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7. Kapitel

Die Residenzstadt als Straßenbahnunternehmer

Hatte sich die SEG in den Auseinandersetzungen im westlichen Umlandbereich schließlich voll und ganz durchsetzen können, da ihr vordringliches Ziel, die Rheinuferlinie von Schierstein bis Mainz zu betreiben, trotz langwieriger, harter Auseinandersetzungen mit der AEG erreicht werden konnte, so blieb sie an anderer Stelle allerdings nur zweiter Sieger. Betrachten wir die verkehrsmäßige Situation in den ersten Jahren nach 1900, so ist festzustellen, dass – angefangen bei Mosbach und Biebrich – mit Sonnenberg, Erbenheim und Schierstein die unmittelbaren Nachbargemeinden mit Ausnahme von Bierstadt und Dotzheim mit der Residenzstadt verbunden waren.

Resignation an Dotzheims Bahnschranke

Während der Anschluss von Bierstadt zunächst wohl noch einfach daran scheiterte, dass die extremen Steigungsverhältnisse des Bierstadter Berges mit 9,3 % nicht gerade zur Expansion verlocken konnten, führten die Bestrebungen um den Anschluss der Gemeinde Dotzheim zu offenen Auseinandersetzungen zwischen SEG und Stadt. Bereits im Vertrag von 1888 hatte sich die Stadt vorbehalten, einen eigenen Betrieb einzuführen, sofern das Konsortium nicht binnen acht Wochen seine Bereitschaft erklären würde, selbst den Ausbau vorzunehmen. Von diesem Recht wollte die Stadt nun, als – reichlich spät – die Anschlussbemühungen der Gemeinde Dotzheim erfüllt werden sollten, Gebrauch machen. Dotzheim hatte kurz nach der Jahrhundertwende immerhin fast 5000 Einwohner, die natürlich ein interessantes Potential für eine Straßenbahnverbindung zur Stadt und zum Umland bildeten. Deshalb ist es verständlich, dass die SEG diesen „Markt“ nicht kampflos der Stadt überlassen wollte.

Am 14. November 1899 teilte die Verkehrsdeputation der Stadt Wiesbaden dem Dotzheimer Gemeinderat lapidar mit, der Magistrat habe bei der Kgl. Regierung einen Antrag auf Genehmigung zum Bau einer Straßenbahn von Wiesbaden nach Dotzheim eingebracht, und fragte an, ob und unter welchen Bedingungen die Gemeinde der Benutzung ihrer Straßen zustimme. Dreh- und Angelpunkt war für Dotzheim die Linienführung über die Staatsbahntrasse hinaus bis zur Dorfmitte, während die Stadt die Endstelle am Bahnhof Dotzheim vorsah – offenbar hatte man aus dem Scheitern des Rheingau-Bahnprojektes gelernt. Als der Gemeindevorstand auf seiner Forderung bestand, schaltete sich der Landrat des Landkreises Wiesbaden, Graf Georg von Schlieffen, ein und wies die störrischen Dotzheimer auf die vielfältigen Vorteile hin, die das „größte Dorf des Nassauer Landes“ von einer guten Verkehrsverbindung zur Stadt zu erwarten habe. Die SEG sah dies wohl ebenso und pochte deshalb nachdrücklich auf ihr vermeintlich zustehende Konzessionsrechte.

Eine andere Konkurrentin aus der Zeit des Rheingau-Bahnprojekts, die Deutsche Gasbahn-Gesellschaft Dessau, hatte einen eher ungewöhnlichen Weg beschritten und in das Brockhaus-Lexikon 1898 aufnehmen lassen, dass sie die geplante schmalspurige Kleinbahn Wiesbaden–Dotzheim (3,43 km) mit Gasmotorenbetrieb einrichte. Über Absichtserklärungen war dieses Projekt aber wohl nie hinausgekommen.

