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30. September 2011, 13:54, NZZ Online

Abschied von Europa

Schweizer Politiker entfernen sich immer stärker vom EU-Beitritt

In der Schweiz sinkt die Bereitschaft, der EU beizutreten, markant. (Bild: Imago)Zoom

In der Schweiz sinkt die Bereitschaft, der EU beizutreten, markant. (Bild: Imago)

In ihrem «Vertrag mit dem Volk» wehrt sich die SVP gegen einen EU-Beitritt. Das ist derzeit kaum nötig, immer mehr Politiker haben sich in den letzten Jahren von einem Beitritt zur Union abgewendet. Selbst zwischen der Deutschschweiz und der Romandie ist man sich näher gekommen.

Urs Bloch

«Der EU-Beitritt wird nicht thematisiert, aber klammheimlich vorangetrieben. Sowohl Bundesrat wie Parlament sind nach wie vor sehr europhil», sagte SVP-Präsident Toni Brunner, nachdem seine Delegierten den «Vertrag mit dem Volk» verabschiedet hatten, gegenüber der NZZ. In diesem Vertrag steht als erster von drei Punkten: «Wir wollen der Europäischen Union nicht beitreten».

Die Realität sieht anders aus

Die SVP ist hier konsequent. Sie hat in den letzten Jahren bei jeder Gelegenheit gegen die EU und einen möglichen Beitritt der Schweiz zur Union politisiert. Auf der Suche nach Wahlkampfthemen versucht die Parteileitung, diesen Reflex unter ihren Wählern nun wieder zu aktivieren.

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Die Realität sieht derzeit aber etwas anders aus. Die EU war während des bisherigen Wahlkampfs – der ohnehin zwischen den unterschiedlichsten Themen oszillierte – kaum ein Thema. Das ist nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Gruppe der EU-Befürworter in den letzten Jahren deutlich kleiner geworden ist. Der Trend geht durch alle Parteien, wie ein Blick auf die Auswertung der elektronischen Wahlhilfe Smartvote zeigt. Vor acht Jahren hielten sich Befürworter und Gegner eines EU-Beitritts in der Schweiz noch die Waage, heute liegt die Zustimmung hochgerechnet noch bei 20 Prozent.

Sämtliche grossen Parteien haben sich in den letzten acht Jahren deutlich von einem EU-Beitritt oder möglichen Beitrittsverhandlungen verabschiedet. Konstanz gibt es einzig bei der SVP, deren Kandidaten sich bereits 2003 sowie 2007 praktisch geschlossen und in diesem Jahr zu 100 Prozent gegen die EU aussprachen.

Erklärung zur Tabelle: 0 Punkte: Nein zum EU-Beitritt, 100 Punkte: Ja zum EU-Beitritt. (Bild: Smartvote)Zoom

Erklärung zur Tabelle: 0 Punkte: Nein zum EU-Beitritt, 100 Punkte: Ja zum EU-Beitritt. (Bild: Smartvote)

Fast identische Fragen

Die Politologen der Wahlhilfe Smartvote erstellten von den Kandidierenden ein politisches Profil aufgrund eines Fragebogens, den die Politikerinnen und Politiker selbst ausfüllen. Im Bereich der Aussenpolitik hiess die Frage im Jahr 2003: «Soll die Schweiz der EU beitreten?» 2007 lautete sie: «Soll die Schweiz innerhalb der nächsten fünf Jahre EU-Beitrittsverhandlungen aufnehmen?» Und dieses Jahr: «Soll die Schweiz innerhalb der nächsten vier Jahre EU-Beitrittsverhandlungen aufnehmen?». Obwohl die Fragen nicht ganz identisch sind, bleibt der Kern identisch und die Antworten somit vergleichbar.

Selbst die SP und die Grünen

Die Antworten der Kandidaten wurden folgendermassen gewertet: Nein = 0 Punkte, Ja = 100 Punkte, eher Nein = 25 Punkte und eher Ja = 75 Punkte. Aus den teilnehmenden Kandidaten wurden dann die Mittelwerte pro Partei berechnet. Am klarsten ist die Situation bei der SVP. Sie verschob sich von 2,7 Punkten im Jahr 2003 auf 0 Punkte in diesem Jahr. Am anderen Pol steht die SP. Deren Kandidaten befürworteten den EU-Beitritt im Jahr 2003 noch mit 93,9 Punkten, heute sind auch die Sozialdemokraten wesentlich skeptischer – der Wert ist auf 60,4 Punkte gefallen.

