Die 60er Jahre
1960: Der Contergan-Skandal
Viele Eltern erleben Anfang der 60er Jahre bei der Geburt ihres Kindes einen Schock. Mehr als 5000 Babys kommen schwer missgebildet zur Welt. Ihre Arme und Beine sind stark verkrüppelt, bei manchen fehlen innere Organe. Erst der Hamburger Arzt Widukind Lenz kommt dem Rätsel auf die Spur. Die Mütter der betroffenen Kinder haben während der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan genommen. Das Medikament der Firma "Chemie Grünenthal" galt als frei von Nebenwirkungen und wurde besonders häufig Schwangeren verschrieben.
Obwohl sich schon bald die Verdachtsfälle häufen, wird Contergan erst 1961 aus dem Handel genommen. Sieben Jahre später kommt es zur Anklage gegen die Verantwortlichen bei "Chemie Grünenthal". Der Prozess geht erst 1970 nach 283 Verhandlungstagen mit einem Vergleich über 100 Millionen Mark zu Ende, keiner der Angeklagten wird verurteilt. Als Reaktion auf den Skandal wird 1964 die "Aktion Sorgenkind" (heute "Aktion Mensch") zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung gegründet.
1961: Adenauers Kanzlerfernsehen scheitert
Aus der Bundestagswahl 1957 geht die CDU/CSU-Regierung von Bundeskanzler Konrad Adenauer als stärkste Fraktion hervor. Dennoch bleibt beim Kanzler ein ungutes Gefühl: Die Christdemokraten seien in der Presse und besonders im Rundfunk unterrepräsentiert. Ein Ausgleich müsse geschaffen werden. Auf Initiative Adenauers wird darum die "Gesellschaft Freies Fernsehen" gegründet. Als zweiter deutscher Fernsehsender soll sie nicht den Ländern, sondern dem Bund - und damit der Bundesregierung - unterstellt sein.
Adenauers Vorgehen stößt auf harsche Kritik. Die SPD-regierten Länder sehen ihre Kulturhoheit verletzt und klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit Erfolg: Am 28. Februar 1961 erklären die Richter das "Kanzlerfernsehen" für verfassungswidrig. Noch bevor eine einzige Sendeminute ausgestrahlt werden kann, muss die "Gesellschaft Freies Fernsehen" liquidiert werden. Aus der Konkursmasse, dem Studio im südhessischen Eschborn und den bereits produzierten Sendungen, geht schließlich das "Zweite Deutsche Fernsehen" (ZDF) hervor. Sendebeginn ist der 1. April 1963.
1961: Der erste Mensch im Weltraum
Am Morgen des 12. April 1961 startet vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur die erste bemannte Rakete ins All. An Bord der Raumkapsel "Wostok 1": der Kosmonaut Juri Gagarin. In 108 Minuten umrundet der erste Mensch im Weltraum einmal den Globus und kehrt anschließend sicher zur Erde zurück. Ein Meilenstein in der Geschichte der Raumfahrt und der Beweis, dass der Mensch mit Hilfe seiner Technik das lebensfeindliche All erobern kann.
Für die Sowjets ist Gagarin ein Held, den Amerikanern versetzt er einen tiefen Schock. Die UdSSR hat im "Space Race", dem Wettlauf in den Weltraum, einen weiteren Etappensieg errungen. Die Propaganda macht daraus einen Beweis für die Überlegenheit des Kommunismus. In der Tat: Erst beinahe ein Jahr später gelingt den Amerikanern eine eigene bemannte Erdumrundung. Doch beiden Seiten ist klar: Das Rennen ist noch nicht entschieden. Gewinnen wird, wer das Unmögliche vollbringt. Eine Landung auf dem Mond.
1961: Beginn des Mauerbaus
Viele Berliner trauen am 13. August 1961 ihren Augen nicht. Ein Graben zieht sich längs der Grenze durch die ehemalige Hauptstadt. DDR-Baukolonnen haben, bewacht von Volkspolizisten und Einheiten der Nationalen Volksarmee, begonnen, eine Mauer zu errichten. Ostberlin wird abgeriegelt, scharfe Kontrollen an den neu errichteten Übergängen sollen DDR-Bürger an der Republikflucht hindern. Die SED-Führung will damit dem Flüchtlingsstrom aus dem Arbeiter- und Bauernstaat ein Ende setzen.
