Von Hans-Jürgen Schlamp
Den Haag - Prozess paradox: Deutschland verklagt Italien, gewinnt - und Verlierer Italien freut sich heimlich mit. Und viele weitere Regierungen in aller Welt atmen auf. Denn wenn dieses Verfahren, aus ihrer Sicht, schiefgegangen wäre, hätten Menschen in Afghanistan oder in Äthiopien, auf dem Balkan oder in Libyen die Staaten verklagen können, deren Soldaten oder Polizisten dort vergewaltigt oder gefoltert, Menschen zu Krüppeln geschlagen oder abgeschlachtet haben. Das wollte keiner der möglicherweise betroffenen Regenten. Und es bleibt nun auch weiterhin ausgeschlossen.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag sicherte Deutschland - und damit auch jedem anderen Land - jetzt zu, es sei nicht zur Zahlungen von Wiedergutmachungen an Angehörige der Opfer von Kriegsverbrechen verpflichtet. Anders lautende Urteile der italienischen Justiz, so das den Vereinten Nationen unterstellte Welt-Gericht, verstoßen gegen das Völkerrecht.
Menschenrechtsorganisation, etwa Amnesty International, beklagen einen "großen Rückschritt für den internationalen Menschenrechtsschutz". Der IGH habe die Interessen der Staaten über den Schutz der Menschenrechte gestellt.
Der konkrete Fall
Am 29. Juni 1944 erschossen deutsche Soldaten der "Division Hermann Göring" in der toskanischen Stadt Civitella und deren Umgebung 250 Zivilisten. Es war ein Racheakt. Einige Tage zuvor waren vier Wehrmachtssoldaten von Partisanen attackiert worden. Drei Deutsche starben, einer wurde schwer verletzt. Büßen mussten dafür wahllos zusammengetriebene, wehrlose Zivilisten. Mehr als vierzig Jahre später verklagten Angehörige der Opfer vor einem italienischen Gericht Deutschland auf Schadensersatz .
Mitkläger war Luigi Ferrini, auch er aus der Toskana. Ihn hatten deutsche Soldaten verschleppt und ins KZ transportiert. Dort musste er Zwangsarbeit leisten und wurde gefoltert.
Im Jahre 2008 obsiegten die Kläger vor dem höchsten italienischen Gericht. Deutschland habe Völker- und Menschenrecht verletzt, so der Entscheid, deshalb dürften Geschädigte einen individuellen Schadensersatz geltend machen. In Berlin waren sie empört - Sozialdemokraten wie Christdemokraten.
Die Opfer von Distomo
Damit nicht genug. Auch in Griechenland hatten Hinterbliebene der Opfer eines deutschen Racheaktes auf Schadensersatz geklagt. Einheiten der Waffen-SS hatten am 10. Juni 1944 im Ort Distomo, nicht weit von Delphi, 218 Kinder, Frauen und Greise zusammengetrieben und getötet. Vergebens klagten sich die Griechen erst durch die Instanzen der deutschen Justiz und scheiterten letztlich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Begründung: Die Staaten sind "immun" gegen Klagen "natürlicher Personen". Das ist ein alter Grundsatz des Völkerrechts.
In Griechenland dagegen waren die Distomo-Kläger juristisch erfolgreich. Aber das brachte sie auch nicht weiter. Zwar sprach der oberste Gerichtshof des Landes, der Areopag, ihnen 28 Millionen Euro Entschädigung zu. Aber die Deutschen zahlten einfach nicht, und der Versuch, Immobilien des deutschen Staates in Griechenland dafür zwangsversteigern zu lassen scheiterte am Einspruch der Athener Regierung. Die hatte sich der entsprechenden Bitte aus Berlin schnell gebeugt.
Zugriff auf deutsches Staatseigentum
Als die griechischen Kläger von der Rechtsprechung in Italien hörten, zogen sie auch dort vor den Kadi. Und das oberste Gericht in Rom entschied, dass Hinterbliebene der Waffen-SS-Gräuel von Distomo mit Anspruch auf Schadensersatz durchaus deutsches Staatseigentum in Italien als Pfand nehmen dürften, wenn Berlin nicht zahle.
Doch wie zuvor die griechische griff auch die italienische Regierung sofort ein, als die Kläger sich anschickten, die deutsche bundeseigene Villa Vigoni, malerisch am Comer See gelegen, zwangsversteigern zu lassen. Da musste Kanzlerin Angela Merkel ihren damaligen römischen Amtskollegen Silvio Berlusconi nicht lange bitten. Denn nicht anders als die Deutschen sorgen sich auch Italiener und Griechen, Überlebende von Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Vergangenheit könnten Ansprüche stellen.
Da könnte ja jeder klagen
Deshalb nahmen die meisten Regierungen, nicht nur in Europa, es mit stillem Wohlwollen zur Kenntnis, als die Deutschen - mit Billigung der italienischen Regierung - gegen das höchstrichterliche Urteil aus Italien Klage vor dem Internationalen Gerichtshof einreichten. Denn die Zwangsversteigerungen waren zwar abgewehrt worden, aber der Anspruch auf Schadensersatz blieb ja bestehen.
Zum einen habe man schon im Jahre 1961 Reparationszahlungen an Italien geleistet, nämlich pauschal 40 Millionen Mark, so die deutsche Position. Zum andern habe man im Jahr 2000 die "Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet, um Zwangsarbeiter aus Osteuropa zu entschädigen. Weitere Leistungen habe Deutschland auf Friedenskonferenzen oder in Verträgen mit anderen Ländern vereinbart. Mehr sei nicht drin. Und kein Gericht dürfe einen ausländischen Staat zur Rechenschaft ziehen, was immer es auch getan habe. Denn das sei eine "Verletzung des völkerrechtlichen Immunitätsprinzips".
Ein großer Teil der Rechtswissenschaft sieht das ebenso. "Würde man die Staatenimmunität in diesen und ähnlichen Fällen verneinen", schrieb beispielsweise der Völkerrechts-Professor Andreas Zimmermann in der "taz", könnten am Ende "etwa georgische Gerichte über das russische Verhalten während des Konflikts aus dem Jahre 2008" urteilen, "und umgekehrt".
Für Zimmermann und viele seiner Kollegen eine absurde Vorstellung: "Die Ergebnisse sind vorhersehbar."
Der internationale Rechtsfrieden ist gesichert
Entsprechend fiel das letztinstanzliche Urteil des IGH heute aus. Die in Italien gefällten Urteile gegen Deutschland auf Schadensersatz an Opfer der NS-Verbrechen sind rechtswidrig. Auch die Pfändung staatlicher deutscher Besitztümer ist nicht legal. Italien hätte die Klagen von Privatpersonen gegen Deutschland vor italienischen Gerichten gar nicht zulassen dürfen. Verhandlungen über Entschädigungen führen oder entsprechende Klage vor internationalen Gerichten einreichen, können nur Staaten; Privatpersonen haben kein Klagerecht.
Der internationale Rechtsfrieden ist gesichert. Auch künftig dürfen Hinterbliebene afghanischer, irakischer, oder äthiopischer Opfer von Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten genauso wenig den Rechtsweg suchen wie griechische oder italienische.
Die Justiz, so lautet sinngemäß ein alter Spruch unter Juristen, ist nun einmal für das Recht zuständig, nicht für Gerechtigkeit.
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