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Samstag, 29. Oktober 2011
Das sanfte Lächeln des Wahnsinns

Jetzt neu eingetroffen: vierzig Jahre altes Lächeln aus den Archiven!

Brian Wilson, der Friedrich Hölderlin der Popmusik, bringt mit vierzig Jahren Verspätung das mythenumrankte Album SMILE heraus, das ihn und seine Band, die Beach Boys, buchstäblich in den Wahnsinn trieb.

Es muss ein Torso bleiben: die ehrlicherweise so genannten SMILE Sessions versammeln in ausufernder Sammelwut alles Material, das sich zwischen 1966 und 1967 in den Studios aufhäufte. Wer sich in der Musikpresse und auf einschlägigen Fanzirkeln im Internet einliest, erfährt von Marihuana-Zelten und tonnenweise LSD-Lieferungen, einem Klavier im Sandkasten und Session-Musikern mit Feuerwehrhelmen.

Um nur die grundlegenden Rahmeninformationen zu dem reichlich mit Legenden belegten „größten unveröffentlichten Pop-Album aller Zeiten“ zu liefern: Die Beach Boys hatten mit ihren Surf-Schlagern Mitte der sechziger Jahre den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht. Wer bei der kalifornischen Band nur an Sonnenschein und Surfin’ U.S.A. denkt, tut ihr Unrecht – das Familienunternehmen hatte mit Brian Wilson einen kreativen Kopf, dem 1966 das Album Pet Sounds entsprang. Symphonischer Pop, komplexe Arrangements, vielschichtiger Harmoniegesang: Ein Meilenstein, den mit Surfer-Romantik allein noch das in Musik verewigte Bild unschuldiger Teenager-Seligkeit verbindet.

Da scheint es schwer, noch einen draufzusetzen, noch dazu, wenn kurze Zeit später eine gewisse Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band ins Horn stößt. Brian Wilson, großer Bewunderer der Beatles, machte sich zusammen mit Texter Van Dyke Parks an SMILE. Man ahnt es, die Geschichte geht nicht gut aus. Eine „teenage symphony to God“ mit Vaudeville- und Barockanklängen, einer Suite an die vier Elemente, schlichtweg die Neuerfindung einer genuin „amerikanischen Popmusik“: Das kostete nicht nur die Plattenfirma die Nerven, sondern auch Kreativ- und Wirrkopf Wilson den Verstand. Die traurige Geschichte des sanften, verkannten Genies, das im Drogen- und Alkoholrausch versank, muss anderswo erzählt werden. Sichtlich gezeichnet, aber immer noch da, kann dieser Friedrich Hölderlin des Pop nun selbst die aus den Originalbändern zusammengestellte letztgültige Fassung des natürlich größten Pop-Albums aller Zeiten präsentieren. Und das, was man da zu hören bekommt, ist tatsächlich in den schlimmsten Momenten Vorbote des Wahnsinns, der Wilson bald heimsuchte. In den schönsten Momenten aber dann doch eine Ahnung dessen, was man sich wohl unter der fixen Idee der „teenage symphony to God“ vorstellen muss:
Surf’s up
Aboard a tidal wave
Come about hard and join
The young and often spring you gave
I heard the word
Wonderful thing:
A children’s song.
The Beach Boys: The SMILE Sessions. Als CD, Doppel-CD, Box-Set und Doppel-Vinyl erhältlich. Capitol Records 2011.

 
Mittwoch, 21. September 2011
Auf einmal ist alles wieder da

Wie eine Flaschenpost, die auf ein ein imaginäres Ziel hinschwimmt: Märzwald.

Zwischen Sehnen und Verschwinden: Ulrike Almut Sandig und Marlen Pelny unternehmen eine musikalische Reise in den Märzwald und kartografieren das unerforschte Gebiet zwischen Traum und Wirklichkeit.

Märzwald, augenzwinkernd als Dichtung für Freunde der Popmusik betitelt, ist die gelungene Fortführung der künstlerischen Projekte dieser beiden Dichterinnen: Ulrike Almut Sandig trägt ihre Gedichte, zuletzt erschienen in dem Band Dickicht, ohnehin schon mit großem musikalischen Gespür vor, sei es durch bewusstes Heben und Senken der Stimme, Anklänge an ein Kinderlied oder gezielt eingesetztes Ein- und Ausatmen an signifikanten Stellen. Marlen Pelny wiederum veröffentlichte dieses Jahr ihr Soloalbum Fischen, in dem sie Melodie und Text in sensible Popsongs verwandelt.

Auf dem nun erschienenen Album gehen Ulrike Almut Sandig und Marlen Pelny ein im besten Sinne schillersches Vorhaben an: Mit ruhiger Stimme und sanftem Rhythmus vorgetragen, von einer akustischen Gitarre oder einem Loopsound unterlegt, entsteht in diesen Gedichten eine Ahnung von Schönheit, dem ästhetischen Zustand als Ruhepol zwischen allen Empfindungen nicht unähnlich. Klang und Form bilden an den gelungensten Stellen eine untrennbare Einheit, die wie eine Flaschenpost auf ein imaginäres Ziel hinschwimmt und gleichzeitig fest auf literarischem Grund verwurzelt ist: Sehnsucht nach Ferne („in dir die Nadel, die zittert und immer hinzeigt nach Norden“) und Trauer über Verlust („verloren ging mir ein Freund, dem ich weh getan hatte“), die in ganz einfacher Sprache formuliert werden, beschwören eine berückend ursprüngliche Melancholie herauf.