Nach endlosen Streitigkeiten, die sich seit 1899 hinzogen, wurde am 11. September 1902 durch ein Schiedsgericht entschieden, dass das der SEG eingeräumte Vorrecht, neue vom Magistrat gewünschte Bahnen auf städtischen Straßen selbst zu bauen und zu betreiben, hinsichtlich der geplanten Dotzheimer Linie vom Magistrat am 3. Juni 1902 wegen Fristablaufs mit Recht für erloschen erklärt worden sei. Vom juristischen Standpunkt kann an der Berechtigung dieses Schiedsspruchs kein Zweifel aufkommen. Der Magistrat hatte wiederholt der SEG Nachfristen gesetzt, die die Gesellschaft jeweils mit der Bitte um Fortführung der Verhandlungen beantwortet hatte, ohne sich definitiv zu entscheiden. Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise wird man allerdings das Zögern der SEG verstehen. Denn die Stadt verlangte nicht mehr und nicht weniger, als dass die SEG zustimme, dass die Bahnlinie von Dotzheim bis zur ersten Kreuzung mit SEG-Anlagen am Bismarckring als städtischer Betrieb geführt werde, während die SEG lediglich das letzte Teilstück vom Bismarckring bis zur Wilhelmstraße betreiben sollte.

Die Verhandlungen mit der Gemeinde Dotzheim führten gleichfalls zu einem für die Stadt positiven Ergebnis. Am 30. April 1903 genehmigte die Dotzheimer Gemeindevertretung und am 22. Mai 1903 die Wiesbadener Stadtverordneten-Versammlung die ausgehandelten Vereinbarungen. Obwohl die Stadt nun für den Bau der Bahnstrecke freie Hand gehabt hätte und Stimmen laut wurden, „der wenig entgegenkommenden und nach allgemeiner Ansicht zu kleinlich auf ihren vermeintlichen Augenblicksvorteil bedachten Gesellschaft keine weiteren Linien mehr zu übergeben, sondern letztere in einem liberaleren Geiste selbst zu betreiben“, überwog schließlich doch eine mehr nüchterne Betrachtungsweise, die die Vorteile eines einheitlichen Betriebes durch eine Gesellschaft in den Vordergrund der Überlegungen rückte. Um aber der Stadt wesentlichen Einfluss zu sichern, sollte für Rechnung der Stadt gebaut und betrieben werden und ihr ein weitergehendes Bestimmungsrecht über Tarifsätze und Fahrpläne eingeräumt bleiben. Auf diesen Grundlagen wurde seit 1903 mit der SEG verhandelt.

Schließlich bildete die Unter- bzw. Überführung der Wiesbaden–Langenschwalbacher Eisenbahnlinie die Hauptschwierigkeit. Endlose Zeit verstrich, bis die Gemeinde das für die Straßenverbreiterung benötigte Gelände erworben hatte, und der Fluchtlinienplan für das Gebiet, in dem die Unterführung gebaut werden sollte, wurde ständig verzögert. Der Stadt waren die Hände gebunden, da die beantragte Konzession die Fortführung der Bahn über die Eisenbahnlinie vorsah. Es bestand keine Aussicht, die Genehmigung des Regierungspräsidenten zu erhalten, ehe nicht alle Einzelheiten der Trassierung geklärt waren. Andererseits brachte der Anschluss des (im Jahre 1906 fertiggestellten) Güterbahnhofs ein erhöhtes Verkehrsaufkommen, das die alsbaldige Pflasterung der Dotzheimer Straße erforderlich machte. Diese Pflasterarbeiten konnten aber sinnvollerweise erst dann aufgenommen werden, wenn gleichzeitig die Straßenbahngleise verlegt wurden. Deshalb wartete man die Klärung der noch strittigen Punkte im Dotzheimer Bereich nicht mehr ab, sondern begann im Frühjahr 1905, sobald die Witterung es erlaubte, mit der Verlegung der Gleise von der Innenstadt her bis zur Gemarkungsgrenze.

In der Sitzung der Stadtverordneten vom 5. Mai 1905 ging es hoch her, als die Dotzheimer Linie zur Debatte stand. Die SEG musste sich schwere Vorwürfe gefallen lassen, und der Stadtverordnete Hartmann stellte unwidersprochen fest, dass die „Süddeutsche“ eine Feindin der Einwohnerschaft sei. Auch hier hatten offensichtlich kleinliche Rankünen der Gesellschaft zu erheblicher Verbitterung geführt.

