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"Weshalb propagieren Sie rezeptfreie Suizidmethoden?"

Peter Baumann

Der Psychiater Peter Baumann, Autor von "Suizid und Suizidhilfe", stellt sich den Fragen von Otmar Hersche.

 

Das Basler Strafgericht hat Sie im Juli 2007 wegen fahrlässiger Tötung und Beihilfe zur Selbsttötung zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt, zwei davon bedingt. Sie haben dieses Urteil in einem Rundbrief Ihres Vereins "SuizidHilfe" als Schandurteil bezeichnet.

 

"Schandurteil" ist natürlich ein emotionsgeladenes Wort. Aber nicht nur ich, sondern Fachleute verschiedenster Sparten, auch namhafte Strafrechtler, schütteln den Kopf. Einige Stichworte: Schon die verschleppende Untersuchung durch den Staatsanwalt und durch die Gerichtsmedizin waren skandalös, entlastende Fakten wurden ignoriert, entlastende Untersuchungen unterlassen. Dazu kam die Art, wie der Gerichtspräsident aus einem Arzt mit 40-jähriger Berufsbewährung einen Trottel machte, aus einem Arzt nota bene, dem ein gründliches psychiatrisches Gutachten bescheinigt, dass er keine Abartigkeiten, Störungen oder Abbauerscheinungen aufweist, dagegen einen schönen Strauss positiver Charakterzüge. Dieser angebliche Trottel glaubte nach Ansicht des Gerichts das Ergebnis seiner "dilettantischen Diagnostiziererei" sogar noch selber und tötete deshalb bloss fahrlässig und nicht vorsätzlich. Die sehr groben Mängel des gerichtsmedizinischen Gutachtens wurden beiseite gewischt, ebenso das glasklare Gegengutachten, das exakt zur gleichen Beurteilung kam wie ich. Bezüglich selbstsüchtiger Motive war die Begründung ebenso wenig nachvollziehbar.

 

Haben Sie im Sinn, gegen das Urteil zu appellieren? Was spricht dafür, was dagegen?

 

Dafür spricht, dass dieses falsche Urteil und das ihm zugrunde liegende Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin Basel nicht Rechtskraft bekommen dürfen. Das wäre praktisch das Ende jeder offenen geordneten Suizidbeihilfe für nicht körperlich Todkranke, es wäre faktisch wie eine Änderung des Strafgesetzbuches ohne Parlamentsbeschluss, ausschliesslich durch Experten- und Richterrecht. Als ob es im Strafgesetz hiesse "Beihilfe zum Suizid ist nur für Ärzte straffrei.". Es wäre eine bürgerrechtliche, menschenrechtliche und arztrechtliche Katastrophe. Es würde auch bedeuten, dass der Begriff Urteilsunfähigkeit allgültig und damit wertlos würde. Es würde heissen, dass jeder Arzt im Prinzip bei jeder Äusserung von Suizidabsichten zur Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung verpflichtet wäre, statt wie heute nur berechtigt. Das wäre schon deshalb eine Idiotie, weil solche "Notfälle" in der Regel am Folgetag wieder entlassen werden. Und es wäre Mord am Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.

 

Dafür spricht, dass der Staat meine Kosten übernehmen muss bei einem Freispruch, statt mir die seinen zu überbürden, und dass neun Monate Gefängnis kein Schleck sind. Ob auch meine Ehre es verlangt? Vielleicht könnte ich mit intaktem Ehrgefühl ins Gefängnis und wieder heraus, wenn ich weiss, dass das Urteil falsch war, und warum. Und dass immer etwas kleben bleibt, könnte ich wohl auch verkraften in meinem Alter.

 

Dagegen spricht die Stimme, die sagt: "Lass jetzt sein, du hast deine Sache gemacht, das Weitere sollen andere tun. Und wenn sie es nicht wollen, warst du offenbar zu früh."

 

In "Suizid und Suizidhilfe" fordern Sie eine enge Umschreibung der Begriffe "psychisch krank" und "urteilsunfähig". Nun bringt das Bundesgerichtsurteil vom November 2006 in Ihrem Sinn eine wesentliche Korrektur, die Ihnen aber offensichtlich nicht genügt. Weshalb nicht?

 

Das erwähnte Urteil setzt Urteilsfähigkeit voraus. Jetzt muss noch ergänzt werden, wie diese heute zu umschreiben ist, d. h. wie der Begriff "geisteskrank" des Strafgesetzbuches (neu voraussichtlich "psychische Störung") zu fassen ist. Es gilt zu differenzieren, zwischen dem akut Verwirrten, der von Stimmen gejagt wird, und einem, der seit langer Zeit psychisch schwer leidet und dabei eingeordnet sein Leben meistert. Urteilsfähigkeit voraussetzen und sie umschreiben sind die zwei Seiten einer Sache. Ausserdem bezieht sich das Urteil nur auf ärztliche Suizidbeihilfe, und fordert dafür ein vertieftes psychiatrisches Gutachten.