Melancholie in der Form von Wissen um die Unerreichbarkeit einer Sehnsucht oder einen unwiederbringbaren Verlust stellt sich bei fast allen dieser vertonten Gedichte ein. Aber dabei bleibt es nicht: Auch das etwas aus der Mode gekommene romantische Projekt, nämlich die Vereinigung einer in viele Einzelteile zersplitterten Welt, die sich selbst verloren gegangen scheint, wird durch diese Melancholie in Gang gesetzt: In den Gedichten ist, wenn wir sie hören, ja auf einmal alles da, auch das, was verschwunden ist. Das zeigt sich vielleicht am besten im Stück „so habe ich sagen gehört“, das ganz ohne musikalische Elemente auskommt:
hab sagen gehört, es gäb einen Ort
für alle verschwundenen Dinge, wie

die verschiedenen Sorten von Äpfeln
die Clowns und die Götter, darunter

auch jenen guten Gott von Manhattan
Karl-Marx-Stadt und Konstantinopel

Benares und Bombay und die Namen
von zu vielen Braunkohledörfern

befänden sich, so habe ich sagen gehört
in der Mitte des Weißtannenwalds

der jede Schallwelle schluckt. der Ort
wär, so habe ich sagen gehört
auf keiner gültigen Karte verzeichnet.
Dass diese Kunst sich ihrer selbst stets bewusst ist („aber immer diese traurigen, traurigen Gedichte“, spricht es einem an einer Stelle entgegen), macht sie nur noch überzeugender: Ulrike Almut Sandig entwirft gewissermaßen realistische Traumlandschaften, die sich echt anfühlen – und dadurch in der Lage sind, eine greifbare, emotionale Heimat zu bilden. Als Musikstücke rücken diese Gedichte aber noch ein Stück weiter in die flüchtige Gegenwärtigkeit des Pop (und damit ist der augenzwinkernde Untertitel gar nicht so abwegig). Der Märzwald ist nur da, solange der CD-Spieler läuft, und dann, ebenso wie so viele der Dinge, die in ihm passieren – verschwunden.

Ulrike Almut Sandig/Marlen Pelny: Märzwald. Dichtung für die Freunde der Popmusik. Audio-CD, Spielzeit 47 Minuten. Schöffling & Co. 2011, 14,95 €.

 
Freitag, 9. September 2011
Tausche Frohsinn gegen Schwermut


Die erste Band auf dem Mond kommt auf die Erde zurück: Mit Long Gone Before Daylight wurden die Cardigans erwachsen. Und mit ihnen ihre Fans. Eine Erinnerung.

Um die Veränderung auszudrücken, die dieses Album bedeutete, genügt es allein schon, Nina Perssons Haarfarbe zu beschreiben: Als blondes, blauäugiges Schweden-Klischee sang sie sich durch die ersten drei Alben. Dann griff sie zur Tönung und trat im neuen Musikvideo „For What It's Worth“ mit kohlrabenschwarzem Haar auf.

Nichts könnte den Wandel besser verdeutlichen, den die Cardigans mit Long Gone Before Daylight durchmachten. Hatten wir nicht alle das fröhlich-trällernde „Lovefool“ der first band on the moon in den Ohren und verbanden damit toll gemachten, aber letztlich doch nur seichten Radiopop?

Doch wir waren gewarnt worden: Schon auf dem Vorgänger Gran Turismo, namentlich der Single „My Favorite Game“ lernten wir eine andere, experimentierfreudige Seite unserer Lieblingsradioband kennen. Aber wer hätte jemals mit einem so dramatischen Bruch gerechnet, wie ihn Long Gone Before Daylight bedeutete? Jeder zweite Song eine Gitarrenwand, sogar Nikke Andersson von den wüsten Hellacopters war rekrutiert worden, dazwischen dramatische Balladen, die in ihrer Tiefe und Ernsthaftigkeit an Songwriter der Siebziger Jahre erinnerten. Und Texte, so traurig, dass man darin versinken wollte:
With a sampled heartbeat and a stolen soul
I sold my songs to have my fortune told
And it said
You should know that love will never die
But see how it kills you in the blink of an eye
Irgendetwas musste passiert sein, das ausgelassenen Frohsinn gegen eine unergründliche Schwermut ausgewechselt hatte. Wir waren erst überrascht, dann geschockt und begeistert. Und sind es bis heute.

 
Mittwoch, 17. August 2011
Kuhpfade und Kopfhörer-Soldaten


Ein Erinnerungskünstler wird ins Gedächtnis gerufen: Michael Krüger setzt Seamus Heaney in einer üppigen Anthologie ein Denkmal zu Lebzeiten.

Wer sich für eine deutsche Ausgabe der Gedichte von Seamus Heaney interessiert hat, war bisher auf Ausgaben angewiesen, deren neuester Stand bei 1998 liegt. Das hat sich jetzt geändert: Mit Die Amsel von Glanmore liegt seit diesem Monat eine schöne Auswahl quer durchs Gesamtwerk vor.

Zwischen Torf, Froschlaich und ausgetretenen Kuhpfaden wird einer zum Dichter: Da quakt und platscht es, so dass man sich am liebsten in den nächsten Flieger nach Irland setzen würde. Dass man aber gerade in der Zeit der blutigen IRA-Konflikte nicht nur beschauliches Landleben besingen konnte, zeigt spätestens der Teil Field Work:
One morning early I met armoured cars
In convoy, warbling along on powerful tyres,
and camouflaged with broken alder branches,
And headphoned soldiers standing up in turrets.

