[DE] Hesse, Hermann - Demian

Hermann Hesse

Demian
Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend

(Entstanden 1917 / Erste Buchausgabe, unter dem Pseudonym Emil Sinclair,
Berlin 1919)

Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?

Um meine Geschichte zu erz¨hlen, muß ich weit vorn anfangen. Ich m¨ßte, a u w¨re es mir m¨glich, noch viel weiter zur¨ckgehen, bis in die allerersten Jahre a o u meiner Kindheit und noch uber sie hinaus in die Ferne meiner Herkunft zur¨ck. u ¨ Die Dichter, wenn sie Romane schreiben, pflegen so zu tun, als seien sie Gott und k¨nnten irgendeine Menschengeschichte ganz und gar uberblicken o ¨ und begreifen und sie so darstellen, wie wenn Gott sie sich selber erz¨hlte, a ohne alle Schleier, uberall wesentlich. Das kann ich nicht, so wenig wie die ¨ Dichter es k¨nnen. Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem o Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen nicht eines erfundenen, eines m¨glichen, eines idealen oder sonstwie o nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. Was das ist, ein wirklich lebender Mensch, das weiß man heute allerdings weniger als jemals, und man schießt denn auch die Menschen, deren jeder ein kostbarer, einmaliger Versuch der Natur ist, zu Mengen tot. W¨ren wir nicht a noch mehr als einmalige Menschen, k¨nnte man jeden von uns wirklich mit o einer Flintenkugel ganz und gar aus der Welt schaffen, so h¨tte es keinen Sinn a mehr, Geschichten zu erz¨hlen. Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist a auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkw¨rdige u Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, g¨ttlich, darum o ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erf¨llt, u wunderbar und jeder Aufmerksamkeit w¨rdig. In jedem ist der Geist Gestalt u geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erl¨ser gekreuzigt. o Wenige wissen heute, was der Mensch ist. Viele f¨hlen es und sterben daru um leichter, wie ich leichter sterben werde, wenn ich diese Geschichte fertiggeschrieben habe.

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Einen Wissenden darf ich mich nicht nennen. Ich war ein Suchender und bin es noch, aber ich suche nicht mehr auf den Sternen und in den B¨chern, ich u beginne die Lehren zu h¨ren, die mein Blut in mir rauscht. Meine Geschicho te ist nicht angenehm, sie ist nicht s¨ß und harmonisch wie die erfundenen u Geschichten, sie schmeckt nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahnsinn und Traum wie das Leben aller Menschen, die sich nicht mehr bel¨gen wollen. u Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Jeder tr¨gt Reste von seiner Geburt, Schleim und Eischalen a einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. Mancher ist oben Mensch und unten Fisch. Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Und allen sind die Herk¨nfte gemeinsam, die M¨tter, wir alle kommen aus demselben u u Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir k¨nnen einander verstehen; aber deuten kann jeder nur o sich selbst.

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Zwei Welten
Ich beginne meine Geschichte mit einem Erlebnisse der Zeit, wo ich zehn Jahre alt war und in die Lateinschule unseres St¨dtchens ging. a Viel duftet mir da entgegen und r¨hrt mich von innen mit Weh und mit wohu ligen Schauern an, dunkle Gassen und helle H¨user und T¨rme, Uhrschl¨ge a u a und Menschengesichter, Stuben voll Wohnlichkeit und warmem Behagen, Stuben voll Geheimnis und tiefer Gespensterfurcht. Es riecht nach warmer Enge, nach Kaninchen und Dienstm¨gden, nach Hausmitteln und getrocknetem a Obst. Zwei Welten liefen dort durcheinander, von zwei Polen her kamen Tag und Nacht. Die eine Welt war das Vaterhaus, aber sie war sogar noch enger, sie umfaßte eigentlich nur meine Eltern. Diese Welt war mir großenteils wohlbekannt, sie hieß Mutter und Vater, sie hieß Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt geh¨rte milder Glanz, Klarheit und Sauberkeit, hier waren sanfte o freundliche Reden, gewaschene H¨nde, reine Kleider, gute Sitten daheim. Hier a wurde der Morgenchoral gesungen, hier wurde Weihnacht gefeiert. In dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft f¨hrten, es gab Pflicht u und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vors¨tze, a Liebe und Verehrung, Bibelwort und Weisheit. Zu dieser Welt mußte man sich halten, damit das Leben klar und reinlich, sch¨n und geordnet sei. o Die andere Welt indessen begann schon mitten in unserem eigenen Hause und war v¨llig anders, roch anders, sprach anders, versprach und forderte ano deres. In dieser zweiten Welt gab es Dienstm¨gde und Handwerksburschen, a Geistergeschichten und Skandalger¨chte, es gab da eine bunte Flut von ungeu heuren, lockenden, furchtbaren, r¨tselhaften Dingen, Sachen wie Schlachthaus a und Gef¨ngnis, Betrunkene und keifende Weiber, geb¨rende K¨he, gest¨rzte a a u u Pferde, Erz¨hlungen von Einbr¨chen, Totschl¨gen, Selbstmorden. Alle diese a u a sch¨nen und grauenhaften, wilden und grausamen Sachen gab es ringsum, in o der n¨chsten Gasse, im n¨chsten Haus, Polizeidiener und Landstreicher liefen a a herum. Betrunkene schlugen ihre Weiber, Kn¨uel von jungen M¨dchen quola a len abends aus den Fabriken, alte Frauen konnten einen bezaubern und krank machen, R¨uber wohnten im Wald, Brandstifter wurden von Landj¨gern gea a fangen – uberall quoll und duftete diese zweite, heftige Welt, uberall, nur nicht ¨ ¨ in unsern Zimmern, wo Mutter und Vater waren. Und das war sehr gut. Es