Noch zwei Monate vorher hatte der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht jeden Verdacht auf einen solchen Plan weit von sich gewiesen: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", sagte er westlichen Journalisten auf einer Pressekonferenz. Hinter den Kulissen waren die Vorbereitungen für die Abschottung der DDR schon in vollem Gange. Auf 870 Kilometern Länge wird die innerdeutsche Grenze in den folgenden Jahren mit Stacheldraht, Minenfeldern und Selbstschussanlagen dicht gemacht, die SED-Führung erteilt DDR-Grenzern den “Schießbefehl“. Bis zur Öffnung der Grenzen 1989 kommen im "Todesstreifen" mehrere hundert Menschen ums Leben, mehr als zwei Millionen gelingt die Flucht in den Westen.
1962: Kuba-Krise
Oktober 1962: 13 Tage lang steht die Menschheit kurz vor der atomaren Vernichtung. Nachdem ein Jahr zuvor die Invasion in der Schweinebucht gescheitert ist, sucht der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro Schutz vor weiteren Angriffen durch die USA. Kreml-Chef Nikita Chruschtschow sieht seine Chance. Zunächst unbemerkt durch die USA stationiert die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba. Als diese am 14. Oktober von amerikanischen Flugzeugen entdeckt werden, sind sie schon beinahe einsatzbereit. Ein Krieg scheint unvermeidlich. Gegen die Empfehlungen seiner Militärberater, die auf den Angriff drängen, entschließt sich der junge amerikanische Präsident John F. Kennedy für die Blockade der Insel.
Während sich im Atlantik die Flotten belauern, wird hinter den Kulissen verhandelt. Doch die Kommunikation ist schwierig: Eine direkte Verbindung zwischen Kreml und Weißem Haus gibt es nicht, Forderungen und Gegenforderungen müssen von Dritten überbracht werden. Wer nachgibt, riskiert einen empfindlichen Gesichtsverlust. Erst am 28. Oktober lenkt Chruschtschow ein. Die Raketen werden abgebaut. Die Krise führt zur Einrichtung des berühmten "roten Telefons", der direkten Verbindung zwischen Moskau und Washington.
1962: Spiegel-Affäre
"Bedingt abwehrbereit", so lautet 1962 das Urteil der NATO über die deutsche Bundeswehr. Als das politische Magazin "Der Spiegel" dieses am 8. Oktober 1962 veröffentlicht, kommt es zum größten deutschen Politskandal der 60er Jahre. Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß lässt die Redaktionsräume des "Spiegel" durchsuchen und kistenweise Dokumente beschlagnahmen, "Spiegel"-Verleger Rudolf Augstein und mehrere Mitarbeiter werden verhaftet. Der Autor des Artikels, Conrad Ahlers, wird auf Strauß’ Initiative im Urlaub in Spanien in Haft genommen. Der Vorwurf: Landesverrat.
In der Bevölkerung und der restlichen Presse regt sich Widerstand, Tausende protestieren gegen Strauß und für die Pressefreiheit. Das Bundesverfassungsgericht urteilt schließlich 1966, dass die Bundesregierung mit der Durchsuchung der Redaktion und der Beschlagnahmung von Unterlagen gegen das Grundgesetz verstoßen hat. Strauß muss auf Druck des Koalitionspartners FDP von seinem Ministerposten zurücktreten.
1962: Die Bundesliga wird gegründet
Die Weltmeisterschaft 1962 gerät zum Fiasko für den deutschen Kader. Im Viertelfinale gegen Jugoslawien ist nach einem 0:1 Schluss. Das Urteil von DFB-Präsident Hermann Neuberger: Der deutsche Fußball ist international nicht konkurrenzfähig. Den Grund dafür sieht er im Spielsystem des deutschen Fußballbundes. Während in anderen Ländern die spielstärksten Vereine in einer eigenen Spielklasse den Meister ermitteln, kicken in deutschen Oberligen Spitzenclubs gegen Gurkentruppen. Ein neues System muss her.
Am 28. Juli 1962 beschließen die Delegierten der Landesverbände in Dortmund die Gründung der Fußball-Bundesliga, zunächst mit 16 Mannschaften. Die erste Bundesliga-Saison wird am 24. August 1963 angepfiffen. Nach 30 Spieltagen heißt der erste Deutsche Meister nach dem neuen System 1. FC Köln. Absteigen müssen nach dem ersten Jahr Bundesliga der 1. FC Saarbrücken und Preußen Münster.
1963: "Ich bin ein Berliner"
Zum 15. Jahrestag der Berliner Luftbrücke besucht US-Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 Berlin. Vom Balkon des Schöneberger Rathauses ruft er der jubelnden Menge zu: "Ich bin ein Berliner!" Die Deutschen reagieren begeistert auf den charismatischen jungen Präsidenten.