Einmal frühmorgens traf ich Schützenpanzer
Im Konvoi einherträllernd auf mächtigen Reifen,
Alle getarnt mit gebrochenen Erlenzweigen,
Und Kopfhörer-Soldaten, die aus Türmen ragten.
Zeit, Seamus Heaney zu entdecken: Mit diesem Band kann es losgehen!

Die Amsel von Glanmore. Gedichte 1965-2006. Zweisprachige Ausgabe, herausgegeben von Michael Krüger. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 2011. 428 Seiten, 16,99 €.

 
Sonntag, 7. August 2011
Schimmernder Dunst über Leif Randt

Die schimmernde Oberfläche des Romans: in echt noch silberner!

Blut im Wasser in Coby County: Leif „Fitzgerald“ Randt schaut mit seinem gefeierten neuen Roman über die Schulter in die Zukunft.

Dass Schimmernder Dunst über Coby County pünktlich zum Erscheinen von allen großen Zeitungen rezensiert wird, ist eine gute Nachricht für den Berlin Verlag, der sich größte Mühe gegeben hat, den lang erwarteten zweiten Roman von Leif Randt bis in die Herstellung hinein (s.o.) zu einem Ereignis zu machen. Auf einige doch gar zu augenfällige Parallelen haben aber weder FAZ („Dieses schmale, sehr kluge, hellwache Buch“), SPIEGEL („Wohlstands-Wellness-Welt“), noch die Berliner Morgenpost („ein hochbegabter Oberflächenbetaster“) hingewiesen.

Ist Wim Endersson, wohlstandsgepäppelter Jung-Literaturagent mit Selbstzweifeln, nicht ein ferner Gruß an F. Scott Fitzgeralds Nick Carraway, der das Treiben im East Egg als teilnehmender Beobachter mitmacht und ins Nachdenken gerät? Ist nicht gerade das phantastisch anmutende East Egg aus dem Great Gatsby eine wunderbare Vorlage für das sterile Coby County, in dem Wim Endersson und Wesley Alec Prince ein dekadent-gedämpftes Partyleben führen?
It was a matter of chance that I should have rented a house in one of the strangest communities in North America. Twenty miles from the city a pair of enormous eggs, identical in contour and seperated only by a courtesy bay, jut out into the most domesticated body of salt water in the Western hemisphere, the great wet barnyard of Long Island Sound.
Die kühle Sprache, junge amerikanische Intellektuelle, natürlich stinkreich, und nicht zuletzt elegante Aufmachung beider Bücher weist auch auf das gar nicht so lang zurückliegende Blut im Wasser von Alexander Schimmelbusch zurück, ebenfalls ein Text, der für seine Welthaltigkeit, stilistische Präzision und hochsensible Beobachtungsgabe gelobt wurde.
Die Kälte der Luft, die in mein Gesicht weht, tut mir gut; die Lebenszeichen meines Körpers stabilisieren sich. Für einen Augenblick halte ich inne, im tiefen Schnee auf der Plattform, die flach über der Wiese schwebt, und versuche, mir den Ablauf der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zu rufen: ohne Ergebnis.
Zwei Empfehlungen zum Neu- und Wiederlesen also, denn einen Nachteil hat Schimmernder Dunst über Coby County dann doch: Man hat die knapp 200 Seiten an einem Tag durch.

 
Donnerstag, 28. Juli 2011
Das traurigste Album des Jahrzehnts

Songs wie ein sepiafarbener Schleier: Ausschnitt aus dem Albumcover

Bei manchen Alben dauert es eben etwas länger, bis sie sich in den Gehörgängen festgesetzt haben. „The Meadowlands“ von The Wrens ist ein solches Album.

Veröffentlicht bereits 2003, ist es erst jetzt der Redaktion von The Daily Frown in die Hände gefallen. Und ohne zu übertreiben könnte man es als Anwärter für das traurigste Album des Jahrzehnts ins Rennen schicken: Traurig nicht nur die Entstehungsgeschichte, war es (einen ähnlichen Schicksalsschlag erlebten ja Wilco mit dem nun epochalen „Yankee Hotel Foxtrot“) der Plattenfirma zu unkommerziell für eine Veröffentlichung und nach einigem Hin und Her dann doch mit mehrjähriger Verspätung in die Läden gekommen. Traurig in bester Hinsicht auch die Songs, die einer um den anderen wie der sepiafarbene Schleier des Albumcovers die Themen Verlassenheit, Erschöpfung und – natürlich – Liebeskummer umkreisen:
„And now you’re sorry/For the things you did to me/I want you to know/I feel I was the one who/got used and used to/just about anything you would tell me“
Da möchte man doch im tiefsten Brunnen versinken, das Leben aussperren und die Kopfhörer fester auf die Ohren drücken: Danke, liebe Wrens, für dieses Album! Besser spät als nie: Unser Tipp für die gepflegte Sommer-Depression.

The Wrens: The Meadowlands. 13 Tracks, 56:13 Min. Absolutely Kosher Records 2003, Eine Hörprobe gibt’s hier.

 
Sonntag, 24. Juli 2011
Mord in den Highlands


Literatur bei The Daily Frown: Heute mit Zoë Beck, die einen Thriller über Mord in den schottischen Highlands geschrieben hat: Der frühe Tod wird derzeit auf bilandia.de von ihr selbst im Video vorgestellt und verlost.

Nur eine Hand ragte aus dem Ufergestrüpp hervor, sein Ehering funkelte im noch schwachen Licht. Weiterlaufen!, rief ihr die Stimme zu, aber sie bog stattdessen die Zweige auseinander, um ihn sich näher anzusehen. Lauf weg!

