Man muss ihn sich als rüstigen Rentner vorstellen. Stämmig, agil und bis zuletzt wohl auch einigermaßen gesund streifte der etwa 50-Jährige durch die eiszeitlichen Wälder. Immer auf der Suche nach einer Mahlzeit. Haselnüsse schmeckten dem alten Mann, Fische auch - und was ihm in seiner südfranzösischen Heimat sonst noch so in die Hände kam. Ausgestattet war der Wandersmann mit Feuersteinwerkzeugen, der Kopf geschmückt mit einer eindrucksvollen Muschelkette.
"Er war sicher eine beeindruckende Erscheinung", sagt der Archäologe Thomas Terberger von der Universität Greifswald im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Die Rede ist von einem Urmenschen, dessen Überreste vor gut 100 Jahren nahe der Ortschaft Montferrand-du-Périgord gefunden wurden. Bisher galt das sogenannte Hockergrab von Combe Capelle als eines der ältesten Zeugnisse moderner Menschen in Europa.
Etwa 30.000 Jahre alt sollte der Schädel nach Ansicht seines Finders Otto Hauser, sein. Darauf deuteten für den Schweizer Altsteinzeitforscher die Bodenschichten an der Fundstelle hin. Das heißt, der Jäger und Sammler aus dem Périgord wäre beinahe noch mit Neandertalern durch die Gegend gestreift - und hätte als Vertreter der Cro-Magnon-Menschen zu den frühen Neuankömmlingen der modernen Menschenart im kalten Europa gehört.
Eine neue Datierung entzaubert jetzt die Steinzeitknochen.
"Wir müssen den Fund aus dem Kanon der frühesten anatomisch modernen Menschen in Europa streichen", sagt Forscher Terberger. Denn der Mann von Combe Capelle lebte vermutlich nur vor etwa 9500 Jahren. Das haben Wissenschaftler am Leibnitz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung in Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Institute herausgefunden.
Das "Journal of Human Evolution" will die Ergebnisse der Ergebnisse der Radiokarbondatierung in einer seiner kommenden Ausgaben veröffentlichen. Damit verliert das französische Felsengrab seine herausragende Rolle für die jüngere Altsteinzeit. Es barg eben nicht jenen Quasi-Neuankömmling aus Afrika, für den viele den Waldmenschen lange Zeit hielten. Und andere Gräber aus dieser Zeit sind nicht bekannt.
Knochen in Tierleim gekocht
Dass die Wissenschaftler an dem Schädel überhaupt verwertbares Material für die Datierung finden konnten, ist bemerkenswert: Die Knochen des Urzeitmannes waren nach ihrem Fund im Jahr 1909 in Tierknochenleim gekocht worden. Dieser Konservierungsversuch machte genaue Messungen zum Alter des Schädels lange Zeit unmöglich - bis sich die Staatlichen Museen Berlin zu einem schmerzhaften Schritt entschlossen: Der Alte von Combe Capelle musste im Namen der Wissenschaft einen Zahn hergeben.
"Wir haben lange gezögert", sagt Matthias Wemhof, Chef des Museums für Vor- und Frühgeschichte im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Natürlich überlegt man sich gut, ob man einen Zahn opfert." Ein erster Versuch, das Rätsel des Steinzeitschädels mit Hilfe von Knochenmaterial aus dem Unterkiefer zu lösen, war vor einigen Jahren fehlgeschlagen. Dennoch rang sich das Museum zur Entscheidung durch, einen Zahn aus dem Unterkiefers pulverisieren zu lassen.
"Zähne sind besonders widerstandsfähig. Sie bieten damit noch am ehesten die Chance, um an brauchbares Material zu kommen", erklärt Terberger. Der Plan ging auf - wenngleich das Ergebnis den Mann aus dem Wald gleich um Jahrtausende jünger werden ließ. Denn die Untersuchung des Kollagens aus dem Zahn zeigte: Der vermeintliche Uralt-Europäer lebte in Wahrheit um etwa 7575 vor Christus. Damit war er in der Mittel- und nicht in der Altsteinzeit zu Hause.
Im Berliner Museum übt man sich nun in Zweckoptimismus. "Der Schädel ist auch in seiner jetzigen Datierung in rares Stück", sagt Matthias Wemhoff. Schließlich gebe es auch aus dieser Periode kaum bekannte Gräber. Bei der Überarbeitung der Ausstellung im Neuen Museum werde man die Knochen deswegen keinesfalls im Depot verschwinden lassen, aber sehr wohl innerhalb der Ausstellung verschieben.
Im Depot hatte der Schädel ohnehin lange gelegen - und zwar unabsichtlich. Die Überreste des Mannes von Combe Chapelle waren nämlich beim Brand des Berliner Gropiusbaus im Krieg schwer beschädigt worden. Was vom Feuer versehrt wurde, wanderte mit anderem Brandschutt in Inventarkisten. Und verstaubte jahrzehntelang. Erst Ende 2001 fand eine Museumsmitarbeiterin einen Teil der Fragmente wieder. Weitere Entdeckungen folgten im Jahr darauf, sodass der Schädel seit 2003 wieder gezeigt werden konnte.
In Zukunft wird er nun also wohl einen anderen Platz im Neuen Museum bekommen. Einen neuen Zahn, eine Nachbildung, hat er schon.
Auf anderen Social Networks posten:
Die müssen unter einem ziemlichen Druck gehandelt haben. Wissen ist heute (früher auch) nur etwas wert, wenn man es zurückhält, egal ob in Wirtschaft, also als Kaufmann und/oder als Ingenieur, als Pharmaunternehmen oder Arzt, [...] mehr...
Zustimmug. Man muss halt sauber zwischen den Regeln der Wissenschaft und Handeln der "Wissenschaftler" unterscheiden. Letztere stehen mit anderen in einer permanenter Konkurrenzsituation (insofern ist das [...] mehr...
Aber Sie fahren durchaus ein Auto, nutzen elektrischen Strom, sehen Fernsehen, telefonieren, fotografieren mit Digitalkameras, schreiben Forumsbeiträge per Computer usw., d.h. fast ihr ganzes Leben basiert auf den [...] mehr...
Hallo, ganz schön naiv, diese Darstellung. Wie edel, auch Medikamente zu erwähnen. Wollen Sie gelobt werden? Neben den oben beschriebenen "Errungenschaften" gehören aber auch Flammenwerfer, Panzer, MG`s, Giftgas und [...] mehr...
Die Zeiten von Ranke und Mommsen sind wohl vorbei. Es geht nicht mehr um reine Erkenntnis, Bücher sind kaum noch was wert (außer wirklich wissenschaftliche Bücher), damit ist nicht nur der Preis gemeint. Ökonomisch ist es [...] mehr...
HilfeLassen Sie sich mit kostenlosen Diensten auf dem Laufenden halten:
alles aus der Rubrik Wissenschaft | Twitter | RSS |
alles aus der Rubrik Mensch | RSS |
alles zum Thema Archäologie | RSS |
© SPIEGEL ONLINE 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH