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Europäische Währungsunion

Gefahr für die Stabilität

Die Analyse der Krise führt auf zwei Fragen zurück, die schon vor der Europäischen Währungsunion diskutiert wurden: Welche Bedingungen müssen Länder erfüllen, damit der Euro erfolgreich ist? Und kann eine Währungsunion ohne Politische Union auskommen? Ein Essay von Otmar Issing.

Europäische Währungsunion: Gefahr für die Stabilität

11. November 2010 

Als die neue Regierung in Athen im Herbst letzten Jahres die Öffentlichkeit darüber informierte, dass das Defizit im öffentlichen Haushalt statt wie bisher angenommen rund 3 fast 13 Prozent betrug (inzwischen auf 15 Prozent erhöht), traf diese Nachricht Politik und Märkte wie ein Schock. Eine derartige Revision ist ein bisher einmaliger Vorgang. Die Dimension der Korrektur übertraf nicht nur die ohnehin bestehenden Zweifel an der Korrektheit griechischer Statistiken, das Ausmaß der fiskalischen Katastrophe bewirkte darüber hinaus Bedenken, ob das Land überhaupt auf Dauer Mitglied der Währungsunion bleiben könne. Seitdem ist Griechenland nicht mehr aus den Schlagzeilen verschwunden, zunehmend aber auch – das sei schon hier vermerkt – mit erstaunlichen Nachrichten über bis dahin kaum vorstellbare dramatische Reformen.

Die Besorgnis erfasste sehr bald auch andere Mitglieder der Währungsunion. Eine sträflich falsche Terminologie sprach von „Ansteckungsgefahr“, so als ob die anderen „Patienten“ nicht längst ähnliche, wenn auch schwächere Symptome aufgewiesen hätten. Anders formuliert: Der Fall Griechenland ragt einerseits in seinem Ausmaß deutlich aus dem übrigen Umfeld heraus, reiht sich aber andererseits in das Bild von Fehlentwicklungen ein, die dem Grund nach bereits mit dem Start der Währungsunion einsetzten und sich über die Jahre zu einem bedrohlichen Szenario aufgebaut haben. Von daher ist der Befund, der heute zu registrieren ist, alles andere als eine Überraschung.

Dazu sind nicht nur die Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu rechnen, sondern auch anhaltende Divergenzen in den Lohnstückkosten mit der Folge gravierender Verluste an Wettbewerbsfähigkeit sowie Auswüchse im Bausektor einzelner Länder. Fehlentwicklungen in diesen drei Bereichen charakterisieren im Wesentlichen den gegenwärtigen Zustand der Währungsunion beziehungsweise einzelner Länder. Was wie eine Provokation klingt, entspricht nur den Tatsachen: Die Krise kam alles andere als unerwartet, es handelt sich quasi um eine Krise mit Ansage.

Wenn kein Verlass auf völkerrechtliche Verträge ist, wie kann man auf Besserung hoffen?

Im „Normalfall“ der Geschichte fallen Staats- und Währungsgebiet zusammen. Im Falle der Europäischen Währungsunion ist dies offenbar nicht gegeben. Beim Start elf und inzwischen 16 Mitgliedstaaten verkörpern keine politische Einheit. Dagegen existiert nur eine Währung, der Euro, und eine Notenbank, die Europäische Zentralbank (EZB). Dieser ist nach dem Vertrag die Aufgabe überantwortet, die Preisstabilität im Euro-Raum zu gewährleisten. Dieses Ziel gilt für den Euro, die Währungsunion insgesamt. Es kann also nur eine einheitliche Geldpolitik geben, die von der Notenbank gesetzten Zinsen gelten für alle Länder, von Irland bis Griechenland, von Finnland bis Portugal. „One size fits all“ – der geldpolitische Anzug muss für alle passen. Die Politik hat es jedoch auch nach dem Start versäumt, die dafür nötigen Voraussetzungen zu vollenden.

