Esskultur: Von der Kunst, Käse zu genießen - Nachrichten Kultur - WELT ONLINE

Esskultur

(7) Drucken Bewerten Autor: Michael Miersch| 25.09.2009

Von der Kunst, Käse zu genießen

Mehr als nur die Zugabe zum Pausenbrot: "Käse ist Kunsthandwerk", meint die Gastro-Kritikerin und Buchautorin Ursula Heinzelmann. Im Interview mit WELT ONLINE erklärt sie die Geschichte des Milchprodukts – und warum die Deutschen beim Kulturgut Käse eindeutig hintan stehen.

WELT ONLINE: Frau Heinzelmann, haben Sie eigentlich ein schlechtes Gewissen, wenn Sie Käse genießen?

Foto: picture-alliance / dpa / Stockfo/stockfood Für Ursula Heinzelmann ist Käse ein Stück Kultur. In Deutschland gibt es die erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Ursula Heinzelmann: Nein, wieso?

WELT ONLINE: Ökologen sagen, dass Kühe den Planeten stärker belasten als Autos und Industrie.

Ursula Heinzelmann: Jede Form der Landwirtschaft verändert die Umwelt erheblich. Aus Reisfeldern steigen große Mengen Methangas auf, die das Klima beeinflussen. Wenn die Natur unberührt bleiben soll, müssten wir aufhören zu essen.

WELT ONLINE: Tierrechtler beklagen, dass man, um Milch für Menschen zu gewinnen, den Kühen ihre Kälber entreißen muss. Es ist nachgewiesen, dass die Tiere unter Trennungsschmerz leiden. "Käse ist Folter" lautet ihr Slogan.

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Ursula Heinzelmann: Waren Sie mal dabei, wenn Kinder zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht werden? Da weinen auch viele Kinder und Mütter. Ich weiß, dass Käse nicht auf Bäumen wächst und habe mir alle Schritte von der Milch zum Käse dutzendfach angesehen, auch den Umgang mit den Kühen. Es ist immer eine Abwägung, was man den Tieren zumutet, die wir zur Herstellung von Lebensmitteln nutzen. Ich bin kein Veganer und finde, dass Käse ein wunderbares Produkt ist.

WELT ONLINE: Sie schreiben, Käse sei Kultur.

Ursula Heinzelmann: Ja, und das nicht nur, weil bei der Herstellung Bakterien- und Hefekulturen eine große Rolle spielen. Um einen guten Käse zu erschaffen, benötigt man viel Wissen, Erfahrung, Sorgfalt und Liebe zum Produkt. Auch Sauberkeit ist äußerst wichtig. Beim Käsemachen geht es darum, das Verderben der Milch sehr genau zu steuern. Käseherstellung ist mehr als die Anwendung von Rezepten, es ist fast schon Kunsthandwerk. Milch kann jeden Tag anders sein, das Wetter und das Futter der Tiere beeinflussen den Prozess. Dafür braucht man viel Gespür. Ein Käser muss ständig Nuancen ändern. Außerdem ist Käse noch in anderer Hinsicht Kultur. Milchwirtschaft prägt Kulturlandschaften, die für viele Menschen Heimat bedeuten. Ohne sie gäbe es keine Almen und Alpweiden, und manche Marsch an der Nordsee sähe anders aus.

WELT ONLINE: Deutschland genießt nicht gerade Weltruhm für seine Käse. Warum ist das so?

Ursula Heinzelmann: Weil in Deutschland erst sehr spät Käse in größerem Umfang erzeugt wurde. Es bedarf bestimmter ökonomischer Bedingungen, damit eine Käsekultur entsteht. Bis ins 19. Jahrhundert herrschte in den meisten deutschen Landen immer Mangel an Milch. Rinder waren in erster Linie Fleisch- und Arbeitstiere. Die Milchwirtschaft oblag oftmals den Bäuerinnen und war ein Nebenerwerb. Meist machten sie nur Handkäse aus dem Milcheiweiß, das nach dem Rahm abschöpfen in der sauren Milch übrig bleibt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu dramatischen Veränderungen. Landarbeiter wanderten ab in die Städte, dort stieg die Nachfrage nach Milch. Durch billige Importe sanken die Getreidepreise. Neue Kühltechniken wurden erfunden, die Eisenbahn ermöglichte den schnellen Transport verderblicher Ware. All das veranlasste immer mehr Bauern und Gutsbesitzer dazu, auf Milchwirtschaft umzustellen. Damals fing man auch an, Rinder gezielt auf Milchleistung zu züchten und sich Gedanken über optimale Fütterung zu machen. Die Milchwirtschaft wandelte sich von einer hauswirtschaftlichen Selbstversorgung zur kommerzialisierten Handelsbranche.

WELT ONLINE: Und ab da wurde Käse gemacht?