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war wunderbar, daß es hier bei uns Frieden, Ordnung und Ruhe gab, Pflicht und gutes Gewissen, Verzeihung und Liebe – und wunderbar, daß es auch alles das andere gab, alles das Laute und Grelle, D¨stere und Gewaltsame, dem u man doch mit einem Sprung zur Mutter entfliehen konnte. Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen waren! Zum Beispiel unsere Dienstmagd Lina, wenn sie am Abend bei der Andacht in der Wohnstube bei der T¨re saß und mit ihrer hellen u Stimme das Lied mitsang, die gewaschenen H¨nde auf die glattgestrichene a Sch¨rze gelegt, dann geh¨rte sie ganz zu Vater und Mutter, zu uns, ins Helle u o und Richtige. Gleich darauf in der K¨che oder im Holzstall, wenn sie mir die u Geschichte vom M¨nnlein ohne Kopf erz¨hlte, oder wenn sie beim Metzger a a im kleinen Laden mit den Nachbarweibern Streit hatte, dann war sie eine andere, geh¨rte zur andern Welt, war von Geheimnis umgeben. Und so war o es mit allem, am meisten mit mir selber. Gewiß, ich geh¨rte zur hellen und o richtigen Welt, ich war meiner Eltern Kind, aber wohin ich Auge und Ohr richtete, uberall war das andere da, und ich lebte auch im andern, obwohl es ¨ mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort regelm¨ßig ein schlechtes a Gewissen und Angst bekam. Ich lebte sogar zuzeiten am allerliebsten in der verbotenen Welt, und oft war die Heimkehr ins Helle – so notwendig und so gut sie sein mochte – fast wie eine R¨ckkehr ins weniger Sch¨ne, ins Langweiligere u o ¨ und Odere. Manchmal wußte ich: mein Ziel im Leben war, so wie mein Vater und meine Mutter zu werden, so hell und rein, so uberlegen und geordnet; ¨ aber bis dahin war der Weg weit, bis dahin mußte man Schulen absitzen und studieren und Proben und Pr¨fungen ablegen, und der Weg f¨hrte immerzu an u u der anderen, dunkleren Welt vorbei, durch sie hindurch, und es war gar nicht unm¨glich, daß man bei ihr blieb und in ihr versank. Es gab Geschichten von o verlorenen S¨hnen, denen es so gegangen war, ich hatte sie mit Leidenschaft o gelesen. Da war stets die Heimkehr zum Vater und zum Guten so erl¨send o und großartig, ich empfand durchaus, daß dies allein das Richtige, Gute und W¨nschenswerte sei, und dennoch war der Teil der Geschichte, der unter den u B¨sen und Verlorenen spielte, weitaus der lockendere, und wenn man es h¨tte o a sagen und gestehen d¨rfen, war es eigentlich manchmal geradezu schade, daß u der Verlorene Buße tat und wieder gefunden wurde. Aber das sagte man nicht und dachte es auch nicht. Es war nur irgendwie vorhanden, als eine Ahnung und M¨glichkeit, ganz unten im Gef¨hl. Wenn ich mir den Teufel vorstellte, o u so konnte ich ihn mir ganz gut auf der Straße unten denken, verkleidet oder offen, oder auf dem Jahrmarkt, oder in einem Wirtshaus, aber niemals bei uns daheim. Meine Schwestern geh¨rten ebenfalls zur hellen Welt. Sie waren, wie mir o oft schien, im Wesen n¨her bei Vater und Mutter, sie waren besser, gesitteter, a fehlerloser als ich. Sie hatten M¨ngel, sie hatten Unarten, aber mir schien, das a