 

Sie sind gegen jede Art ärztlicher oder staatlicher Einmischung, was das Thema Suizidhilfe betrifft, und propagieren sogar rezeptfreie Suizidmethoden. Nehmen Sie dabei in Kauf, dass, wer sich für eine solche Methode entscheidet, ohne Begleitung und Unterstützung bleibt, selbst wenn sich eine technische Störung, ein psychisches oder somatisches Problem ergibt?

 

Da habe ich mich zu wenig verständlich gemacht. Ich bin keineswegs gegen die ärztlich mögliche Suizidbeihilfe. Diese ist jetzt perfekt und weise geregelt. Aber der Staat soll nun auch im nichtärztlichen Bereich darlegen, unter welchen Voraussetzungen eine vereinfachte Überprüfung möglich ist, wie er das für die körperlich Todkranken mit EXIT getan hat, und seine Kontrollen angemessen durchführen. Ich propagiere nicht, sondern beschreibe einfach kritisch die bekannten Suizidmethoden. Dass viele Menschen ohne Begleitung und Unterstützung bleiben müssen, ist eine Tatsache, ob ich sie in Kauf nehme oder nicht. Und einzelne beschriebene Methoden überzeugen ja gerade dadurch, dass selbst Fehlmanipulationen fast unmöglich zu Schaden führen.

 

Sie argumentieren in Ihrem Buch radikal "individualethisch". Dabei klammern Sie nach meiner Auffassung die sozialethische Dimension weitgehend aus. Jedes Individuum steht doch in einem sozialen Umfeld und jeder "Suizid-Fall" in einem politischen Kontext. Warum haben Sie diese Zusammenhänge, die Sie ja aus Ihrer Praxis bestens kennen, ausgeklammert?

 

Natürlich ist eine reife Entwicklung des Sterbeentschlusses und eine Auseinandersetzung mit dem sozialen Feld wie mit sich selber wünschbar. Jeder verantwortungsbewusste Gesprächspartner wird sich dafür einsetzen, ja sein weiteres Dabeisein davon abhängig machen. Aber dass der einzelne Sterbewillige letztlich radikal individualethisch ("ich mit meinem Umfeld") entscheidet, ist nicht zu beanstanden. Der Frage, wie die grundlegenden religiösen Zusammenhänge gesehen werden, habe ich mich im Buch bestmöglich gestellt.

 

EXIT hat eine bestimmte Theorie und Praxis in der Freitod- Begleitung entwickelt. Sie gehen mit Ihrem Verein den eigenen Weg. Wie sehen Sie das Verhältnis der beiden Organisationen?

 

Was EXIT von seiner statutarischen Selbstverpflichtung nicht realisiert (aus verständlichen Gründen), ist die Sterbehilfe bei psychisch Kranken mit unerträglichen Beschwerden. Dafür müssen andere Wege gefunden werden - auch die neu mögliche ärztliche Beihilfe für einzelne psychisch Kranke kann (und soll!) da nie genügen. Dann denke ich, dass die legitimen Suizidhilfebedürfnisse der Gesellschaft wohl kaum je durch Organisationen geleistet werden können - das müssten ja riesige, fast halbstaatliche Gebilde sein, was niemand will. Deshalb ist ein Hauptziel meines Vereins SuizidHilfe die Verbreitung von Wissen: Zum einen durch mein Buch, das ich gerne als Lehrmittel verstehe, dann vielleicht auch durch Selbsthilfegruppen. Ob sich der Verein nach Ende des Prozesses mehr zum Angebot von Sterbebegleitungen hin entwickeln soll, werden meine Nachfolger erarbeiten. Jetzt sind die Mitglieder überwiegend EXIT-Mitglieder, denen das Anliegen, das ich auf einem Informationsblatt an der EXIT-GV 2003 darstellte, einleuchtete. Ich denke, dass EXIT keine Monopolstellung will, dass seine Kräfte beschränkt sind, und dass für beide reichlich Platz und Arbeit bleibt. EXIT ist prima und unendlich kostbar. Ein Spross aus einem Samen von EXIT, dieses Bild gefällt mir. Vielleicht übernimmt EXIT das von uns Vorbereitete eines Tages, und wir können unseren Verein auflösen.

 

Otmar Hersche

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