Die Abkehr von der EU grafisch dargestellt. (Bild: Smartvote)Zoom

Die Abkehr von der EU grafisch dargestellt. (Bild: Smartvote)

Deutlich ist die Entwicklung auch bei den Grünen. Die Partei war vor acht Jahren noch positiv eingestellt gegenüber einem EU-Beitritt (82,6), acht Jahre später überwiegt die Ablehnung (45,3). Schliesslich hat der EU-Beitritt bzw. Beitrittsverhandlunen auch bei den Mitteparteien CVP und FDP nicht mehr viele Anhänger. Unter den Freisinnigen sank die Zahl von 43,6 Punkte auf 4,9 und in der CVP von 44,4 auf 8,2 Punkte. Wenn auf FDP-Wahlplakaten somit für den bilateralen Weg und gegen einen EU-Beitritt geworben wird, hat dies unter den freisinnigen Kandidaten durchaus ein tragbares Fundament.

Unterschiedlich grosse Streuung

Interessant ist ein Blick auf die Streuung der Anworten innerhalb der Parteien. Hier treten die CVP und die FDP heute deutlich geschlossener auf als noch vor acht Jahren. In der gleichen Zeit sind die Meinungen innerhalb der SP und der Grünen weiter auseinander gegangen.

«Le Röstigraben n'existe plus»

Ein Blick auf die Sprachregionen zeigt schliesslich, dass der Röstigraben in der EU-Frage praktisch zugeschüttet ist. Gab es im Jahr 2003 unter den Kandidierenden in der Romandie noch eine Zustimmung zur EU (69,1 Punkte), so ist diese Euphorie inzwischen der Skepsis gewichen. Heute gibt es für Beitrittsverhandlungen noch schwache 27,2 Punkte. In der Deutschschweiz ist der Mittelwert von 48,5 Punkten (2003) auf 18,7 Punkte (2011) gesunken.


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10 Leserkommentare:
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Gerold Wirth (30. September 2011, 18:03)
@RUEDI DURRER

Ahem, das war eher "Basta" Schröder, der gute Dr. Kohl hat mit der Wiedervereinung und der 1:1 Konvertierung der Mark schon genug angestellt, aber immerhin den Beweis erbracht, dass Transferzahlungen nichts bringen und "blühende Landschaften" nicht herbeifinanziert werden können. So wird wohl das Euro Abendteuer (speziell für die SNB und somit uns) spannend bis grauslig werden. Wann werden die einzig übriggebliebenen "Zahlmeister" auf die Knie gehen? - Um mit Herrn Schäffler (FDP) zu sprechen; wohl bald. Wir Indianer sollten uns fernhalten....

Ruedi Durrer (30. September 2011, 17:44)
@Gerold Wirth

Richtig! Und der gleiche Kohl hat den heutigen Chabis angerichtet, indem er nicht warten konnte mit der Einführung des Euro's. Er wusste auch ganz genau, dass Griechenland die Kriterien für eine Aufnahme nicht erfüllte. Aber er konnte die Griechen nicht draussen lassen, da sie Deutschland selbst nicht erfüllte und hätte bestraft werden müssen, wie kurze Zeit vorher die Portugiesen. Deshalb ist er heute so ruhig geworden.

Gerold Wirth (30. September 2011, 16:59)
Ja, ja die EU und wir Indianer in unserem kleinen Reservat

Ja, das waren noch Zeiten als man mir in Genf nach der EWR Ablehnung auf meinen Wagen spukte (er hatte damals noch Zürcher Nummern), inzwischen sind auch die kühnsten Welschen ruhiger geworden, da sie sich das tägliche EU Drama zu Gemüte führen können.
Zum Thema "Die EU wird uns immer aufnehmen wollen" möchte ich den verstorbenen Nicolas G. Hayek im Orginalton zitieren:
" Chancellor Helmut Kohl for whom I worked as a member of his strategic industrial Committee for Germany, honored me with a private visit in Switzerland. During this visit he said “Nicolas Hayek, you have some credibility with the people of Switzerland. Why don’t you help convince them to join the EU?” I answered “Chancellor, why is it so important for the EU to have tiny – seven and half million – Switzerland on board?” And his answer came without hesitation and faster than a bullet “because you have a hell of a lot of money that we plan to put to good use”."
Na also sagt wohl alles...