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ging nicht sehr tief, das war nicht wie bei mir, wo die Ber¨hrung mit dem B¨sen u o oft so schwer und peinigend wurde, wo die dunkle Welt viel n¨her stand. Die a Schwestern waren, gleich den Eltern, zu schonen und zu achten, und wenn man mit ihnen Streit gehabt hatte, war man nachher vor dem eigenen Gewissen immer der Schlechte, der Anstifter, der, der um Verzeihung bitten mußte. Denn in den Schwestern beleidigte man die Eltern, das Gute und Gebietende. Es gab Geheimnisse, die ich mit den verworfensten Gassenbuben weit eher teilen konnte als mit meinen Schwestern. An guten Tagen, wenn es licht war und das Gewissen in Ordnung, da war es oft k¨stlich, mit den Schwestern zu spielen, o gut und artig mit ihnen zu sein und sich selbst in einem braven, edlen Schein zu sehen. So mußte es sein, wenn man ein Engel war! Das war das H¨chste, o was wir wußten, und wir dachten es uns s¨ß und wunderbar, Engel zu sein, u umgeben von einem lichten Klang und Duft wie Weihnacht und Gl¨ck. O wie u selten gelangen solche Stunden und Tage! Oft war ich beim Spiel, bei guten, harmlosen, erlaubten Spielen, von einer Leidenschaft und Heftigkeit, die den Schwestern zu viel wurde, die zu Streit und Ungl¨ck f¨hrte, und wenn dann u u der Zorn uber mich kam, war ich schrecklich und tat und sagte Dinge, deren ¨ Verworfenheit ich, noch w¨hrend ich sie tat und sagte, tief und brennend a empfand. Dann kamen arge, finstere Stunden der Reue und Zerknirschung, und dann der wehe Augenblick, wo ich um Verzeihung bat, und dann wieder ein Strahl der Helle, ein stilles, dankbares Gl¨ck ohne Zwiespalt, f¨r Stunden u u oder Augenblicke. Ich ging in die Lateinschule, der Sohn des B¨rgermeisters und des Oberu f¨rsters waren in meiner Klasse und kamen zuweilen zu mir, wilde Buben o und dennoch Angeh¨rige der guten, erlaubten Welt. Trotzdem hatte ich nao he Beziehungen zu Nachbarsknaben, Sch¨lern der Volksschule, die wir sonst u verachteten. Mit einem von ihnen muß ich meine Erz¨hlung beginnen. a An einem freien Nachmittag – ich war wenig mehr als zehn Jahre alt – trieb ich mich mit zwei Knaben aus der Nachbarschaft herum. Da kam ein gr¨ßerer dazu, ein kr¨ftiger und roher Junge von etwa dreizehn Jahren, ein o a Volkssch¨ler, der Sohn eines Schneiders. Sein Vater war ein Trinker, und die u ganze Familie stand in schlechtem Ruf. Franz Kromer war mir wohlbekannt, ich hatte Furcht vor ihm, und es gefiel mir nicht, als er jetzt zu uns stieß. Er hatte schon m¨nnliche Manieren und ahmte den Gang und die Redensarten a der jungen Fabrikburschen nach. Unter seiner Anf¨hrung stiegen wir neben u der Br¨cke ans Ufer hinab und verbargen uns vor der Welt unterm ersten u Br¨ckenbogen. Das schmale Ufer zwischen der gew¨lbten Br¨ckenwand und u o u dem tr¨g fließenden Wasser bestand aus lauter Abf¨llen, aus Scherben und a a Ger¨mpel, wirren B¨ndeln von verrostetem Eisendraht und anderem Kehricht. u u Man fand dort zuweilen brauchbare Sachen; wir mußten unter Franz Kromers F¨hrung die Strecke absuchen und ihm zeigen, was wir fanden. Dann steckte u