Inzwischen hatte man in Dotzheim aus der Aufnahme der Gleisverlegungsarbeiten den Schluss ziehen können, dass die Stadt der Fertigstellung der Straßenbahnlinie eine erhebliche Bedeutung zumaß. Um es nicht zum Äußersten kommen zu lassen, lenkte die Gemeindevertretung deshalb in der Sitzung vom 18. Mai 1905 ein und gab unter Vorbehalt aller Rechte ihre Zustimmung, dass die „Elektrische“ vorläufig nur bis zum Bahnübergang geführt würde. Während Oberbürgermeister von Ibell ein unbedingter Befürworter der Betriebsführung durch die Stadt war, blieb die Auffassung der Parlamentarier durchaus geteilt, wie sich aus dem Sitzungsbericht der Stadtverordnetenversammlung vom 5. Mai 1905 ergibt. Um aber so schnell wie möglich zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen, regte der Oberbürgermeister in der Stadtverordnetensitzung vom 19. Mai 1905 an, einen besonderen Ausschuss zu bestellen, der insbesondere die Frage der Betriebsführung beurteilen sollte. Am 15. Juni 1905 legte dieser Ausschuss seinen Bericht vor und empfahl schweren Herzens, auch den Betrieb der neuen Linie „wiederum der so oft bemängelten Leitung“ der SEG zu unterstellen. Die Stadtverordneten folgten der Empfehlung des Ausschusses, sodass es wegen der Fortführung der Bauarbeiten sowie der Betriebsführung der neuen Bahn zu einem Vertrag mit der SEG kam. Als wesentlicher Punkt des Betriebsvertrages ist zu erwähnen, dass die Straßenbahn mit den Linien der SEG gemeinsam betrieben werden sollte und die Stadt der Gesellschaft die entsprechenden Betriebsausgaben zu erstatten hatte. Hinsichtlich der Gewinnbeteiligung wurde vereinbart, dass die SEG bei einer gewissen Verzinsung des Anlagekapitals in gleicher Weise gewinnbeteiligt sein sollte wie es umgekehrt die Stadt an den SEG-Linien war. Am 19. Oktober 1905 erteilte der Regierungspräsident der Stadtgemeinde Wiesbaden die Genehmigung zum Betrieb einer für die Beförderung von Personen, Reisegepäck und Lebensmitteln bestimmten elektrischen Straßenbahn von Wiesbaden nach Dotzheim.

Die säumige Bauausführung durch die SEG wird wohl am besten daraus deutlich, dass für die letzten 1150 m vom Bismarckring bis zur Wilhelmstraße 15 Monate Bauzeit benötigt wurden. Die durchweg zweigleisig ausgebaute Bahn hatte eine Länge von 3,35 km. Zwischen Friedrichstraße und Bleichstraße wurde sie zunächst durch die Schwalbacher Straße geführt. Die Trassierung über den Boseplatz (heute „Platz der deutschen Einheit“) erfolgte erst 1926. Ursprünglich war vorgesehen, zwischen Bleichstraße und Dotzheimer Straße im Bismarckring die Gleisanlagen der SEG zu benutzen. Doch in letzter Minute entschied sich der Magistrat für eine andere Trassierung über Blücherstraße und Scharnhorststraße, sodass die in der unteren Dotzheimer Straße bereits verlegten Schienen wieder entfernt werden mussten. Man sparte so vier Weichen, minimierte denkbare Reibungspunkte mit der „Süddeutschen“ und verbesserte zugleich die Anbindung des Westend-Viertels.

Um bis zur Fertigstellung der immer noch vorgesehenen Unterführung dem Ortskern Dotzheim so nahe wie möglich zu sein, endete sie vor den Gleisen der Eisenbahn Wiesbaden–Langenschwalbach.

Am 1. August 1906 erfolgte die landespolizeiliche und eisenbahntechnische Abnahme. Um 16:00 Uhr begann die Abnahmefahrt. Zwei Stunden dauerte es, bis man die Technik geprüft und alle Haltestellen festgelegt hatte. Dass den Abnahmewagen an der Gemarkungsgrenze Blitz, Donner sowie ein starker Gewitterregen empfingen, entsprach durchaus der Gemütslage der Dotzheimer, die erst während der Abnahme erfahren hatten, dass die Haltestelle an der Ortsgrenze (Carl-von-Linde-Straße) nicht eingerichtet werden sollte. Bürgermeister Rossel und seine Mitbürger protestierten daraufhin energisch, wenn auch (zunächst) vergeblich.