Mit dem Eintritt in die Währungsunion hatten sich die Bedingungen für die einzelnen Länder wesentlich verändert. In der Vergangenheit eher inflationsfreudige Länder konnten sich unter dem Dach einer gemeinsamen stabilen Währung jetzt niedriger Zinsen erfreuen, die sie bis dato allenfalls vom Hörensagen kannten. Damit war unter anderem ein Anreiz für eine erhebliche Ausweitung der Bautätigkeit geschaffen. Diese anfänglich durchaus erwünschte Entwicklung entartete jedoch sehr bald in eine auf Dauer unhaltbare Überhitzung. Die Geldpolitik konnte und durfte gegen solche Fehlentwicklungen in einzelnen Ländern nichts unternehmen. Ihr Auftrag gilt dem Währungsgebiet insgesamt. Somit war die nationale Wirtschaftspolitik gefordert. Vor allem steuerpolitische Maßnahmen – die nach wie vor in nationaler Kompetenz lagen – hätten den Boom entscheidend bremsen können. Trotz früher, zahlreicher und anhaltender Warnungen, nicht zuletzt von Seiten der EZB, sind nationale Regierungen diesen Aufforderungen aus naheliegenden, aber deswegen keineswegs verzeihlichen Gründen nicht nachgekommen. Vergleichbar ist die Divergenz in den Lohnstückkosten verlaufen. Die Krise – deren es dazu gar nicht bedurft hätte – machte also einen wesentlichen Konstruktionsfehler der Währungsunion offenbar: Der Verlass auf gute Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten war unbegründet; anhaltende Fehler der nationalen Politik schadeten nicht nur der eigenen Wirtschaft und Bevölkerung, sondern mussten sich auch zu einem schwerwiegenden Problem für die Gemeinschaft aufschaukeln.

Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt hat man auf einem wichtigen Feld, nämlich dem der Fiskalpolitik, versucht, den Bedürfnissen der Währungsunion Rechnung zu tragen. Die Grundidee bestand darin, die nationale Souveränität in Fragen der Steuerpolitik nicht anzutasten, jedoch für die Gestaltung der Budgetsaldos wie der Staatsschuld eine mit dem Ziel stabilen Geldes vereinbare Fiskalpolitik zu garantieren. Die Versöhnung von nationaler Souveränität und europäischer Kontrolle war das Fundament des Paktes.

Die Aufgabe des No-Bail-Out-Prinzips ist eine Einladung, über seine Verhältnisse auf Kosten anderer zu leben

Spätestens im Jahre 2003, als die beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich eine politische Mehrheit im Rat der Finanzminister organisierten, um die Anwendung der Regeln gegen ihren Verstoß zu verhindern, musste der Pakt in seinen Ambitionen als gescheitert gelten. War von einer Jury, in der potentielle Sünder über aktuelle urteilen, etwas anderes zu erwarten? Immerhin handelt es sich beim Stabilitätspakt nicht um eine Goodwill-Erklärung, sondern um eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung. Wenn aber so wenig Verlass auf durch alle Parlamente ratifizierte Verträge ist, wie kann man dann für die Zukunft auf Besserung hoffen?

Inzwischen ist davon auszugehen, dass aus der ursprünglich auf drei Jahre befristeten Europäischen Finanzmarktstabilisierungsfazilität in der einen oder anderen Form eine Dauereinrichtung wird. Jedenfalls scheint in „Brüssel“ weitgehend Einigkeit zu herrschen, einen dauerhaften Hilfsfonds als unentbehrliches Element der Stabilisierung der Währungsunion und Ausdruck europäischer Solidarität einzurichten.