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er es entweder zu sich oder warf es ins Wasser hinaus. Er hieß uns darauf achten, ob Sachen aus Blei, Messing oder Zinn darunter w¨ren, die steckte a er alle zu sich, auch einen alten Kamm aus Horn. Ich f¨hlte mich in seiner u Gesellschaft sehr beklommen, nicht weil ich wußte, daß mein Vater mir diesen Umgang verbieten w¨rde, wenn er davon w¨ßte, sondern aus Angst vor Franz u u selber. Ich war froh, daß er mich nahm und behandelte wie die andern. Er befahl, und wir gehorchten, es war, als sei das ein alter Brauch, obwohl ich das erstemal mit ihm zusammen war. Schließlich setzten wir uns an den Boden, Franz spuckte ins Wasser und sah aus wie ein Mann; er spuckte durch eine Zahnl¨cke und traf, wohin er u wollte. Es begann ein Gespr¨ch, und die Knaben kamen ins R¨hmen und a u Großtun mit allerlei Sch¨lerheldentaten und b¨sen Streichen. Ich schwieg und u o f¨rchtete doch, gerade durch mein Schweigen aufzufallen und den Zorn des u Kromer auf mich zu lenken. Meine beiden Kameraden waren von Anfang an von mir abger¨ckt und hatten sich zu ihm bekannt, ich war ein Fremdling u unter ihnen und f¨hlte, daß meine Kleidung und Art f¨r sie herausfordernd sei. u u Als Lateinsch¨ler und Herrens¨hnchen konnte Franz mich unm¨glich lieben, u o o und die beiden anderen, das f¨hlte ich wohl, w¨rden mich, sobald es darauf u u ank¨me, verleugnen und im Stich lassen. a Endlich begann ich aus lauter Angst auch zu erz¨hlen. Ich erfand eine große a R¨ubergeschichte, zu deren Helden ich mich machte. In einem Garten bei der a Eckm¨hle, erz¨hlte ich, h¨tte ich mit einem Kameraden bei Nacht einen ganu a a ¨ zen Sack voll Apfel gestohlen, und nicht etwa gew¨hnliche, sondern lauter o Reinetten und Goldparm¨nen, die besten Sorten. Aus den Gefahren des Aua genblicks fl¨chtete ich mich in diese Geschichte, das Erfinden und Erz¨hlen u a war mir gel¨ufig. Um nur nicht gleich wieder aufzuh¨ren und vielleicht in a o Schlimmeres verwickelt zu werden, ließ ich meine ganze Kunst gl¨nzen. Einer a von uns, erz¨hlte ich, hatte immer Schildwache stehen m¨ssen, w¨hrend der a u a ¨ andre im Baum war und die Apfel herunterwarf, und der Sack sei so schwer gewesen, daß wir ihn zuletzt wieder ¨ffnen und die H¨lfte zur¨cklassen mußten, o a u aber wir kamen nach einer halben Stunde wieder und holten auch sie noch. Als ich fertig war, hoffte ich auf einigen Beifall, ich war zuletzt warm geworden und hatte mich am Fabulieren berauscht. Die beiden Kleinern schwiegen abwartend, Franz Kromer aber sah mich aus halb zugekniffenen Augen durchdringend an und fragte mit drohender Stimme: Ist das wahr?“ ” Jawohl“, sagte ich. ” Also wirklich und wahrhaftig?“ ” Ja, wirklich und wahrhaftig“, beteuerte ich trotzig, w¨hrend ich innerlich a ” vor Angst erstickte. Kannst du schw¨ren?“ o ” Ich erschrak sehr, aber ich sagte sofort ja.

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Also sag: Bei Gott und Seligkeit!“ ” Ich sagte: Bei Gott und Seligkeit.“ ” Na ja“, meinte er dann und wandte sich ab. ” Ich dachte, damit sei es gut, und war froh, als er sich bald erhob und den R¨ckweg einschlug. Als wir auf der Br¨cke waren, sagte ich sch¨chtern, ich u u u m¨sse jetzt nach Hause. u Das wird nicht so pressieren“, lachte Franz, wir haben ja den gleichen ” ” Weg.“ Langsam schlenderte er weiter, und ich wagte nicht auszureißen, aber er ging wirklich den Weg gegen unser Haus. Als wir dort waren, als ich unsre Haust¨r u sah und den dicken messingenen Dr¨cker, die Sonne in den Fenstern und die u Vorh¨nge im Zimmer meiner Mutter, da atmete ich tief auf. O Heimkehr! O a gute, gesegnete R¨ckkunft nach Hause, ins Helle, in den Frieden! u Als ich schnell die T¨r ge¨ffnet hatte und hineinschl¨pfte, bereit, sie hinu o u ter mir zuzuschlagen, da dr¨ngte Franz Kromer sich mit hinein. Im k¨hlen, a u d¨steren Fliesengang, der nur vom Hof her Licht bekam, stand er bei mir, u hielt mich am Arm und sagte leise: Nicht so pressieren, du!“ ” Erschrocken sah ich ihn an. Sein Griff um meinen Arm war fest wie Eisen. Ich uberlegte, was er im Sinn haben k¨nnte und ob er mich etwa mißhandeln o ¨ wolle. Wenn ich jetzt schreien w¨rde, dachte ich, laut und heftig schreien, ob u dann wohl schnell genug jemand von droben dasein w¨rde, um mich zu retten? u Aber ich gab es auf. Was ist?“ fragte ich, was willst du?“ ” ” Nicht viel. Ich muß dich bloß noch etwas fragen. Die andern brauchen das ” nicht zu h¨ren.“ o So? ja, was soll ich dir noch sagen? Ich muß hinauf, weißt du.“ ” Du weißt doch“, sagte Franz leise, wem der Obstgarten bei der Eckm¨hle u ” ” geh¨rt?“ o Nein, ich weiß nicht. Ich glaube, dem M¨ller.“ u ” Franz hatte den Arm um mich geschlungen und zog mich nun ganz dicht zu sich heran, daß ich ihm aus n¨chster N¨he ins Gesicht sehen mußte. Seine a a Augen waren b¨se, er l¨chelte schlimm, und sein Gesicht war voll Grausamkeit o a und Macht. Ja, mein junge, ich kann dir schon sagen, wem der Garten geh¨rt. Ich o ” ¨ weiß schon lang, daß die Apfel gestohlen sind, und ich weiß auch, daß der Mann gesagt hat, er gebe jedem zwei Mark, der ihm sagen kann, wer das Obst gestohlen hat.“ Lieber Gott!“ rief ich. Aber du wirst ihm doch nichts sagen?“ ” ” Ich f¨hlte, daß es unn¨tz sein w¨rde, mich an sein Ehrgef¨hl zu wenden. Er u u u u war aus der andern Welt, f¨r ihn war Verrat kein Verbrechen. Ich f¨hlte das u u