Doch nur fünf Monate später weicht die Begeisterung der Trauer: Kennedy wird bei einem Wahlkampfbesuch in Dallas/Texas erschossen. Der mutmaßliche Attentäter Lee Harvey Oswald wird zwei Tage später bei seiner Überführung ins Gefängnis von Nachtclubbesitzer Jack Ruby getötet. Die Beweise für Oswalds Täterschaft sind umstritten, zahlreiche Verschwörungstheorien vermuten schon bald eine Beteiligung der CIA und anderer schattenhafter Drahtzieher. Die wahren Hintergründe des Kennedy-Attentats und die Identität des Schützen können nicht zweifelsfrei geklärt werden. Trotz seiner kurzen Präsidentschaft gilt Kennedy noch immer als einer der bekanntesten und beliebtesten US-Präsidenten.
1964: Beatlemania
März 1964: Die Pilzköpfe sind da! Während es um Elvis Presley langsam still wird, besetzen die Beatles im Alleingang die Plätze eins bis fünf der amerikanischen Hitparade. Ein bis heute einmaliger Rekord. Die "Fab Four" machen Musik, wie man sie noch nie zuvor gehört hat. John, Paul, George und Ringo aus der englischen Arbeiterstadt Liverpool erobern Charts und Mädchenherzen im Sturm. Die Hysterie nimmt schon bald ungekannte Ausmaße an. Bei vielen Konzerten kreischen die weiblichen Fans so laut, dass weder die Band noch das Publikum die Musik hören können.
1966 kommt es zum Skandal, als John Lennon in einem Interview verkündet, die Beatles seien "berühmter als Jesus". Auf jeden Fall verkaufen sie mehr Platten. In acht Jahren Bandgeschichte nehmen die Beatles 19 Nummer-1-Alben auf, ihre Singles erreichen 150 Mal Spitzenplatzierungen in den internationalen Charts. Später wird man sie einmal die einflussreichste Band des 20. Jahrhunderts nennen. Doch 1970 ist die Luft raus. Die Beatles geben ihre Trennung bekannt.
1965: Reform der katholischen Kirche
Am 8. Dezember 1965 geht das von Papst Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil zu Ende. Fast drei Jahre lang haben mehr als 3000 Bischöfe und Vertreter der römischen Kurie zuvor um die "Heutigwerdung" der katholischen Kirche gerungen. Ihr Auftrag: kirchliche Dogmen und Traditionen mit den Gegebenheiten der Gegenwart in Einklang bringen. In 16 Dokumenten beschließen sie umfassende Reformen der katholischen Kirche.
Nach außen bekennt sich das Konzil zur Religionsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, stärkt die Ökumene und stellt die Weichen für den Dialog mit nicht-christlichen Religionen. Im Inneren wird vor allem die katholische Liturgie, der Ablauf der Gottesdienste, modernisiert. Die Kanzelpredigt wird abgeschafft, die Messe darf, statt wie bisher in Latein, auch in der Landessprache gelesen werden, und Priester predigen nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde. Die Gläubigen sollen aktiv in den Gottesdienst eingebunden werden. Papst Johannes XXIII. erlebt den Erfolg des Konzils nicht mehr. Er stirbt am 3. Juni 1963.
1966: Das Wembley-Tor
Im Finale der Weltmeisterschaft 1966 fällt das wohl berühmteste Tor der Fußball-Geschichte. WM-Gastgeber England spielt gegen Deutschland. Nach dem Ende der regulären Spielzeit steht es 2:2, das Spiel geht in die Verlängerung. In der 101. Minute überwindet der englische Stürmer Geoff Hurst den deutschen Torwart Hans Tilkowski. Der Ball trifft die Latte, springt von dort auf die Torlinie und zurück ins Feld, bevor Verteidiger Wolfgang Weber ihn ins Aus köpft. Die englischen Fans jubeln. Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet nach Rücksprache mit dem Linienrichter auf Tor. Noch Jahre später wird um diesen Treffer gestritten, erst 2006 zeigt eine Analyse des Filmmaterials: Das Wembley-Tor war keines. Doch der Siegeswille der deutschen Nationalmannschaft ist gebrochen, England gewinnt am Ende 4:2. Es ist der bis heute einzige Sieg einer englischen Nationalmannschaft bei einem großen Turnier.