Sein rechtes Bein zeigte zum Wasser, der handgenähte schwarze Schuh berührte die Wasseroberfläche. Das linke Bein war angewinkelt, der Schuh fehlte. Beide Arme waren vom Körper abgespreizt, als hätte er sie hochgerissen. Sie stieß ihn mit der Spitze ihrer Laufschuhe vorsichtig am Rumpf an, um den letzten Zweifel auszuräumen. Geh, bevor dich jemand sieht!

Sie blieb. Behutsam schob sie das Geäst weiter zur Seite und sah in sein Gesicht. Er lag auf dem Rücken, das Jackett offen, die Dior-Krawatte verrutscht, die Augen geöffnet, den Blick nicht auf sie, sondern zur Seite gerichtet, weil sein Kopf nach links gedreht war.

Sein Mund stand offen, und Caitlin konnte die Zunge sehen. Ihre Augen wanderten zum Hals und zu den schmalen, dunkel verfärbten Striemen. Sie wollte sich hinabbeugen, schreckte aber zurück, als vor ihr etwas in die Luft stob.

Zoë Beck wurde 1975 geboren und arbeitete als Dramaturgin und Autorin bei Theater und Film. Heute ist sie als freie Autorin, Redakteurin und Übersetzerin tätig. Ihr neuester Roman Der frühe Tod erscheint diesen Juli.

 
Samstag, 16. Juli 2011
Satus Katze

Nachtszene im Limingantulli-Bezirk, Oulu, Finnland (Foto: Estormiz)

Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit einem Auszug aus dem Roman Satus Katze von Constantin Göttfert.

An jenem Abend im Februar hatte ich die Katzen im Müllbeutel gesehen. Im Schein der Laternen glänzten die mit Streusplitt überzogenen Straßen, und wieder zog der süßliche Geruch der Maische von den Papierfabriken in die Stadt. Ich hörte das Heulen der Schneepflüge, deren rote Blinklichter in regelmäßigen Abständen auf dem Schnee zuckten, in der Ferne rauschten unsichtbare Züge. Als es in der Küche meiner Nachbarin wieder hell wurde, verließ ich die Wohnung.

Im Gemeinschaftsraum am Ende des Ganges saßen die Studenten auf Kunstledermöbeln vor dem Fernseher. Sie waren betrunken, dabei eigenartig ruhig, manche blickten wie konzentriert vor sich hin, einer stützte sich an der Wand ab und starrte auf das Poster. Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass es jener war, der mir von Dr. Karjalainens Abtreibung erzählt hatte, aber er schien mich nicht zu erkennen.

Der Fernsehbildschirm zeigte den Sänger einer Metalband, der Ton war abgeschaltet. Jemand lachte, aber es war leise wie das heimliche Kichern eines Kindes in einer Kirche.

Schon im Hof glaubte ich das Schreien aus dem Container zu hören. Der Schnee hatte die Scheiben der Laternen verklebt. Von irgendwo hörte ich Rufe, ein Mann stand mit seinem Hund an der Kinderschaukel im Hof und wartete, bis das Tier sein Wasser gegen den vereisten Standfuß abgeschlagen hatte.

Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne waren die Deckel der Müllcontainer wieder festgefroren, ich streckte beide Arme hinein; mit nackten Fingern und ohne nachzudenken zog ich Müllsäcke heraus, Pappkartonschachteln, Eierschalen, zerbrochenes Geschirr. Ich fand ein gefrorenes Stück Brot, ein Stoffschuh war in der Mitte zerrissen, in anderen Säcken waren Bierdosen.

Bald war der Schnee von Müllflüssigkeit braun verfärbt, auf dem Gehweg türmten sich Essensreste und Plastiksäcke. Irgendwo hatte ich mich geschnitten, aber meine Finger waren gefroren und steif, von der klebrigen Flüssigkeit verfärbt. Aus einem der Container hörte ich nun deutlich das leise Schreien einer jungen Katze.

Constantin Göttfert wurde 1979 geboren und lebt als freier Schriftsteller in Wien. Er studierte Germanistik in Wien und besuchte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm der Erzählband In dieser Wildnis. Satus Katze, sein erster Roman, erscheint in diesem Monat.

 
Sonntag, 10. Juli 2011
Und zum Umgang mit Gefühlen

Der Wald auf dem Üetliberg bei Zürich

Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit sechs Prosa-Miniaturen von Judith Keller.

Ablauf

Seit einer Woche schrie jemand in der Nähe. Die Schreie kamen jede Nacht in unregelmässigen Abständen. Karl konnte nicht schlafen. Gestern, als er nach Hause kam, stand ein schwarzer grosser Wagen vor dem Wohnhaus. Er hört seitdem keine Schreie mehr; sie fehlen ihm jetzt, um schlafen zu können.

Übung

Lieselotte sagte nie nein. So geschahen mit ihr bedenkliche Dinge. Ein Psychologe schliesslich riet ihr, das nein zu üben wie eine Vokabel. Nach einigen Sitzungen stellte er ihr die Aufgabe, in ein Schuhgeschäft zu gehen, dreissig Paar Schuhe anzuprobieren und zu jedem Paar und zu der Verkäuferin nein zu sagen. Lieselotte ging in das Geschäft und kaufte dreissig Paar Schuhe. Sie reihte sie neben dem Eingang auf. Jetzt steht sie davor. Sie weiss nicht weiter.

Kunst

Patrick studiert Kunst. Auf einem seiner Bilder steht: ich liebe meine Eltern. Alle finden das lustig. Aber Patrick meint es ganz ernst.