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genau. In diesen Sachen waren die Leute aus der anderen“ Welt nicht wie ” wir. Nichts sagen?““ lachte Kromer. Lieber Freund, meinst du denn, ich sei ” ” ein Falschm¨nzer, daß ich mir selber Zweimarkst¨cke machen kann? Ich bin u u ein armer Kerl, ich habe keinen reichen Vater wie du, und wenn ich zwei Mark verdienen kann, muß ich sie verdienen. Vielleicht gibt er sogar mehr.“ Er ließ mich pl¨tzlich wieder los. Unsre Hausflur roch nicht mehr nach Frieo den und Sicherheit, die Welt brach um mich zusammen. Er w¨rde mich anu zeigen, ich war ein Verbrecher, man w¨rde es dem Vater sagen, vielleicht u w¨rde sogar die Polizei kommen. Alle Schrecken des Chaos drohten mir, alles u H¨ßliche und Gef¨hrliche war gegen mich aufgeboten. Daß ich gar nicht gea a stohlen hatte, war ganz ohne Belang. Ich hatte außerdem geschworen. Mein Gott, mein Gott! Tr¨nen stiegen mir auf. Ich f¨hlte, daß ich mich loskaufen m¨sse, und griff a u u verzweifelt in alle meine Taschen. Kein Apfel, kein Taschenmesser, gar nichts war da. Da fiel meine Uhr mir ein. Es war eine alte Silberuhr, und sie ging nicht, ich trug sie nur so“. Sie stammte von unsrer Großmutter. Schnell zog ” ich sie heraus. Kromer“, sagte ich, h¨r, du mußt mich nicht angeben, das w¨re nicht o a ” ” sch¨n von dir. Ich will dir meine Uhr schenken, sieh da; ich habe leider sonst o gar nichts. Du kannst sie haben, sie ist aus Silber, und das Werk ist gut, sie hat nur einen kleinen Fehler, man muß sie reparieren.“ Er l¨chelte und nahm die Uhr in seine große Hand. Ich sah auf diese Hand a und f¨hlte, wie roh und tief feindlich sie mir war, wie sie nach meinem Leben u und Frieden griff. Sie ist aus Silber –“, sagte ich sch¨chtern. u ” Ich pfeife auf dein Silber und auf deine alte Uhr da!“ sagte er mit tiefer ” Verachtung. Laß du sie nur selber reparieren!“ ” Aber Franz“, rief ich, zitternd vor Angst, er m¨chte weglaufen. Warte o ” ” doch ein wenig! Nimm doch die Uhr! Sie ist wirklich aus Silber, wirklich und wahr. Und ich habe ja nichts anderes. Er sah mich k¨hl und ver¨chtlich an. u a Also du weißt, zu wem ich gehe. Oder ich kann es auch der Polizei sagen, ” den Wachtmeister kenne ich gut.“ ¨ Er wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn am Armel zur¨ck. Es durfte nicht u sein. Ich w¨re viel lieber gestorben, als alles das zu ertragen, was kommen a w¨rde, wenn er so fortginge. u Franz“, flehte ich, heiser vor Erregung, mach doch keine dummen Sachen! ” ” Gelt, es ist bloß ein Spaß?“ Jawohl, ein Spaß, aber f¨r dich kann er teuer werden.“ u ” Sag mir doch, Franz, was ich tun soll! Ich will ja alles tun!“ ”

