne, die Schnittflächen sind ebenfalls etwas gebräunt. Das Messer, ein kleineres Küchenmesser mit schwarzem Griff, liegt daneben. Rechterhand steht eine halbhohe, alte Emaille-Tasse, weiß, mit einem frühlingshaften Motiv, ein Reh trifft ein junges fröhliches Mädchen auf einer saftigen Wiese. Am Rand ist an manchen Stellen die Emaille-Beschichtung deutlich sichtbar abgeschlagen. Ein kleiner Löffel steckt darin. Dahinter sind einige auf der Zeitung liegende Teebeutel zu erkennen, sehr wahrscheinlich grüner und schwarzer Tee. Diese Dinge sind mit einem offenbar für diesen Zweck mitgeführten Leinentuch bedeckt, sehr wahrscheinlich ein abgerissenes Stück eines alten Kopfkissens oder Bettwäschebezuges. Am Fenster, noch auf der Zeitung stehend, eine angefangene Bierflasche unbekannter Marke, die zur Hälfte geleert ist und deren vom Öffner halbseitig nach oben verbogener Kronkorken wieder als Verschluss aufgesetzt wurde. Das Bier steht seit geraumer Zeit unberührt, schaumlos und zimmerwarm. Während meiner 18stündigen Anwesenheit im Coupéabteil 5 des Waggon 8 ändert sich die Position der Bierflasche nicht. Neben ihr befindet sich die rote Pappschachtel für die Teebeutel. Der Rest der Tischfläche ist frei.

Unter dem Tisch, an der die Tischplatte tragenden Metallstange ist ebenfalls eine durchsichtige Plastetüte befestigt, in der sich kleine getrocknete oder geräucherte Fische befinden. Diese Tüte schaukelt in den Fahrtbewegungen des Zuges, macht dabei aber keinerlei Geräusch. Ebenfalls unter dem Tisch, jedoch auf der Heizung, in unmittelbarer Nähe zum Kopfkissen, stehen einige Schachteln, u.a. eine gläserne Dose Nescafé, dazu eine Pappschachtel, in welcher die schwarzen Schalen der Sonnenblumensamen (aus welcher Tüte?) während der Lektüre von Jane Eyre aufbewahrt werden.

An der Metallhalterung der Matratze des gegenüberliegenden Doppelstockbettensembles ist eine weitere Plastetüte angebracht, darin steckt ein einzelne größere Forelle, geräuchert. Ein Teil ihres Fettes ist in der Wärme des Raumes zu einer bräunlichen Soße zerlaufen, in welcher kopfüber der Fisch hängt. Der Boden der Tüte ist vom Maul des Fisches an einer Stelle deutlich gedehnt, doch sie reißt nicht. Der Geruch des geräucherten Tieres hat sich in der Raumluft ausgebreitet.

Die Frau, die ihre Reiseutensilien auf solche Weise im Abteil verteilt hat, ist geschätzte Mitte 60 und wohl erfahrene Zugreisende. Ihren Platz, diesen Platz, scheint sie für ihre 7tägigen Fahrten von Moskau nach Blagoweshzhensk (und wieder 7 Tage zurück) stets in diesem Abteil zu reservieren. Von diesem Abteil werden nur zwei der vier Plätze verkauft, die frei bleibenden Betten sind Notunterkünfte für Milizionäre oder besondere Zugbegleitung, falls diese nach Meinung des Zugführers notwendig werden sollte. Da die Frau auf diese Weise meist allein in ihrem Abteil reist, hat sie für Stationen, an denen sie während längerem Aufenthalt aussteigt, um zu rauchen oder etwas Essbares zu kaufen, einen eigenen Vierkantschlüssel mit, der genau zum Schloss der Abteiltür passt, um das Coupé zu verschließen. Wie eine Wohnung.

Thema: Transsib, Ästhetik | Kommentare (1)

HIV in der Stadt

Mittwoch, 15. September 2010 10:50 | Autor: admin

Irkutsk, das Paris des Ostens! Touristen, Nachtclubs mit Schaumpartys, Hotels mit Frauenservice für alleinreisende Männer, Vergnügungscenter und so weiter. Die Innenstadtfassaden leuchten, die Gehwege, Straßen und Grünanlagen werden alljährlich erneuert, auf dass die ostsibirische Metropole zum 350jährigen Stadtjubiläum 2011 glänzen und strahlen möge.

Nur ein bisschen stört die neueste offizielle Statistik über HIV-Infektionen der vergangenen 5 Jahre, die für den 2,5Mio Einwohner fassenden Oblast erstellt wurde. Danach ist Irkutsk zum zweitinfektiösesten Oblast ganz Russlands aufgestiegen. Zu Beginn des Jahres 2010 wurden 29.359 Personen mit HIV-Infektion registriert, also 1,2% der Gesamtbevölkerung. Vor Beginn des von der Regierung entwickelten Anti-AIDS-Projektes 2006 waren 19.429 Menschen als infiziert bekannt. Jährlich kommen also etwa 2.000 neue Infektionen hinzu, das sind 5,5 pro Tag. Weiterhin wurden im erhobenen Zeitraum 4.307 Kinder von infizierten Müttern zur Welt gebracht, allein 733 im Jahr 2009.

Nicht genannt werden die Orte, in denen die Infektionsrate am höchsten liegt. Ebensowenig, welche möglichen Gründe zu dieser katastrophalen Lage geführt haben und wie sich das auf die Sterberate in Irkutsk auswirkt. Aber vor allem: wie hoch der Anteil unter den jungen Menschen des Oblastes, aber auch ganz Russlands ist, da die höchste Ansteckungsgefahr vorrangig in der Bevölkerungsgruppe 16 bis 35 Jahre liegt.

Behauptungen, dass etwa wilder Klo-Sex Minderjähriger in Nachtclubs zu solchen Zahlen führt, sind wohl eher porno-fantastischer Unsinn. Resoluter ist da schon der Vorschlag, man solle doch einfach alle “diese Mädchen”, die auf Parkplätzen und Straßen herumstehen, gemeinsam mit den Drogenabhängigen einsperren. Erstaunlich selten hingegen wird das Thema Verhütung angesprochen.

Tatsächlich wird lieber einmal mehr abgetrieben als zum Kondom gegriffen. Seiten wie www.aborti.ru geben umfangreich Auskunft über Abtreibungsarten und was alles zu tun und zu beachten ist, auch wenn grundsätzlich für das ungeborene Leben plädiert wird. Über Verhütung ist allerdings nichts zu erfahren. Interessanter ist, dass sich diese und andere Seiten fast ausschließlich an Frauen richten. Nicht nur, dass die jungen Frauen die Risiken eines Schwangerschaftsabbruches beinah allein zu tragen hätten – ihnen wird in der Regel auch die Verantwortung für eine Schwangerschaft zugesprochen. Über Verantwortung des Mannes beim Sex wird mehrheitlich, etwa im russischen Wikipedia-Eintrag zu Problemen rund um Schwangerschaftsabbrüche, geschwiegen.

Insofern ist fraglich, ob aus den Statistiken sinnvolle Schlüsse gezogen werden oder ob das glitzernde Irkutsk im kommenden Jubiläumsjahr nicht doch auch den Aufstieg an die Spitze der russischen HIV-Charts “feiern” wird.

Thema: Irkutsk, Statistik, Wildbahn | Kommentare (0)