In Unkenntnis dieser Auseinandersetzung hatten die Dotzheimer eine Ehrenpforte mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ errichtet, Flaggen gehisst und – ein Einfall der Gastwirte – den Abnahmewagen mit weithin hallenden Böllerschüssen empfangen. Nichtsdestoweniger bot die Endhaltestelle vor dem Staatsbahngleis einen trostlosen Anblick, der durch den Gewitterregen und die folgende Überschwemmung keineswegs gewinnen konnte. Als aber das „Wiesbadener Tagblatt“ in der Abendausgabe vom 1. August 1906 schilderte, dass die Strecke „in einem wüsten Gemisch von Sand, Steinen und Schutt“ buchstäblich im Dreck ende und der Fremde erstaunt sein werde, dicht am „glänzenden Wiesbaden“ ein so rückständiges Gebiet anzutreffen, machte sich Dotzheims Presseorgan, die „Dotzheimer Zeitung“, zum Anwalt von Dorf und Einwohnerschaft und donnerte entrüstet zurück, dass ein solches Vorurteil allein durch den Eindruck der Endstelle entstehen könne, doch dafür sollten sich „die Städter“ an der eigenen Nase nehmen. Und schließlich: „Jedenfalls ist uns unser ,rückständiges Gebiet‘ gerade so lieb wie den Wiesbadenern ihre glänzende Kurstadt“, in der auch nicht alles Gold sei, was glänze. Unsanfter Rippenstöße von auswärts bedürfe es jedenfalls nicht.

Aber nicht der äußere Anblick der Endhaltestelle war es, an dem die wohllöbliche Abnahmekommission Anstoß nahm, sondern ihre verkehrsgefährdende Lage. Wegen des nicht unbeträchtlichen Gefälles fürchtete man, dass – wie kurz zuvor im Nerotal geschehen – ein Anhängewagen beim Umsetzen von selbst in Bewegung geraten könne. Aus diesem Grunde verlangten die Vertreter der Aufsichtsbehörde die Weiterführung der Gleisanlage bis in die brettebene Seitenstraße vor dem Dotzheimer Bahnhof. Werden die Mitglieder der Wiesbadener Verkehrsdeputation diese weise Entscheidung mit Befriedigung zur Kenntnis genommen haben, so dürften die Gesichter etwas länglicher geworden sein, als die weitere Konsequenz aus der verkehrswidrigen Situation gezogen werden musste: Es wurde schlicht untersagt, die Strecke mit Beiwagen zu befahren, sodass infolgedessen nur Triebwagen eingesetzt werden durften, wobei abzuwarten war, ob der auf Beiwageneinsatz abstellende Fahrplan den Andrang bewältigen konnte.

Vernünftigerweise überließen die Teilnehmer der Abnahmefahrt diese Probleme vertrauensvoll der Zukunft und fuhren „in beschleunigtem Tempo“ zur Stadt zurück, denn der Magistrat hatte zu einem „solennen Abendessen in den Ratskeller geladen“. Beigeordneter Körner, Direktor Klisserath und der Stadtverordnete Simon Hess hielten die obligatorischen Tischreden. „Alsdann fuhren die Herren nochmals nach Dotzheim, um die dortigen Vertreter nach Hause zu begleiten, wobei sie es nicht unterließen, in den Ort, der vorläufig von den Schienensträngen noch nicht durchschnitten wird, hinabzusteigen und bei einem Glas Apfelwein noch einige Zeit zusammenzusitzen“, berichtete der „Rheinische Kurier“. Nun ja, dies war wohl die „offiziöse“ Version. Ergänzend eruierte die „Dotzheimer Zeitung“, dass einige der Gemeinderatsmitglieder nach dem Festessen die Ehrengäste mit einer spontanen Gegeneinladung bedacht hätten, wonach die ganze Korona mit dem Extrawagen wieder nach Dotzheim fuhr und – gleich neben der Endstelle – bei Carl Schauß in der „Schönen Aussicht“ einkehrte, „wo es noch sehr fidel zuging“. Übereinstimmend berichten beide Zeitungen dann, dass der Extrawagen nachts gegen 1:00 Uhr wieder gen Wiesbaden rollte, „wo er die einzelnen Herren, ihrem Wunsche gemäß, auch außerhalb der vorgesehenen Haltestellen ihrem Schicksal überließ“.