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Er musterte mich mit seinen eingekniffenen Augen und lachte wieder. Sei doch nicht dumm!“ sagte er mit falscher Gutm¨tigkeit. Du weißt ja so u ” ” gut Bescheid wie ich. Ich kann zwei Mark verdienen, und ich bin kein reicher Mann, daß ich die wegwerfen kann, das weißt du. Du bist aber reich, du hast sogar eine Uhr. Du brauchst mir bloß die zwei Mark zu geben, dann ist alles gut.“ Ich begriff die Logik. Aber zwei Mark! Das war f¨r mich so viel und uneru reichbar wie zehn, wie hundert, wie tausend Mark. Ich hatte kein Geld. Es gab ein Spark¨stlein, das bei meiner Mutter stand, da waren von Onkelbesuchen a und solchen Anl¨ssen her ein paar Zehn- und F¨nfpfennigst¨cke drin. Sonst a u u hatte ich nichts. Taschengeld bekam ich in jenem Alter noch keines. Ich habe nichts“, sagte ich traurig. Ich habe gar kein Geld. Aber sonst ” ” will ich dir alles geben. Ich habe ein Indianerbuch, und Soldaten, und einen Kompaß. Ich will ihn dir holen.“ Kromer zuckte nur mit dem k¨hnen, b¨sen Mund und spuckte auf den u o Boden. Mach kein Geschw¨tz!“ sagte er befehlend. Deinen Lumpenkram kannst a ” ” du behalten. Einen Kompaß! Mach mich jetzt nicht noch b¨s, h¨rst du, und o o gib das Geld her!“ Aber ich habe keins, ich kriege nie Geld. Ich kann doch nichts daf¨r!“ u ” Also dann bringst du mir morgen die zwei Mark. Ich warte nach der Schule ” unten am Markt. Damit fertig. Wenn du kein Geld bringst, wirst du ja sehen!“ Ja, aber woher soll ich’s denn nehmen? Herrgott, wenn ich doch keins ” habe –“ Es ist Geld genug bei euch im Haus. Das ist deine Sache. Also morgen nach ” der Schule. Und ich sage dir: wenn du es nicht bringst –“ Er schoß mir einen furchtbaren Blick ins Auge, spuckte nochmals aus und war wie ein Schatten verschwunden. Ich konnte nicht hinaufgehen. Mein Leben war zerst¨rt. Ich dachte daran, o fortzulaufen und nie mehr wiederzukommen oder mich zu ertr¨nken. Doch a waren das keine deutlichen Bilder. Ich setzte mich im Dunkel auf die unterste Stufe unsrer Haustreppe, kroch eng in mich zusammen und gab mich dem Ungl¨ck hin. Dort fand Lina mich weinend, als sie mit einem Korb herunteru kam, um Holz zu holen. Ich bat sie, droben nichts zu sagen, und ging hinauf. Am Rechen neben der Glast¨re hing der Hut meines Vaters und der Sonnenschirm meiner Mutter, u Heimat und Z¨rtlichkeit str¨mte mir von allen diesen Dingen entgegen, mein a o Herz begr¨ßte sie flehend und dankbar, wie der verlorene Sohn den Anblick u und Geruch der alten heimatlichen Stuben. Aber das alles geh¨rte mir jetzt o nicht mehr, das alles war lichte Vater- und Mutterwelt, und ich war tief und schuldvoll in die fremde Flut versunken, in Abenteuer und S¨nde verstrickt, u

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vom Feind bedroht und von Gefahren, Angst und Schande erwartet. Der Hut und Sonnenschirm, der gute alte Sandsteinboden, das große Bild uberm Flur¨ schrank, und drinnen aus dem Wohnzimmer her die Stimme meiner ¨lteren a Schwester, das alles war lieber, zarter und k¨stlicher als je, aber es war nicht o Trost mehr und sicheres Gut, es war lauter Vorwurf. Dies alles war nicht mehr mein, ich konnte an seiner Heiterkeit und Stille nicht teilhaben. Ich trug Schmutz an meinen F¨ßen, den ich nicht an der Matte abstreifen konnte, ich u brachte Schatten mit mir, von denen die Heimatwelt nichts wußte. Wieviel Geheimnisse hatte ich schon gehabt, wieviel Bangigkeit, aber es war alles Spiel und Spaß gewesen gegen das, was ich heut mit mir in diese R¨ume brachte. a Schicksal lief mir nach, H¨nde waren nach mir ausgestreckt, vor denen auch a die Mutter mich nicht sch¨tzen konnte, von denen sie nicht wissen durfte. Ob u nun mein Verbrechen ein Diebstahl war oder eine L¨ge (hatte ich nicht einen u falschen Eid bei Gott und Seligkeit geschworen?) – das war einerlei. Meine S¨nde war nicht dies oder das, meine S¨nde war, daß ich dem Teufel die Hand u u gegeben hatte. Warum war ich mitgegangen? Warum hatte ich dem Kromer gehorcht, besser als je meinem Vater? Warum hatte ich die Geschichte von jenem Diebstahl erlogen? Mich mit Verbrechen gebr¨stet, als w¨ren es Helu a dentaten? Nun hielt der Teufel meine Hand, nun war der Feind hinter mir her. F¨r einen Augenblick empfand ich nicht mehr Furcht vor morgen, sondern u vor allem die schreckliche Gewißheit, daß mein Weg jetzt immer weiter bergab und ins Finstere f¨hre. Ich sp¨rte deutlich, daß aus meinem Vergehen neue u u Vergehen folgen mußten, daß mein Erscheinen bei den Geschwistern, mein Gruß und Kuß an die Eltern L¨ge war, daß ich ein Schicksal und Geheimnis u mit mir trug, das ich innen verbarg. Einen Augenblick blitzte Vertrauen und Hoffnung in mir auf, da ich den Hut meines Vaters betrachtete. Ich w¨rde ihm alles sagen, w¨rde sein Urteil u u und seine Strafe auf mich nehmen und ihn zu meinem Mitwisser und Retter machen. Es w¨rde nur eine Buße sein, wie ich sie oft bestanden hatte, eine u schwere, bittere Stunde, eine schwere und reuevolle Bitte um Verzeihung. Wie s¨ß das klang! Wie sch¨n das lockte! Aber es war nichts damit. Ich u o wußte, daß ich es nicht tun w¨rde. Ich wußte, daß ich jetzt ein Geheimnis u hatte, eine Schuld, die ich allein und selber ausfressen mußte. Vielleicht war ich gerade jetzt auf dem Scheidewege, vielleicht w¨rde ich von dieser Stunde u an f¨r immer und immer dem Schlechten angeh¨ren, Geheimnisse mit B¨sen u o o teilen, von ihnen abh¨ngen, ihnen gehorchen, ihresgleichen werden m¨ssen. a u Ich hatte den Mann und Helden gespielt, jetzt mußte ich tragen, was daraus folgte. Es war mir lieb, daß mein Vater sich, als ich eintrat, uber meine nassen Schu¨ he aufhielt. Es lenkte ab, er bemerkte das Schlimmere nicht, und ich durfte