1967: Studentenproteste
Am 2. Juni 1967 erwartet West-Berlin hohen Besuch. Der Schah von Persien bereist mit seiner Frau die geteilte deutsche Hauptstadt. Berliner Studenten sind empört. Der Schah ist ein Diktator und wird zahlreicher Verstöße gegen die Menschenrechte verdächtigt. Tausende Demonstranten gehen auf die Straße. Als Mitglieder des persischen Geheimdienstes mit Holzlatten und Eisenstangen auf die Demonstranten einprügeln, gerät die Situation außer Kontrolle. Die Polizei treibt die bis dahin friedliche Demonstration mit Wasserwerfern auseinander. In einem Hinterhof in der Krummen Straße wird der Student Benno Ohnesorg bei einem Handgemenge von einem Polizisten erschossen.
Der Tod Ohnesorgs trägt maßgeblich dazu bei, die Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg, die Zustände an den Universitäten sowie die Prüderie und Vergangenheitsverdrängung der Elterngeneration zu radikalisieren. Die Außerparlamentarische Opposition um Rudi Dutschke macht Front gegen die große Koalition von Kanzler Kurt Georg Kiesinger. 1968 erreichen die studentischen Proteste ihren Höhepunkt. Aus einer anderen Gruppe der Protestbewegung um Andreas Baader und Ulrike Meinhof geht die Terrororganisation Rote Armee Fraktion hervor, die sich 1970 gründet.
1968: Die Wende im Vietnamkrieg
Das Jahr 1968 markiert die Wende im festgefahrenen Vietnamkrieg. Schon seit Jahren gelingt es den technisch und zahlenmäßig überlegenen Streitkräften der USA nicht, die kommunistischen Guerillas aus dem Norden des Landes zu besiegen. Die zynische Bekanntgabe getöteter Gegner als Maß des Erfolgs füllt täglich die Zeitungen. Bilder von zivilen Opfern und Berichte über Massaker lassen die amerikanische Öffentlichkeit immer mehr an der Richtigkeit des Krieges zweifeln.
Im Januar gelingt es den Nordvietnamesen trotz schwerer Verluste, viele wichtige Städte im Süden des Landes zu erobern. Die Stimmung in Amerika richtet sich offen gegen den Krieg. Bürgerrechtler und Vietnamkriegsgegner setzen die amerikanische Regierung mit Massenkundgebungen unter Druck. 1969 verzichtet Präsident Lyndon B. Johnson auf eine erneute Kandidatur. Der Republikaner Richard Nixon wird neuer amerikanischer Präsident und verspricht seinen Landsleuten: "Wir holen die Jungs zurück nach Hause."
1969: Der erste Mensch auf dem Mond
"Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein gewaltiger Sprung für die Menschheit." Mit diesen Worten betritt der amerikanische Astronaut Neil Armstrong am 20. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. 500 Millionen Menschen auf der ganzen Welt sind am Fernseher live dabei. 13 Minuten später verlässt auch der zweite Astronaut Edwin "Buzz" Aldrin die Landekapsel. Der erste Spaziergang auf dem Mond dauert zweieinhalb Stunden. Die Astronauten hissen die amerikanische Flagge, nehmen seismische Messungen vor und bringen 26 Kilogramm Mondgestein zurück zur Erde.
Die USA machen damit das 1961 von Präsident Kennedy gegebene Versprechen wahr, noch vor Ablauf des Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond und sicher wieder zurückzubefördern. Der Wettlauf ins All ist entschieden. Insgesamt landen amerikanische Astronauten im Laufe des Apollo-Programms von 1969 bis 1972 noch fünfmal auf dem Mond.
1969: Woodstock-Festival
"Make love, not war!" Beim Woodstock-Festival im August 1969 erschafft die Hippie-Bewegung ihre eigene Legende. Bands wie The Grateful Dead, The Jimi Hendrix Experience und Creedence Clearwater Revival locken 500.000 Blumenkinder auf einen verschlammten Acker in Bethel/New York. Die Veranstalter haben nur mit 60.000 Besuchern gerechnet und sind völlig überfordert. Die Bühnentechnik steckt im Stau, es gibt weder genug Toiletten noch medizinische Versorgung, und einige Bands tauchen gar nicht erst auf. Da der Verkauf von Eintrittskarten nur schleppend vorangeht, trampeln die Fans kurzerhand die Umzäunung nieder, der Eintritt wird freigegeben.
Trotz der chaotischen Zustände bleibt das Festival friedlich. Das Publikum experimentiert großzügig mit psychedelischen Drogen, und auch so mancher Musiker betritt vollgedröhnt die Bühne. Der genaue Ablauf des Festivals wird sich später nicht mehr rekonstruieren lassen. Der Legende tut das keinen Abbruch, denn: "Wenn du dich an die 60er erinnern kannst, warst du wahrscheinlich nicht da."
Eike Risto, Stand vom 1.6.2009