In dieser Frage steht nicht nur sehr viel Geld, insbesondere Geld der Steuerzahler soliderer Länder, auf dem Spiel, es geht hier um die grundlegende Verfassung der Europäischen Währungsunion. Das No-Bail-Out-Prinzip, das heißt der Haftungsausschluss für die Schulden anderer Staaten, reicht weit über den Einsatz finanzieller Mittel hinaus. Es ist Ausdruck der Tatsache, dass es sich nicht um eine Art Staat, sondern einen Verbund oder wie auch immer genannten Zusammenschluss von nach wie vor souveränen Staaten handelt, die zunächst einmal „lediglich“ ihre geldpolitische Souveränität an eine europäische Institution abgetreten haben. Für außergewöhnliche exogene Schocks wie Naturkatastrophen ist Hilfe der Gemeinschaft vorgesehen. Für alle „hausgemachten“ Fehler haftet jedes Land selbst. Wird dieses Prinzip unterhöhlt oder gar ausgehebelt, ist nach allen theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen mit erheblichen Fehlanreizen (Moral Hazard) zu rechnen: Einzelne Staaten könnten versucht sein, im Vertrauen auf die Hilfe von außen einen finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs zu verfolgen, der die finanzielle Unterstützung dann auch wahrscheinlich werden lässt.

Politökonomisch bedeutet die Aufgabe beziehungsweise Einschränkung des No-Bail-Out-Prinzips eine Art Einladung, über seine Verhältnisse auf Kosten anderer zu leben. Auf nichts anderes läuft die Forderung hinaus, die Währungsunion in Richtung Transferunion auszubauen. Damit würde jedoch der Charakter der bestehenden Währungsunion grundsätzlich geändert. Der Hinweis, es handle sich doch ohnehin längst um eine Transferunion, führt, ob absichtlich oder nicht, in die Irre. Die Transfers zwischen den Mitgliedstaaten etwa in Form von Agrarzahlungen sind der Summe nach begrenzt und dem Zweck nach bestimmt. Transfers als Folge von fiskalpolitischen Fehlentwicklungen oder anderer makroökonomischer Divergenzen unterliegen dagegen einer in jeder Hinsicht unkontrollierbaren Dynamik und drohen Dimensionen zu erreichen, die die öffentlichen Finanzen und den Lebensstandard in den Zahlerländern ernsthaft beeinträchtigen könnten.

Zwar ist der Hinweis zutreffend, bei Hilfen der Europäischen Finanzmarktstabilisierungsfazilität beziehungsweise der geforderten Dauereinrichtung handle es sich nur um Kredite und nicht um Transfers. Der Transferfall kommt aber unweigerlich dann zustande, wenn Kredite nicht angemessen verzinst beziehungsweise voll zurückgezahlt werden. Es spricht wenig dafür, dass damit nicht zu rechnen ist.

Werden die Regeln für solide Finanzpolitik nicht entscheidend verbessert, steigt die Wahrscheinlichkeit von Transferzahlungen

Nimmt man die Vertreter der Ansicht, es bedürfe eines Hilfsfonds, um „unbegründeten Attacken“ auf ein Mitgliedsland zu begegnen – die Spekulation ist als der Schuldige ausgemacht –, beim Wort, dann müssten sie zunächst einmal alle Vorkehrungen dafür treffen, dass es zu „begründeten“ Attacken nicht kommen wird. Davon kann jedoch nicht einmal im Ansatz die Rede sein. Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit strikter Auflagen bei Mittelvergabe aus einem solchen Fonds wirkt nicht glaubwürdig. Schließlich tritt die Notlage nur ein, wenn ein Land vorher gegen Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die doch zumindest „strikt“ gemeint sind, oder andere Warnungen verstoßen hat.

Die Analyse der Ursachen der aktuellen Krise führt auf zwei fundamentale Fragen zurück, die längst vor dem Beginn der Währungsunion bereits diskutiert wurden. Erstens: Welche Bedingungen müssen Länder erfüllen, damit einer Währungsunion dauerhafter Erfolg beschieden ist? Und zweitens: Kann eine Währungsunion ohne Politische Union auskommen?