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einen Vorwurf ertragen, den ich heimlich mit auf das andere bezog. Dabei funkelte ein sonderbar neues Gef¨hl in mir auf, ein b¨ses und schneidendes Gef¨hl u o u voll Widerhaken: ich f¨hlte mich meinem Vater uberlegen! Ich f¨hlte, einen u u ¨ Augenblick lang, eine gewisse Verachtung f¨r seine Unwissenheit, sein Schelu ten uber die nassen Stiefel schien mir kleinlich. Wenn du w¨ßtest!“ dachte ich u ¨ ” und kam mir vor wie ein Verbrecher, den man wegen einer gestohlenen Semmel verh¨rt, w¨hrend er Morde zu gestehen h¨tte. Es war ein h¨ßliches und o a a a widriges Gef¨hl, aber es war stark und hatte einen tiefen Reiz, und es kettete u mich fester als jeder andere Gedanke an mein Geheimnis und meine Schuld. Vielleicht, dachte ich, ist der Kromer jetzt schon zur Polizei gegangen und hat mich angegeben, und Gewitter ziehen sich uber mir zusammen, w¨hrend man a ¨ mich hier wie ein kleines Kind betrachtet! Von diesem ganzen Erlebnis, soweit es bis hier erz¨hlt ist, war dieser Augena blick das Wichtige und Bleibende. Es war ein erster Riß in die Heiligkeit des Vaters, es war ein erster Schnitt in die Pfeiler, auf denen mein Kinderleben geruht hatte, und die jeder Mensch, ehe er er selbst werden kann, zerst¨rt o haben muß. Aus diesen Erlebnissen, die niemand sieht, besteht die innere, wesentliche Linie unsres Schicksals. Solch ein Schnitt und Riß w¨chst wieder a zu, er wird verheilt und vergessen, in der geheimsten Kammer aber lebt und blutet er weiter. Mir selbst graute sofort vor dem neuen Gef¨hl, ich h¨tte meinem Vater u a gleich darauf die F¨ße k¨ssen m¨gen, um es ihm abzubitten. Man kann aber u u o nichts Wesentliches abbitten, und das f¨hlt und weiß ein Kind so gut und tief u wie jeder Weise. Ich f¨hlte die Notwendigkeit, uber meine Sache nachzudenken, auf Wege u ¨ f¨r morgen zu sinnen; aber ich kam nicht dazu. Ich hatte den ganzen Abend u einzig damit zu tun, mich an die ver¨nderte Luft in unsrem Wohnzimmer zu a gew¨hnen. Wanduhr und Tisch, Bibel und Spiegel, B¨cherbord und Bilder an o u der Wand nahmen gleichsam Abschied von mir, ich mußte mit erfrierendem Herzen zusehen, wie meine Welt, wie mein gutes, gl¨ckliches Leben Verganu genheit wurde und sich von mir abl¨ste, und mußte sp¨ren, wie ich mit neuen, o u saugenden Wurzeln draußen im Finstern und Fremden verankert und festgehalten war. Zum erstenmal kostete ich den Tod, und der Tod schmeckt bitter, denn er ist Geburt, ist Angst und Bangnis vor furchtbarer Neuerung. Ich war froh, als ich endlich in meinem Bette lag! Zuvor als letztes Fegefeuer war die Abendandacht uber mich ergangen, und wir hatten dazu ein Lied ¨ gesungen, das zu meinen liebsten geh¨rte. Ach, ich sang nicht mit, und jeder o Ton war Galle und Gift f¨r mich. Ich betete nicht mit, als mein Vater den u Segen sprach, und als er endete: – sei mit uns allen!“, da riß eine Zuckung ” mich aus diesem Kreise fort. Die Gnade Gottes war mit ihnen allen, aber nicht mehr mit mir. Kalt und tief erm¨det ging ich weg. u