Die Bahn wurde am 2. August 1906 in Betrieb genommen. Erst im folgenden Jahr, als man erkannt hatte, dass die Bemühungen der Gemeinde Dotzheim um die Realisierung der Unterführung nicht sehr weit gediehen waren, verlegte man den Endpunkt in die Straße zum Dotzheimer Bahnhof, wo ein Aufstell- und Betriebsgleis gebaut und am 29. Oktober 1907 in Betrieb ging. Die Linie wurde im 7-Minuten-Verkehr betrieben, wie es mittlerweile bei der SEG allgemein üblich war. Bis zur Anschaffung eigener städtischer Wagen im Jahre 1910 stellte die SEG die erforderliche Zahl von Triebwagen.

Die Fahrgastzahlen der ersten Betriebsjahre gibt der Verwaltungsbericht der Stadtgemeinde Wiesbaden wie folgt wieder:

1906/07:

1,002 Mio Fahrgäste

1907/08:

1,754 Mio Fahrgäste

1908/09:

1,825 Mio Fahrgäste

1909/10:

1,919 Mio Fahrgäste


Schon in diesem letzten Berichtsjahr konnte die Stadt einen bescheidenen Überschuss von rd. 5000 Mark erwirtschaften.

Über den Bierstadter Berg

Zwar hatte die Stadt bereits 1899 zugleich mit der Dotzheimer Linie vorsorglich die Konzession für die Vorortlinie nach Bierstadt beantragt, aber als sich die Bierstadter Gemeindevertretung am 21. Oktober 1901 für eine Direktverbindung über den Bierstadter Berg aussprach, reagierten die Wiesbadener Kommunalpolitiker ungehalten und weigerten sich vorläufig, die Konzessionserteilung zu betreiben. Doch die Bierstädter behalfen sich auf eine ausgefallene Art und Weise: Privatleute, die das endlose Hin und Her zwischen den Nachbarn leid waren, ergriffen die Initiative und sorgten dafür, dass mit einem Pferde-Omnibus eine Verkehrsverbindung zwischen dem Gasthaus „Taunus“ und der Englischen Kirche an der Wilhelmstraße hergestellt wurde. Seit 1. August 1904 verkehrte der von drei Pferden gezogene Planwagen sieben bis acht Mal täglich. Bierstadts Narren spotteten in der 1905er Fastnachtskampagne:

„Wie se an die Englisch Kerch sin kumme,
do kimmt en Schutzmann gleich gesprunge:
,Ich muß hier meines Amtes walte,
hier dürfe kaa Zigeuner halte!‘
Do sagt de Kutscher mit Verdruß
,Ei, des is doch de Bierstadter Omnibus!‘“