Anton Früh

Auf dem Kapf erschoss sich Geografielehrer Anton Früh am Abend des dritten Juni 1958.
Onkel Andreas sagt, Geografielehrer Früh habe die Alpenbildung mit einer Serviette nachgefaltet.
Onkel Peter sagt, vor den Geografiestunden bei Herrn Früh habe er aus Angst nicht schlafen können.
Onkel Reinhard sagt, Anton Früh sei vor Schmerz zusammengezuckt, wenn ein Schüler eine Hauptstadt nicht wusste.
Onkel Peter sagt, es war dieser Hass über die Unwissenheit.
Onkel Andreas sagt, es war diese Mangel an Relation.
Onkel Reinhard sagt, es war dieses Ausschliessliche.
Am Nachmittag des dritten Juni 1958 hatte man beobachtet, wie Geografielehrer Anton Früh ein Paar Gartenhandschuhe für vier Franken und dreissig Rappen stahl. In wenigen Stunden wusste es das ganze Dorf.
Aber noch davor bestieg Anton Früh den Hügel namens Kapf und schoss sich in den Kopf.

Frau März

Frau März entfernt mit dem Tintenkiller die Fehler im Diktat der Drittklässler. Die Eltern freuen sich über die positive Entwicklung ihrer Kinder. Die Elterngespräche verlaufen fröhlich, die Begabung der Kinder spiegelt sich wider in jedem Diktat. Bald wird Frau März ihre Stelle verlieren. Es liegt an einem misstrauischen Vater, der sein Kind dasselbe Diktat noch einmal schreiben lässt, um zwanzig Fehler zu entdecken. Frau März wird vor vielen Menschen aussagen: Ich habe Zuversicht streuen wollen, um sie später zu ernten. Wegen ihrer süssen, lieben Stimme hatte man Frau März eigentlich schon vorher alles zugetraut.

Literatur

Der Junge kam herein und setzte sich an den Tisch. Es gab sein Lieblingsessen, aber er sprach kein Wort. Plötzlich, nachdem er sich langsam eine Pommes in den Mund geschoben hatte, begann er zu weinen. Als ihm seine Mutter über den Kopf strich, verdeckte er sein Gesicht mit seinen Armen und schluchzte. Sie war keine Mutter, die viele Fragen stellte, wir aber wissen, dass er um Winnetou trauerte, der auf Seite 474 starb.

Judith Keller wurde 1985 in Lachen (CH) geboren und ist in Altendorf am Zürichsee aufgewachsen. Sie studierte zwei Semester Germanistik in Zürich, dann Literarisches Schreiben in Biel und Leipzig. Im Moment macht sie den Master in Deutsch als Fremdsprache an der FU Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Edit.


 
Sonntag, 26. Juni 2011
Adjektive im Sand, Schwarze Löcher im Neuschnee

Leuchtturm in Montauk, Long Island, New York (Foto: Tim Hettler)

Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit Momentaufnahmen von Kathrin Bach. Ein Auszug aus dem Text away/home.

away

wenn es stürmt, sind zuerst die promenaden leergefegt. wir rauben mit unseren blicken die schaufenster der inselboutiquen aus. du kaufst dir einen sandfarbenen blouson, ich stehe auf seepferdchen.
wenn wir nicht schlafen können, scheint der mond. wir sind ebbe und pfeifen auf den wind. der kommt durch alle ritzen und quellt die bettdecken auf. algen sind das neue kaviar, flüstere ich dir ins ohr. du kicherst, bevor du schweigst. sollte ich vor schnupfen schnarchen, lauschst du mir stumm.

unsere haut schält sich unregelmäßig. wir stecken uns blaubeeren in mundhöhlen und deine haut ist street art. ich schau dir und deinen kreuzworträtseln zu, eine insel mit vier buchstaben. die haut wird eingerieben, die adresse nicht verraten. wir telefonieren bloß aus der zelle.
wir lutschen austern und haben scampis zu knabbern. die sonnenmilch klebt uns aneinander, wir suhlen uns im sand. unsere zigarettenspitzen sorgen für romantik bei sonnenuntergang und achtzehn grad in dünennähe. als highlight besteigen wir leuchttürme und wetten um wolken. ich gewinne.

du verlierst bei backgammon und deinen sonnenhut. wenn du lachst, bin ich dabei. mein i-phone empfängt dein lachen und überregionale radioprogramme. wir schreiben keine e-mails, bloß adjektive in den sand. die möwen sind eiskugeldiebe, wir räuber und gendarme. wir schließen freundschaft per morsecode.
zur unterhaltung gibt es mittagsmagazin und kaugummiblasen. ich stech dir mit dem zeigefinger in kirschgeschmack, du kicherst über die ard-dame im kostüm. von der langeweile kaufen wir uns dvdreihen und kartenspiele. du ziehst die buben, ich schau dir in die karten.

du willst eine möwe mit nach hause nehmen, wir einigen uns auf federn und polaroids vom fliegen. wir machen alles nochmal zum letzten mal und zählen laut mit. zum letzten mal vanilleeisflecken auf t-shirtstoff. zum letzten mal modellflugzeuge und sagrotan. ich streichle deinen po.
in unsere koffer rieselt sand. wir nehmen mit, was wir kriegen können und bestellen uns ein taxi. der fährhafen macht uns den abschied schwer, wir werden sentimental. als ohrwurm seemannslieder und möwenchor. wir biegen um die insel, verschütten milchkaffee auf der fähre und winken.