Matthias Eichenseer (30. September 2011, 16:57)
.....oder anders herum, bald wird sich die EU nicht mehr für die CH interessieren

Unsere Wirtschaft basiert in Teilen auf Steuerflucht für reiche Europäer mittels Bankgeheimnis oder Firmen die ihre Holdings in Zug oder Genf domizilieren. Das Bankgeheimnis ist schon fast erledigt, der Besteuerung von ausländischen Holdings wird es uns sicher nicht besser ergehen. Nachher bleibt von der Schweiz wo doch alles besser ist als in der bösen EU nicht mehr viel übrig. Der Vorteil des EU-Binnenmarktes ohne die Nachteile der EU- Zahlungsverpflichtungen wird die EU auf lange Frist sicher auch nicht mehr dulden. Die Schweizer Politik und zunehmend die Bevölkerung haben sich lange für ganz schlau gehalten, ich denke das böse Erwachen kommt in den nächsten Jahren. Flaues Wachstum und zurückgehende Steuereinnahmen neben ausbleibender Gewinne der Nationalbank für die Kantone und ein Stellenabbau internationaler und einheimischer Konzerne aufgrund von zu hohen Lohnkosten und eines ungünstigen Wechselkurses des Frankens werden die Agenda der kommenden Jahre bestimmen.

Igor Bandalo (30. September 2011, 16:56)
Es GIBT KEIN EU Beitrittsgesuch!

Nur weil man es mehr wiederholt, wird es nicht richtiger. Es gibt kein EU Beitrittsgesuch der Schweiz. Es GAB ein Gesuch um Aufnahme zu Verhandlungen zur EWG, der Vorgängerorganisation. das wäre ja, als wenn sich Palästina um die Aufnahme im Völkerbund bemühte! Also bitte, lasst der SVP ihre Lügen, aber ich erwarte hier etwas mehr Sachkenntnis. Jeder der wegen einem fiktionalen EU Beitrittsgesuch SVP wählt sollte für unmündig erklärt werden. Wir haben genug reale Probleme in diesem Land, die fähiger Leute und umsetzbarer Lösungen bedürfen.

Patrizia Casadei (30. September 2011, 16:34)
Verwickelt, nicht entwickelt

Wie schreibt Monsieur Melzer so schön, "Und die EU entwickelt sich weiter, ...".
Naja, man(n) muss schon ein besonders rosarotes Nasenvelo tragen, um so eine Schlussfolgerung aus dem EU-Chaos herleiten zu können. Mit dem Wort "weiterentwickeln" wird den LeserInnen etwas zukünftig Positives suggeriert. Also wirklich, - trotz des traumhaften Wetters -, welche Schweizerin oder welcher Schweizer möchte sich denn ernsthaft von der Papandreou-Berlusconi-Zapatero Combo ihre/seine Lebensplanung zerstören lassen ?

Lukas Vogel (30. September 2011, 16:27)
Vielleicht liegts auch daran

dass die Europäische Union nicht als demokratisch empfunden wird. Einzig das Europäische Parlament wird durch eine Wahl besetzt. Das sagen hat jedoch die EU-Kommision, welche durch die Regierungen der Mitgliedsländer ernannt wird. Meine deutschen Freunde meinen zur EU: gut gemeint, schlecht umgesetzt.

Baldini Frescobaldo (30. September 2011, 15:59)
@ Herr Moser

Lieber Herr Moser die 70% wovon Sie sprechen sind bereits zufrieden mit einer "institutioneller Anbindung", d.h. unsere Gesetze machen ungewählte Bürokraten in Strassburg oder Bruxelles.
Auch ist es mir weiterhin rätselhaft warum dann der Beitrittsgesuch nicht zurückgezogen wird, da er m.E. nach nachhaltig die Schweizer Verhandlungsposition schwächt.
Die EU wird uns immer aufnehmen wollen, auch wenn wir jetzt mal das Gesuch zurückziehen, auch wenn dies wohl die EU alt aussehen lassen würde.

Helmut Melzer (30. September 2011, 14:34)
EU Panik gesteut von der SVP

Die SVP macht mit einem fiktiven EU Beitrittsthema Stimmung und geht auf Stimmenfang, dabei gibt es in der Schweiz gar keine Partei die sich mit einem solchen Thema befasst. Selbst die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sind fast schon als eisig zu bezeichnen. Da läuft fast nichts mehr, neue Abkommen sind nicht in Sicht und wie es mit den Bilateralen weitergehen soll steht auch noch nicht fest. Also was soll die Panik mache der SVP? Hier wird ein Thema bewirtschaftet, welches gar kein Thema ist in der Schweiz, aber dies ist typisch für die SVP.
Sowieso würde ein EU Beitritt heute für die CH mit viel mehr Hürden verbunden sein als noch vor Jahren, seit es den Lissabonvertrag gibt muss jedes neue Mitglied z.B. den EURO übernehmen (nur ein Beispiel). Und die EU entwickelt sich weiter, dies schon auf Grund der Krisen die sie zu bewältigen hat.

Roland K. Moser (30. September 2011, 14:12)
Vor den Wahlen will niemand in die EU

und nach den Wahlen wollen 70 % des PL in die EU.

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