Am 10. Januar 1907 kam zwischen Wiesbaden und der Gemeinde Bierstadt der Vertrag zustande, der die Voraussetzungen schuf für die Verlängerung der Dotzheimer Linie bis zum Kirchplatz in Bierstadt, der als Endpunkt festgelegt wurde. Auch die Aufsichtsbehörde hatte unkonventionell auf die Wiesbadener Taktik reagiert und die SEG mit der Ausarbeitung des von der Stadt vernachlässigten Projekts beauftragt. Das half – die Stadt lenkte ein. Dies wiederum war Anlass für die SEG, nichts unversucht zu lassen, die Realisierung unter städtischer Regie vielleicht doch noch zu hintertreiben. Insbesondere die notwendige Kreuzung ihrer über die Wilhelmstraße führenden Gleisanlagen gab ihr dazu Gelegenheit, sodass die Wiesbadener Stadtverordneten schließlich geneigt waren, sogar eine – betriebstechnisch unsinnige – Kopfstation an der unteren Frankfurter Straße hinzunehmen, um nur endlich die SEG ausmanövrieren zu können. Doch es tauchten plötzlich neue Schwierigkeiten auf, weil der Regierungspräsident die Erteilung einer Konzession zunächst verweigerte. Die Aufsichtsbehörde wies darauf hin, dass sowohl technische wie verkehrstechnische Schwierigkeiten vorlägen, welche einen Straßenbahnbetrieb auf einer Steigungsstrecke von 9,3 % nicht ratsam erscheinen ließen. Daraufhin machte sich eine Deputation von Stadtverordneten und Mitarbeitern der Verwaltung auf und untersuchte in 8 Städten in West- und Süddeutschland zwischen Aachen und Augsburg die technischen Bedingungen von Steilstrecken hinsichtlich der Verkehrs- und Steigungsverhältnisse, wobei selbst die Auswirkungen des Laubfalls nicht außer Acht gelassen wurden. Das Ergebnis war, dass die Bierstadter Steigung ohne Bedenken durch die Straßenbahn erschlossen werden könne. Die Stadt Wiesbaden musste dennoch erst einen Gutachter bemühen, der sie bei der Beschwerde beim Preußischen Minister für öffentliche Arbeiten unterstützte und am 20. November 1907 ein positives Gutachten abgab. Flankierend war es am 20. April 1907 zu einer spektakulären Aktion gekommen: In der Bierstadter „Rose“ verabschiedete eine Volksversammlung eine von 708 Bürgern unterzeichnete Resolution, eine sog. „Immediateingabe“, die dem in Bad Homburg weilenden Kaiser Wilhelm II. übersandt wurde und dessen Unterstützung für das Bahnprojekt erbat. Diese Intervention und das Gutachten verfehlten offensichtlich in Berlin ihre Wirkung nicht, denn der Regierungspräsident erteilte am 28. September 1908 die Genehmigung für die Straßenbahn nach Bierstadt, und zwar für die „Beförderung von Personen, Gepäck-, Expreß- und Marktgut mittels elektrischer Kraft“. Wegen der über 9 %igen Steigung in der oberen Bierstadter Straße mussten die Wagen der Straßenbahn mit drei Bremsen ausgerüstet sein, und zwar mit einer Handklotzbremse, einer Kurzschlussbremse und einer elektromagnetischen Schienenbremse. Und noch einmal kam es zu einer überraschenden Alternativlösung: Im Oktober 1908 ersetzte ein hochmoderner „Autobus“, der vorher in Bad Schwalbach eingesetzt worden war, das Bierstadt-Wiesbadener Pferdegespann. Doch als die Benzinkutsche allzu oft streikte, hatten die Fassenachter wieder ein Thema:

„Mit unserer elektrisch Bahn
Do kann mehr immer noch nit fahn,
Am beste is, mehr gehe hin
Unn kaafe uns en Zeppelin.
De Auto-Omnibus, Ihr wißt
Was deß vorn alte Stinkert ist,
Er gab’s Geschäft jo aach bald uff
Er kam net ganz de Berg enuff.“

Und seit 10. Juni 1909 trabte erneut der letztlich doch zuverlässigere Pferdebus seine fahrplanmäßigen Kurse, bis die „Elektrische“ ihn ablöste.

Ende September 1909 begannen die Gleisverleger an der Frankfurter Straße, zwei Monate später erreichten sie die Gemarkungsgrenze. Dann entstand die Kreuzung mit dem SEG-Doppelgleis in der Wilhelmstraße. Am 16. März 1910 konnte die landespolizeiliche und eisenbahntechnische Abnahme der Neubaustrecke erfolgen.

Am 19. März 1910 war ganz Bierstadt auf den Beinen, um mitzuerleben, wenn die erste Bahn offiziell „de Berch enuff“ kam. Am Kirchplatz empfingen Bürgermeister Hofmann und die beiden Pfarrer Jäger und Urban inmitten einer begeisterten und in Hochrufe ausbrechenden Menge gegen 11:00 Uhr die beiden Triebwagen – die einzigen, die die Stadt damals besaß, – mit den Ehrengästen aus Wiesbaden. Und dann wurde im „Bären“ gefeiert, wobei beide Bierstadter Männerchöre – und einem Ondit zufolge auch der nassauische Heimatdichter Rudolf Dietz – mitwirkten.