Zur zweiten Frage traf der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl unter einhelligem Beifall in seiner Regierungserklärung vom 6. November 1991 vor dem Deutschen Bundestag ein eindeutiges Urteil: „Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.“

Was immer dabei mit „Politischer Union“ gemeint sein mag: Vom Start der Währungsunion am 1. Januar 1999 wird niemand behaupten wollen, diese Bedingung sei auch nur annähernd erfüllt gewesen. Somit begann zu diesem Zeitpunkt de facto ein realer Test, ob entweder das Kohlsche Urteil unzutreffend ist oder ob mit diesem Datum ein Prozess in Richtung Politischer Union eingeläutet wurde.

Bundesverfassungsgericht: Währungsunion nur mit Vorrang der Preisstabilität verfassungskonform

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen auf allen Ebenen – von der Politik bis zur Wissenschaft – spiegeln unterschiedliche Antworten auf diese Frage wider. Als Verbund von Staaten, die sich durch eine völkerrechtliche Vereinbarung einem System von Regeln unterwerfen, gleicht die Währungsunion einem Club. Der Satzungszweck „Stabilitätsraum“ wird der Absicht nach auf zwei Ebenen gesichert. Die Stabilität des Euro wird durch die unabhängige Notenbank EZB garantiert und ist dem Einfluss der Mitglieder, das heißt der Politik entzogen. Der Euro ist seiner Bestimmung nach als „unpolitisches Geld“ kreiert. Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen in seinem Maastricht-Urteil festgestellt, dass nur ein Beitritt zu einer Währungsunion, in der der Vorrang der Preisstabilität gilt, als verfassungskonform anzusehen ist.

Die Verantwortung für die zweite Säule, Solidität der öffentlichen Finanzen, muss der ganzen Konstruktion nach ohne staatliche Kompetenz auf der europäischen Ebene einem europäischen Überwachungssystem übertragen werden. Als Äquivalent zum entpolitisierten Geld müsste diese europäische Kontrolle einem ebenfalls so weit wie möglich entpolitisierten Verfahren unterworfen werden. Rein theoretisch könnte man an einen Automatismus denken, der durch die Überschreitung bestimmter makroökonomischer Grenzen (zum Beispiel 3 Prozent Defizit) ausgelöst wird. Die der Sache nach objektive Statistik wäre damit aber zweifelsohne überfordert. Immerhin ließe sich über eine wirklich unabhängige Statistikbehörde mit eindeutiger hierarchischer Priorität gegenüber den nationalen Ämtern zumindest die Datenlage objektivieren und entpolitisieren. Ein Gremium unabhängiger Experten, das ein öffentliches Urteil über Einhaltung beziehungsweise Verstoß gegen die Regeln abgibt, wie in der Vergangenheit mehrfach gefordert, könnte ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.

Die Diskussionen und politischen Weichenstellungen um die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verheißen nichts Gutes. Nachdem nun ausgerechnet Deutschland, das Land, das auf einem wirksamen Pakt als Eintrittsbedingung in die Währungsunion bestand, offenbar eine Fortsetzung des von politischen Mehrheitsentscheidungen dominierten Entscheidungsverfahrens unterstützt, besteht wenig Hoffnung, dass die Gemeinschaft wirklich aus der Krise gelernt hat. Bestand vorher kein Konsens über die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit, die Vorschriften des Paktes einzuhalten, zeichnet sich zunehmend Resignation oder gar ein Konsens ab, solche Regeln seien nicht durchzusetzen oder gar entbehrlich.

Wenn aber schon die europäische Überwachung und Kontrolle der laufenden Budgetpolitik nicht gelingt, wie soll man dann darauf vertrauen, der Zugang zu Finanzhilfen im Krisenfall – aus welchen Fonds auch immer – werde an strikte Voraussetzungen gebunden? Laxe, dem politischen Kalkül unterworfene Anwendung der Vorschriften des Paktes sozusagen im Alltag, harte Konditionierung der Hilfe im Falle der Krise, verkörpert einen Widerspruch in sich.