Ursula Heinzelmann: Nein, das dauerte noch etwas. Zunächst waren Milch und Butter so begehrt, dass es gar nicht nötig war, andere Milchprodukte zu entwickeln. Der wenige Käse auf dem deutschen Markt wurde bereits vor 100 Jahren zum großen Teil importiert. Die Käseproduktion wurde in ihrer späten Entwicklung von der Industrialisierung bestimmt.

WELT ONLINE: Warum haben Frankreich und Italien diese alte Käsekultur?

Strenger Käse und seine edlen Begleiter
Auch als Dessert schmackhaft - Guter Ziegenkäse «bockelt» nicht
Foto: picture alliance / dpa-tmn/dpa-tmn Guter Ziegenkäse ist immer ein Leckerbissen, ob als raffinierte Vorspeise oder einfach nur mit Brot und Wein.

Ursula Heinzelmann: Auch dort ist Manches gar nicht so alt, wie es scheint. Viele berühmte Weichkäse wurden erst im größeren Stil entwickelt, als die Autotouristen kamen. Die Verfasser der Michelin-Führer suchten damals nach typischen regionalen Spezialitäten, um den Reisenden Ausflugsziele empfehlen zu können. Doch die Hartkäseproduktion besitzt in den romanischen Ländern tatsächlich eine sehr alte Tradition. In kargen Regionen, die nur für Viehwirtschaft geeignet sind, musste man Wege finden, überschüssige Milch haltbar zu machen. Parmesan beispielsweise gibt es schon seit 800 Jahren. Die Grundlage der Käseherstellung, also das Eindicken von Milch mit Hilfe der Wirkstoffe aus dem Labmagen von Kälbern, kannten bereits die Römer.

WELT ONLINE: Und warum kam es dann im letzten Vierteljahrhundert doch noch zu einer deutschen Käsekultur?

Ursula Heinzelmann: Einer der Gründe ist der Milchpreisverfall. Wenn ein Rohstoff immer weniger wert ist, kann die Veredelung ein Ausweg sein. Dazu sind jedoch nur wenige bereit. Der Schritt von der reinen Viehhaltung zur vollen Verantwortung für das eigene Produkt ist gewaltig. Andere Impulse waren die Landkommunen-Bewegung der Siebzigerjahre und später die Bio-Welle. Dadurch gab es mehr Höfe mit Ziegen oder Milchschafen. Besonders die anthroposophischen Betriebe legen viel Wert auf solides Handwerk mit traditionellen Methoden. Es hat viel mit Liebe zum Handwerklichen und zu guten Lebensmitteln zu tun. Wirklich reich werden die wenigsten damit.

WELT ONLINE: Sie besuchten für ihr Buch 64 Käseerzeuger in ganz Deutschland ...

Ursula Heinzelmann: Es waren sogar weit über 100. Doch bei 288 Buchseiten zeigte mir der Verlag die Rote Karte.

WELT ONLINE: Haben die deutschen Käser etwas gemeinsam?

Ursula Heinzelmann: Gemeinsam ist den neuen deutschen Käsern eine große Freiheit. In Frankreich und Italien sind Erzeuger viel mehr an die Region und Tradition gebunden. Wenn sie etwa an der Loire Ziegen halten, dann machen sie ganz automatisch Crottin de Chavignol. Da es bei uns diese Traditionen und diese regionale Festlegung kaum gibt, müssen gute Käser sich selbst etwas einfallen lassen. Kollegen aus Frankreich beneiden sie darum zuweilen. Das zeigt sich auch an den Namen. Viele stellen ein Spitzenprodukt her und nennen es dann einfach nur "Hofkäse". Andere lassen ihrer Fantasie freien Lauf, was dann gelegentlich etwas drollig klingt.

WELT ONLINE: Wo wir gerade beim Thema Sprache sind, wie finden Sie Ihre Worte? Normalerweise werden Käse lediglich als cremig oder würzig bezeichnet - und dann hört die Beschreibungskunst schon auf.

Ursula Heinzelmann: Ich war ja mal Sommelière, da habe ich gelernt, Geschmack in Worte zu übersetzen. Es hat mir auch sehr geholfen, zusammen mit Winzern Käse zu verkosten. Metaphern aus der Musik sind oft hilfreicher als technische Beschreibungen. Käse können beispielsweise "laut" oder "leise" sein. Wie man einen Käse schildert, liegt auch an der Haltung, die man einnimmt. Ich möchte beim Schmecken nach der besonderen Qualität suchen und eine sinnliche Sprache dafür finden. Es gibt Käse-Profis, die suchen nur nach Fehlern, das führt natürlich zu einer anderen Art der Beschreibung.

WELT ONLINE: Gourmets sagen, nur aus Rohmilch kann man guten Käse machen.

Ursula Heinzelmann: Da widerspreche ich. Rohmilch ist ein Faktor von vielen. Ich habe auf meiner Reise auch erstklassige Käse aus pasteurisierter Milch kennengelernt. Wenn ich nicht weiß, wie man guten Käse macht, hilft auch Rohmilch nicht. Höchstens bei den allerfeinsten Spitzenkäsen bringt die Verwendung von Rohmilch noch das i-Tüpfelchen.