home

die räder deines fahrrads waage-, der schnee rieselt senkrecht. du schiebst das rad, ich trage handschuhe. fäustlinge in schneebeige, wir benutzen fußgängerampeln. bei grün stellst du fragen, die mit punkten enden. es juckt unter meiner mütze. nebeneinander her laufend bis zum nächsten kiosk, dann wird geteilt:
vollmilchschokolade, das grüne feuerzeug.
du lehnst das rad gegen die mauer und deinen körper gegen speichen und kettenblätter. während wir rauchen, lauschen wir bauarbeiten. ein ohrwurm des presslufthammers und du wirfst zigarettenstummel in richtung des schnees. funkenschlag im gesichtsfeld, schwarze löcher im neuschnee.

werden wir nach dem weg gefragt, tust du isländisch. ich stottere navigation. halten wir uns an den handschuhen, sehen wir nach 21.märz aus. im februar beginnen die pollen mit ihrem flug, sagst du. sogar die kioskbesitzer sagen du, wir lesen biete & suche im dialog. die stimmen an den haltestellen ein hörspiel, wir haben den gleichen heimweg.
ich deute auf straßenlaternen, penthousebalkone im gehen. wenn du zwinkerst, blendet die sonne, der schnee unter den füßen. wir, gefüttert, stapfen synchron durch schneemassen über sieben zentimetern. du unterbrichst mich beim zuhören, ich frage nach enten am tauenden flussufer. nach dem doppelpunkt wirfst du krumen von der brücke. dein lachen eiskonfekt.

wir schauen in die auslagen der souvenirläden und zeigen mit der ganzen faust auf dosenöffner und einwegkameras. wir, gespiegelt im glas, sehen uns im winter ähnlicher.
ich halte das rad fest, du gibst zwei euro zu viel aus für eine kirchturmminiatur, bronzefarben. die drückst du mir in die faust, dann dreht sich das reifenprofil durch hundekot.

wir frieren zusammen, bis zum dritten haus auf der rechten seite. im hausflur riechen wir salamipizza, trinken den letzten schluck aus den glasflaschen und stoßen mit den oberarmen aneinander.
zuhause ist, wo dein aquarium steht. das wasser leuchtet, die fische haben namen und flossen. wir haben zwei zimmer, küche, bad. gehen wir schlafen, läuft gegenüber noch der fernseher. gehen wir aus dem haus, nimmst du das rad, ich adidas-turnschuhe. in unserer küche riecht es nach frühstück.

den hellsten fisch nennst du alaska, wir verzichten auf kosenamen und partnerlook im schlafzimmer. stattdessen lache ich über deine witze, du kochst besonders gerne pasta à l´arrabiata.
ich kann dein lieblingslied auswendig, du bist gegen karaoke. zum einschlafen dein schnarchen und im drehen auf die andere seite ab und zu großstadtlichter.

Kathrin Bach wurde 1988 geboren und studiert zur Zeit in Hildesheim Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Sie schreibt Prosa und Lyrik und war dieses Jahr Finalistin beim Prosanova-Literaturwettbewerb. Gedichte von ihr kann man im Poetenladen lesen.

 
Sonntag, 19. Juni 2011
Die perfektionierte Aristotelik

William Faulkners Reiseschreibmaschine (Foto: Gary Bridgman)

Im Handbuch des Nonlinearen Erzählens berichtet Tobias Hülswitt über seine Erfahrungen mit dem Korsakow-Programm, das die Produktion nicht-linear erzählter Filme ermöglicht. Zum Auftakt der neuen Reihe Literatur bei The Daily Frown, in der Autoren selbst zu Wort kommen sollen, spricht er mit uns über die Evolution des Erzählens und unsere narrativen Gewohnheiten.

Wie bist du eigentlich auf Zygmunt Haupt gekommen? Beim Lesen des Auszugs aus Ein Ring aus Papier habe ich mich plötzlich an ähnliche Leseerlebnisse erinnert, die ich damit in Verbindung bringe. Zum Beispiel Noch einmal für Thukydides von Peter Handke. Aber je länger man darüber nachdenkt, desto mehr Beispiele fallen einem ein, da würde man dann ganz schnell auch bei Faulkner und Kafka oder sowieso Alfred Döblin landen, der ja als Mediziner seine Dissertation über die „Korsakoffsche Psychose“ geschrieben hat.

Die Verbindung zu Kafka sehe ich eigentlich nicht. Wo siehst du sie genau?

Ich dachte an die Editionslage vom Prozess, dessen Kapitelreihenfolge ja nicht genau festlegbar ist, was kürzlich in einer Hörspielbearbeitung so übernommen wurde, dass man pro Kapitel eine CD aufgenommen hat und diese in beliebiger Folge hören kann. Diese Idee fand ich sehr schön. Bei dem zitierten Buch von Peter Handke gibt es diese Beobachtungsprosa, die auf oft nur zwei Seiten etwa eine Schneeflocke oder einen Baum beschreibt. So hat er das aber davor und danach leider nicht mehr gemacht.

Ja, richtig, die Kapitelreihenfolge vom Prozess stand ursprünglich nicht fest. Das technische lineare Medium Buch hat zur Festlegung gezwungen. Nun kommt das technisch nonlineare digitale Medium und ermöglicht die Darstellung in der beabsichtigten nichtlinearen Form. Das ist ein wunderschönes Beispiel für das, was ich meine, wenn ich sage, dank des Computers können wir die Zettel des Zettelkastens in die Luft werfen und durch die Zettelwolke spazieren, ohne das ein Zettel verloren geht. Das digitale Medium ist die Bindung der Wolke.