Regelverstöße werden nicht bestraft, sondern honoriert

Mit dem Versagen vor der Aufgabe, die Finanzpolitik souveräner Staaten mit den Bedingungen des einheitlichen Währungsraumes in Übereinstimmung zu bringen, beeinträchtigt die Politik nicht nur das Funktionieren der Währungsunion, sondern setzt deren Existenz als solche aufs Spiel. Jedenfalls gehen auf Dauer stabiles Geld und solide öffentliche Finanzen Hand in Hand. Dies gilt für einen Nationalstaat, erst recht aber für einen Verbund souveräner Staaten, wie ihn die Währungsunion darstellt.

Gravierende Divergenzen in der makroökonomischen Politik, insbesondere in der öffentlichen Verschuldung, erzeugen Spannungen und Druck auf finanzielle Transfers, um das Auseinanderbrechen der Währungsunion zu verhindern. Damit entsteht ein Potential für Versuche der Erpressung der solideren Länder durch Mitgliedstaaten mit hoher Verschuldung. Dieser Mechanismus geht noch über ein von den Ökonomen als Moral Hazard bezeichnetes falsches Anreizsystem hinaus. Die Forderung, die stärkeren Länder müssten die schwächeren im gemeinsamen Interesse unterstützen, pervertiert den vielbeschworenen Gedanken „finanzieller Solidarität“. Der Gedanke der Solidarität wird dabei auf den Kopf gestellt. Dies gilt auch deshalb, weil in diesem durch makroökonomische Divergenzen erzeugten Finanzausgleich weniger reiche, aber regelkonforme sparsamere Länder zu Transfers an Länder mit höherem Lebensstandard, aber unsolider Finanzpolitik gezwungen werden können.

Die Fehlorientierung einer Währungsunion mit mangelhaftem Rahmenwerk, das Regelverstöße nicht bestraft, sondern honoriert, erzeugt einen weder ökonomisch noch sozial zu rechtfertigenden Transferbedarf. Es erscheint mehr als fragwürdig, von diesem Prozess tragfähige politische Strukturen mit staatsbildendem Charakter zu erwarten. Schon vor Beginn der Währungsunion konnte man diesen Gedanken als Chimäre entlarven. Im Jahre zwölf des Euro ist daraus ein weithin propagiertes Projekt geworden. Insoweit scheint sich die Auffassung von der Schrittmacherrolle der gemeinsamen Währung hin zur Politischen Union auf unheilvolle Weise zu bestätigen: „L’Europe se fera par la monnaie ou ne se fera pas.“ Diese These Jacques Rueffs aus dem Jahre 1950 hat seit je viele Anhänger. Als Vertreter der Geldwertstabilität wird Rueff jedoch kaum an diese „Variante“ gedacht haben.

Automatische Subventionierung schlechter Politik

Vor dem Vorhaben, die Politische Union quasi durch die Hintertür der durch die gemeinsame Währung und einheitliche Geldpolitik ausgelösten Sachzwänge schaffen zu wollen, kann man nur warnen. Die quasi automatische Subventionierung schlechter Politik innerhalb Europas würde den demokratischen Prozess in den Mitgliedstaaten in die falsche Richtung, in die Richtung unsolider Politik verzerren, um nicht zu sagen korrumpieren. Auf eine solche Fehlkonstruktion lässt sich nicht ein Europa der Stabilität und der Bürgernähe gründen.

Wie soll auf diese Weise eine stabile Politische Union entstehen? Vor allem aber: Wie lässt sich dieser Prozess demokratisch legitimieren? Schließlich steht am Anfang der Staatsform westliche Demokratie die Kontrolle der staatlichen Finanzen durch das Parlament. Als Bundestag und Bundesrat dem „Rettungsschirm“ zugestimmt haben, geschah dies unter hohem Druck – die Folgen eines Nein wären unabsehbar gewesen. Den Abgeordneten war bewusst, wie wenig populär – um es sehr milde auszudrücken – diese Entscheidung war. Wiederholen lässt sich dieser Vorgang nicht, und gegen eine schleichende Ausdehnung des innergemeinschaftlichen Transfers würde sich bald Widerstand innerhalb und außerhalb des Parlaments bilden.