Die Strecke war insgesamt 3,19 km lang. Am unteren Ende der Friedrichstraße wurde sie mit der Dotzheimer Bahn verbunden, kreuzte die Wilhelmstraße und die dortigen SEG-Anlagen und führte dann über den Bierstadter Berg bis zum Kirchplatz der Gemeinde Bierstadt. Im Gegensatz zu der Bahn nach Dotzheim wurde sie nur eingleisig ausgeführt. Sie hatte jedoch 5 Ausweichstellen und ein Umsetzgleis an der Endhaltestelle, sodass auch hier 7-Minuten-Verkehr möglich war.

Da die kleinen Wagen der SEG technisch nicht für die Bewältigung der Steilstrecke ausgerüstet waren, hatte die Stadt zunächst zwei Probewagen beschafft, die die erforderlichen Bremseinrichtungen besaßen. Die elektromagnetische Schienenbremse war beidseitig zwischen den Rädern etwa 10 mm über den Schienen aufgehängt und wurde durch den elektrischen Strom mit einer Kraft von 2 x 3000 kg auf die Schienen gepresst. Nachdem Versuche ergeben hatten, dass die Wagen auch bei schneller Fahrt in der gefährlichen Steigungsstrecke auf eingefetteten Schienen nach 5–10 m zum Stehen gebracht werden konnten, war man von ihrer Tauglichkeit überzeugt und beschaffte 10 weitere Wagen dieser Bauart. Vom Ergebnis dieser Probefahrten berichtet die Tochter des Stadtverordneten Baurat Fischer, der sich engagiert für das Bierstadter Projekt eingesetzt und auch an der Reise der Deputation teilgenommen hatte, sehr anschaulich: „Unvergeßlich bleibt mir der Vormittag, an dem mein Vater von einer Probefahrt kam, den steifen Hut ganz „verdellert“ in der Hand, eine Beule an der Stirm, strahlend ins Zimmer trat und triumphierend erklärte: „Jetzt sind endlich die letzten Zweifler davon überzeugt, daß die Bremsen tadellos funktionieren! Sofort stand der Wagen auf der stärksten Steigung! Die ganze Prüfungskommission ist bei dem Ruck mit den Köpfen zusammengeprallt und zum Teil sogar hingepurzelt!“ Für diesen Sieg nahm mein Vater gern die Beule in Kauf. Am Einweihungstag aber trug auch noch so mancher „ungläubige Thomas“ unter den Stadtvätern den „Garantieschein“ für schnelle Bremssicherheit in Form von blauen Flecken mit sich herum“. Die neuen Wagen hatten – im Gegensatz zu denjenigen der SEG – Quersitze und vollständig herablassbare Fenster, sodass sie im Sommer wie offene Wagen fahren konnten. Während die Wagen der SEG nur 32 Plätze hatten, fassten die neuen städtischen Triebwagen 40 Personen. Sie wogen 12 t und hatten zwei Motoren, die ihnen bei je 40–45 PS auf der horizontalen Strecke rd. 30 km/h und auf der 9 %igen Steigung 17 km/h Geschwindigkeit erlaubten.

1912 und 1928 wurden jeweils drei weitere Triebwagen erworben, sodass die Städtische Straßenbahn schließlich über 18 Triebwagen verfügte. Die ersten fünf Beiwagen kamen 1911. Der Bestand erhöhte sich 1925 um zwei und 1927 um fünf auf zusammen 12 Beiwagen. Durch die Beschaffung dieses eigenen Wagenparks war es notwendig geworden, sich auch betriebsmäßig von der SEG zu lösen. An der Bleichstraße, neben der ehemaligen „Hauptwache“, wurde eine Wagenhalle gebaut, die 21 Wagen aufnehmen konnte. Die Halle hatte eine kleine Werkstatt für Wartungsarbeiten. Umfangreichere Reparaturen jedoch wurden nach wie vor im SEG-Depot durchgeführt. Der regelmäßige Fahrbetrieb wurde morgens um 7:00 Uhr aufgenommen und endete um 21:00 Uhr. Vorher verkehrten jedoch bereits Arbeiterzüge sowie spät am Abend noch Theaterwagen.

Im Übrigen baute man 1912 das in einer Weiche zusammenlaufende Stumpfgleis an der Bierstadter Endstation zu einer vollständigen Ausweiche aus, um das Umsetzmanöver mit Beiwagen beschleunigen zu können.

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