Zu Thukydides: Genau, Autoren machen das einmal, dann wenden sie sich wieder den marktgängigen Formen zu, weil diese Beobachtungen nicht belohnt werden. Man bringt ihnen in unserer Kultur Respekt entgegen und versteht sie als Ausweis des Könnens des Autors, der Autorin, aber keine monetäre Wertschätzung. Das gleiche trifft ja auch für die Lyrik zu. Man verstehe mich nicht falsch, ich will nicht lamentieren! Mich interessiert daran, was es über die Denkgewohnheiten und Denkmöglichkeiten unserer Gesellschaft aussagt. Von Peter Handke habe ich nur einmal Die Angst des Tormanns beim Elfmeter angefangen. Da ist ja schon der Titel verkehrt, denn der Tormann hat beim Elfmeter keine Angst, sondern nur der Schütze. Das Buch fand ich dann allerdings spitze, bis zu der Stelle, an der klar wird, dass die Hauptfigur jemanden umgebracht hat. Da habe ich das Buch direkt in die Ecke gepfeffert: Aha, doch nur ein Trick, um einem wieder etwas Unerhörtes unterzujubeln, eine Kuriosität. Besonders fies, wenn es so gut begonnen hat. So etwas findet man bei Haupt nicht. Da wird nichts untergejubelt, keine literarischen Überwältigungsstrategien werden gefahren. Und doch gibt es ein Feuerwerk, ein Feuerwerk an Dingen, an erinnerten Details, an vergehender Welt. Das ist viel berührender als alle schönen Stories aller Zeiten zusammen.
Der Aufbau und der Rhythmus der Erzählung machten mir Spaß, aber gleichzeitig wurde ich mißtrauisch. Das ist nicht das Leben, dachte ich. Das ist nicht die Wahrheit. Das Leben kann nicht eine fortlaufende Kette schön komponierter Phrasen sein, das wäre zu einfach und sicher auch zu langweilig, das Leben ist nicht eine Reihe von Ursachen und Folgen, eine Serie von Prämissen, aus denen hübsche runde Schlußfolgerungen entstehen, es ist auch kein Material, das einer bestimmten Funktion dient und auch nicht eine Art Monogramm.

(Zygmunt Haupt: Ein Ring aus Papier)
Auf Haupt bin ich durch Andrzej Stasiuk gestoßen, wenn ich mich recht erinnere, oder zufällig, ich weiß es nicht mehr.

Vielleicht ist ja das non-lineare Erzählen sogar so alt wie das Erzählen selbst, wenn man etwa an Laurence Sterne denkt.

So ist es. Aristoteles disst es bereits in seiner Poetik: Episoden und Geschichten, die sich unzusammenhängend um einen Helden organisieren, zum Beispiel Herakles, hält für das Schlechteste, was Erzählung hervorbringen kann. HBO mit seinen Serien wäre bei ihm durchgefallen.

Du sagst aber doch in deinem Buch, alle Drehbuchautoren in Hollywood seien knallharte Aristoteliker. Aber da muss man wieder zwischen Erzählen im Kinofilm und seriellem Erzählen unterscheiden, oder?

Klar, serielles Erzählen ist TV, Sender wie HBO. Es kommt darauf an, wo man die Kritik ansetzt. Arbeiten Serien auch mit den Techniken des Fesselns, Bannens, Mitreißens? Natürlich. Arbeiten Sie mit Figuren, die Menschen repräsentieren sollen? Klar. Bauen Sie Illusion auf, ohne ihre Konstruktion zu zeigen? Selbstverständlich. Wenn man also Fundamentalkritik betreiben will, könnte man sie ideologisch auseinandernehmen. Aber auf die gleiche Weise könnte man den Ulysses auseinandernehmen. Allein schon wegen dem Problem der Repräsentanz. Aber trotzdem bieten Serien oft ein anderes Bild der Realität, ein zugleich verwobeneres, was die Handlung betrifft, und entzerrteres, was das Vergehen der Zeit betrifft. Das ist der technischen Grundlage geschuldet. Der Film kommt in seinen 90 oder 120 Minuten, wenn er linear erzählt sein will, zwangsläufig auf die perfektionierte Aristotelik zurück.
Die Fabel des Stücks ist nicht schon dann – wie eine einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt undendlich vieles zu, woraus keinerlei Einheit hervorgeht. So fürht der eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich daraus eine einheitliche Handlung ergibt. Daher haben offenbar alle die Dichter ihre Sache verkehrt gemacht, die eine Herakleïs, eine Theseïs und derlei Werke gedichtet haben.

(Aristoteles: Poetik)
Die Serie muss das nicht, sie kann sich bestimmter Elemente der Hollywoodlehre bedienen, ist ihr aber nicht sklavisch unterworfen. Man muss bei all dem natürlich sagen: Die Leute scheinen das lineare Kino, zum Beispiel, ja aber zu mögen! Sie gehen hin und konsumieren es wie wild. Die können ja nicht alle dumm sein. Und es setzt sich eben das durch, was gewollt wird. Und das stimmt zu Teil. Andererseits wissen wir, dass nicht nur die Konsumentenseite das Angebot bestimmt. Wenn wir heute beispielsweise ein vollelektrisches Auto kaufen wollen, das 200 km/h fahren kann – schwierig, weil es kaum im Angebot sein wird. Und weil die Infrastruktur weitgehend auf Verbrennungsmotoren ausgelegt ist, die wir kaufen sollen, damit wir die fossilen Brennstoffe konsumieren, die die Anbieter uns verkaufen wollen. Bei der Erzählung ist natürlich schwieriger zu bestimmen, auf welche Weise die Produzenten uns eine wirtschaftliche Infrastruktur aufzwingen. Aber der Autor Christian Salmon zeigt zumindest, wie das Storytelling auf vielfache Weise von Politik und Wirtschaft genutzt wird. Auch wenn sich das sicherlich zum allergrößten Teil unbewusst abspielt, profitieren sehr viele Leute von unseren simplizistischen narrativen Gewohnheiten.