Der Appell an weitergehende „finanzielle Solidarität“ jeder Art und erst recht in ihrer pervertierten Form geht an der Meinung der Bürger meilenweit vorbei – jedenfalls in den Ländern, die als Zahler in Frage kommen und teilweise sogar einen niedrigeren Lebensstandard aufweisen als die potentiellen Empfänger. Mit der Verweigerung, die Einhaltung der Regeln für solide Finanzpolitik entscheidend zu verbessern, steigt die Wahrscheinlichkeit von Transfers, aber gleichzeitig auch die öffentliche Ablehnung, für Fehlverhalten anderer Länder zu haften.

Wer die Politische Union will – und dafür gibt es gute Gründe –, sollte das Vorhaben offen, mit allen Konsequenzen auf den Tisch legen. Eine europäische Regierung, kontrolliert durch ein nach den Regeln der Demokratie gewähltes Europäisches Parlament, wäre die klarste Manifestation. Aber auch alle denkbaren Misch- beziehungsweise Übergangsformen bedürfen der demokratischen Legitimation. Eine Politische Union, die als demokratische Regierungsform diesen Namen verdient, lässt sich nicht sozusagen unter der Hand über gemeinsames Geld erzwungener fiskalischer Transfers erreichen.

Wer diesen Weg dennoch gehen will, setzt die Gemeinschaft dem höchsten denkbaren Risiko aus – der Verweigerung der Bürger. Tritt diese auf breiter Front ein, wird es nicht lange dauern, bis nicht nur extreme Parteien die Gegnerschaft zur Währungsunion – und gegebenenfalls darüber hinaus – zu ihrer Agenda machen. Die gescheiterten Referenden der Vergangenheit sollten als Menetekel ausreichen.

Jede Krise bietet auch eine Chance. Für Griechenland zum Beispiel eröffnet die Erkenntnis, dass das Land vor dem Abgrund stand, den Weg zu Reformen, an die man noch vor kurzem nicht einmal zu denken wagte. Die Krise der Währungsunion, die wie dargelegt alles andere als unerwartet kam, offenbart die Schwächen des bisherigen Arrangements und bietet damit die Chance, das Regelwerk entscheidend zu verbessern. Nach gegenwärtigem Stand ist zu befürchten, dass diese Chance allenfalls marginal genutzt und im Wesentlichen vertan wird. Der Blick zurück in die Vergangenheit könnte zur Gelassenheit raten. Schließlich hat „Europa“, um bei diesem Begriff zu bleiben, zahlreiche Krisen hinter sich und ging alles in allem aus jeder Krise gestärkt hervor. Für die erfolgreiche Fortsetzung dieser Methode gibt es freilich keine Garantie, auch wenn es keinen Grund gibt, auf Untergangsszenarien zu beharren.

Allerdings ändert sich der Charakter der Krisen mit jedem weiteren institutionellen Ausbau der Gemeinschaft. Die Mitglieder der Währungsunion mögen noch einmal vor einer entscheidenden Verstärkung des Regelwerkes zurückweichen. Nach den Erfahrungen der ersten zwölf Jahre ist damit aber der Ausbruch einer neuen Krise in nicht allzu ferner Zukunft programmiert. Ob die Gemeinschaft dann unter möglicherweise noch größerem Druck bereit zu grundlegenden Reformen sein wird? Der unter den gegenwärtigen Bedingungen scheinbar unaufhaltsame Weg in weitere finanzielle Transfers wird in der Zwischenzeit wirtschaftliche und vor allem politische Spannungen in einem Ausmaß erzeugen, das den Bestand der Währungsunion umso mehr gefährden wird, je länger dieser Prozess vom unsoliden Verhalten einzelner Mitgliedsländer geprägt ist. Man könnte daher auch sagen: Die Stunde der Wahrheit ist nur verschoben.

Europäische Währungsunion: Gefahr für die Stabilität
© dpa

Otmar Issing gilt als Architekt der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und war acht Jahre lang ihr erster Chefvolkswirt.



Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Dieter Rüchel, dpa

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