WELT ONLINE: Und das Risiko? An den Bakterien in Rohmilch sind schon Menschen gestorben.

Ursula Heinzelmann: Es ist wie bei allen Risiken im Leben, man sollte sich darüber bewusst sein. Es ist sicherlich wesentlich geringer als viele andere, die wir tagtäglich eingehen.

WELT ONLINE: Ist Biokäse grundsätzlich besser?

Ursula Heinzelmann: Nein. Bei den Höfen, die ich besucht habe, waren einige, die höchste Standards erfüllten, aber kein Bio-Zertifikat besaßen.

WELT ONLINE: Schmeckt man, ob die Tiere auf die Weide durften?

Ursula Heinzelmann: Wenn Sie mir zwei Käse vorsetzen, die gleich erzeugt worden sind, und einer davon stammt aus der Milch von Kühen, die draußen grasen durften - dann würde ich den Unterschied wohl schmecken. Stallfütterung mit Silage, also Sauerkraut aus Gras ist bei Hartkäsen sehr problematisch.

WELT ONLINE: Dürfen Kräuter oder Pfeffer in den Käse gemischt werden?

Ursula Heinzelmann: Man sollte Vertrauen in den Geschmack der Milch haben. Aber ich habe auch wunderbare Käse gekostet, die zum Beispiel mit Bockshornklee gewürzt waren. Herrlich nussig. Oft sind die Gewürze aber ein Notbehelf von Anfängern. Ich habe mal in einer Käserei im Scherz gefragt, ob sie auch mal einen Käse mit Gummibärchen gemacht hätten. Da bekam ich ganz ernsthaft die Antwort: Ja, aber die sind geschmolzen.

WELT ONLINE: Ist die Beschichtung mit Wachs Barbarei?

Ursula Heinzelmann: Auch dies kann man nicht grundsätzlich beantworten. Es gibt zum Beispiel grandiosen Gouda, dem dieses sogenannte Coating nicht schadet. Beim Gouda hat das historische Gründe. Die Höfe dort haben keine Keller, die man zur Reifung einer Rotschmierrinde braucht.

WELT ONLINE: Beim Lesen ihres Buches hat man das Gefühl, sie halten industrielle Lebensmittelerzeugung für grundsätzlich schlecht. Ist alles schlecht, was in den Supermarktregalen steht?

Ursula Heinzelmann: Nein, die Industrie hat höchste Hygiene- und Qualitätsstandards hervorgebracht. In der westlichen Welt kann sich heute jeder saubere und schmackhafte Lebensmittel leisten. Das ist ein sozialer Fortschritt. Doch wenn man große Mengen herstellt, muss man immer Zugeständnisse machen. Die einheitliche Erzeugung ist der Feind der feinen Unterschiede. Handwerkliche Produkte loten aus, was Spitzenqualität sein könnte. Sie setzen Maßstäbe.

WELT ONLINE: Ihre Vorliebe für feinste, handwerklich hergestellte Produkte können sich aber nur wenige leisten.

Ursula Heinzelmann: Das ist eine Frage der Prioritäten. Ich besitze kein Auto, keinen Fernseher, keine Geschirrspülmaschine, aber ich liebe guten Käse. Das ist für mich ein Grundbedürfnis. Liebe zu gutem Essen hat nichts mit Austern und Kaviar zu tun. Wirklicher Luxus ist für mich zum Beispiel, ein gutes Brot zu finden, das Charakter hat.

WELT ONLINE: Werden Sie eigentlich noch von Freunden zum Essen eingeladen, die nicht zur Gourmet-Elite gehören? Oder haben alle Angst vor ihrer feinen Zunge?

Ursula Heinzelmann: Es gab ein paar Jahre in meinem Leben, da war das tatsächlich ein Problem. Ich war damals mit einem sehr guten Koch verheiratet. Niemand traute sich mehr, uns zu einem warmen Essen einzuladen. Inzwischen sind meine Freunde da entspannter. Ich möchte auch nicht als die gestrenge Gastro-Kritikerin wahrgenommen werden. Und ich freue mich immer riesig, wenn sich jemand für mich an den Herd stellt.


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Hintergrund

* Die 1963 geborene Berlinerin ist gelernte Sommelière und Gastronomin und lebt in der Hauptstadt. In ihrem Buch "Erlebnis Essen. Vom Duft der Erdbeere und der Würze des Teltower Rübchens" (Scherz 2006) entdeckte sie zahlreiche vergessene Kulturpflanzen wieder.

Sie wurde mit dem Sophie-Coe-Prize in Food History und dem Prix Lanson für Weinjournalismus ausgezeichnet.

* In ihrem neuen Buch "Erlebnis Käse und Wein. Entdeckungsreise durch neue deutsche Genusslandschaften" (Scherz, 282 S., 18,95 Euro) porträtiert sie 64 einheimische Milchbauern.

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