Obwohl, der extreme Erfolg dieser Serien hätte Aristoteles vermutlich umgestimmt, denn man muss annehmen, dass er sein Urteil ausgehend vom Applaus im Theater entwickelte: Seine Poetik ist eine Überlegung, was die Gründe für den meisten Applaus sein könnten. Und die Gründe, die er findet, erhebt er zur Norm. Man könnte grob vereinfachend sagen, das nonlineare Erzählen wurde im Laufe der Evolution des Erzählens zurückgedrängt. Im Filmischen noch radikaler als in der Literatur, wo es nie ganz auszumerzen war, weil der Roman an sich näher am Denken ist und das Denken große Reserven des Nichtlinearen enthält. Im Moment, nicht zuletzt durch die Emergenz des Computers, erleben wir eine Renaissance des Nichtlinearen. Ich bin allerdings gar nicht dafür, dass nun das Lineare zurückgedrängt werden soll. Ich votiere für eine Geschichtenvielfalt, story diversity, auch wenn mir selbst die nichtlinearen Formen näher sind. Eine Kultur, die über viele Formen des Erzählens verfügt, verfügt über viele Denkweisen und ist eher in der Lage, Lösungen für drängende Probleme zu finden. Angesichts der Klimakatastrophe ist das notwendiger denn je. Ich glaube allerdings, dass wir gerade jetzt mehr nichtlineares Erzählen brauchen, weil wir durch lineare narrative Strukturen, also grob gesagt durch Stories, beständig Denkmuster reproduzieren und verfestigen, die mit zu vielen Simplifizierungen und Reduktionen arbeiten, um unserem Denken zu mehr Komplexität zu verhelfen, antagonistisches und konfliktorientiertes Denken aufzubrechen und den Menschen wirklich weiterzubringen. Wir müssen heute Anteile unserer Natur stimulieren, die uns helfen, diejenigen aggressiven Anteile zu dimmen, die uns bisher als Spezies so erfolgreich gemacht haben.

Filmisches Erzählen, also Schnitt- und Montagetechniken findet man ja gerade bei Berlin Alexanderplatz durchgehend als erzählerisches Mittel angewendet. Der Roman ist heute zwar ein Klassiker, gilt aber immer noch als „schwierig“, „experimentell“ oder Avantgarde-Literatur. Warum setzt sich das geradeheraus Erzählte immer noch besser durch?

Weil es unsere Sinne sozusagen genau an der Stelle krault, an der sie am allerliebsten gekrault werden. Sie werden dabei nicht überfordert, und es wird ihnen alles genauso vorgesetzt, wie sie am besten verarbeiten können: niedrigkomplex, reduziert, einer höheren Ordnung – der Dramaturgie – gehorchend. Dass alles, was in der Erzählung geschieht, mag es noch so grausam sein, in der höheren Ordnung der Dramaturgie aufgehoben ist, beruhigt uns zudem enorm. Denn genau das teilt uns jede lineare Erzählung permanent mit: Keine Angst, hinter all dem, was du hier siehst, steckt ein Plan. Das ist natürlich eine metaphysische Beruhigungspille, also pure Religion.

Besonders interessant fand ich die Aussagen von mehreren Personen in deinem Buch, die ihr deterministisch durchgeplantes Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr ertragen haben. Das ist doch genau die Anknüpfung zwischen Literatur und Leben, wo zum Beispiel Döblin das Chaos abbildet, anstatt durch Erzählen eine künstliche Kausalität herzustellen. Er vermischt Schlager, Straßenpalaver und inneren Monolog derartig, dass es ein Traum ist! Den Wallenstein dagegen finde ich nahezu unlesbar, weil er sprachlich total ausufert und – wahrscheinlich in voller Absicht – den Faden völlig fallen lässt.

Ich behaupte, dass das Bedürfnis nach linearem Leben sich in dem nach linearen Geschichten spiegelt und umgekehrt, dass sie sich gegenseitig anspornen und in einem ewigen Kreislauf bestätigen. Man muss allerdings vorsichtig sein: Ein nichtlineares Leben kann genauso im Sinne des Systems sein, namentlich des neoliberalen, das Menschen ohne feste Bindungen, Traditionen, Verwurzelungen bevorzugt und sich die Hände reibt, wenn Arbeitnehmer Hyperflexibilität entwickeln. Das Nichtlineare darf nicht zum völligen Verlust von Widerständigkeit führen.

Ich würde vorschlagen, so wie alle auf den „großen Wenderoman“ gewartet haben, könnten wir ja nun auf den „großen non-linearen Roman“ warten. Wie stehen die Chancen?

Gut! Ich wette, dass der erste wirklich nichtlineare massenfähige solche Roman innerhalb der nächsten zehn Jahre auf dem Ladentisch liegt.

Tobias Hülswitt wurde 1973 geboren und veröffentlichte mehrere Romane, darunter Dinge bei Licht, Der kleine Herr Mister und Saga. Zusammen mit Florian Thalhofer gründete er das Korsakow Institut für Nonlineare Erzählkultur, dem er bis 2010 angehörte. Im selben Jahr erschien der Band Werden wir ewig leben?: Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie bei Suhrkamp. Das Handbuch des Nonlinearen Erzählens ist in der Edition Pächterhaus erschienen, hat 112 Seiten und kostet 8 €.

 
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