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Im Bett, als ich eine Weile gelegen war, als W¨rme und Geborgenheit mich a liebevoll umgab, irrte mein Herz in der Angst noch einmal zur¨ck, flatterte u bang um das Vergangene. Meine Mutter hatte mir wie immer gute Nacht gesagt, ihr Schritt klang noch im Zimmer nach, der Schein ihrer Kerze gl¨hte u noch im T¨rspalt. Jetzt, dachte ich, jetzt kommt sie noch einmal zur¨ck – sie u u hat es gef¨hlt, sie gibt mir einen Kuß und fragt, fragt g¨tig und verheißungsu u voll, und dann kamt ich weinen, dann schmilzt mir der Stein im Halse, dann umschlinge ich sie und sage es ihr, und dann ist es gut, dann ist Rettung da! Und als der T¨rspalt schon dunkel geworden war, horchte ich noch eine Weile u und meinte, es m¨sse und m¨sse geschehen. u u Dann kehrte ich zu den Dingen zur¨ck und sah meinem Feind ins Auge. Ich u sah ihn deutlich, das eine Auge hatte er eingekniffen, sein Mund lachte roh, und indem ich ihn ansah und das Unentrinnbare in mich fraß, wurde er gr¨ßer o und h¨ßlicher, und sein b¨ses Auge blitzte teufelhaft. Er war dicht bei mir, a o bis ich einschlief, dann aber tr¨umte ich nicht von ihm und nicht von heute, a sondern mir tr¨umte, wir f¨hren in einem Boot, die Eltern und Schwestern a u und ich, und es umgab uns lauter Friede und Glanz eines Ferientages. Mitten in der Nacht erwachte ich, f¨hlte noch den Nachgeschmack der Seligkeit, sah u noch die weißen Sommerkleider meiner Schwestern in der Sonne schimmern und fiel aus allem Paradies zur¨ck in das, was war, und stand dem Feind mit u dem b¨sen Auge wieder gegen¨ber. o u Am Morgen, als meine Mutter eilig kam und rief, es sei schon sp¨t und a warum ich noch im Bett liege, sah ich schlecht aus, und als sie fragte, ob mir etwas fehle, erbrach ich mich. Damit schien etwas gewonnen. Ich liebte es sehr, ein wenig krank zu sein und einen Morgen lang bei Kamillentee liegenbleiben zu d¨rfen, zuzuh¨ren, u o wie die Mutter im Nebenzimmer aufr¨umte, und wie Lina draußen in der Flur a den Metzger empfing. Der Vormittag ohne Schule war etwas Verzaubertes und M¨rchenhaftes, die Sonne spielte dann ins Zimmer und war nicht dieselbe a Sonne, gegen die man in der Schule die gr¨nen Vorh¨nge herabließ. Aber auch u a das schmeckte heute nicht und hatte einen falschen Klang bekommen. Ja, wenn ich gestorben w¨re! Aber ich war nur so ein wenig unwohl, wie a schon oft, und damit war nichts getan. Das sch¨tzte mich vor der Schule, aber u es sch¨tzte mich keineswegs vor Kromer, der um elf Uhr am Markt auf mich u wartete. Und die Freundlichkeit der Mutter war diesmal ohne Trost; sie war l¨stig und tat weh. Ich stellte mich bald wieder schlafend und dachte nach. Es a half alles nichts, ich mußte um elf Uhr am Markt sein. Darum stand ich um zehn Uhr leise auf und sagte, daß mir wieder wohler geworden sei. Es hieß, wie gew¨hnlich in solchen F¨llen, daß ich entweder wieder zu Bette gehen oder o a am Nachmittag in die Schule gehen m¨sse. Ich sagte, daß ich gern zur Schule u gehe. Ich hatte mir einen Plan gemacht.

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Ohne Geld durfte ich nicht zu Kromer kommen. Ich mußte die kleine Sparb¨chse an mich bekommen, die mir geh¨rte. Es war nicht genug Geld darin, u o das wußte ich, lange nicht genug; aber etwas war es doch, und eine Witterung sagte mir, daß etwas besser sei als nichts und Kromer wenigstens beg¨tigt u werden m¨sse. u Es war mir schlimm zumute, als ich auf Socken in das Zimmer meiner Mutter schlich und aus ihrem Schreibtisch meine B¨chse nahm; aber so schlimm wie u das Gestrige war es nicht. Das Herzklopfen w¨rgte mich, und es wurde nicht u besser, als ich drunten im Treppenhaus beim ersten Untersuchen fand, daß die B¨chse verschlossen war. Es ging sehr leicht, sie aufzubrechen, es war nur ein u d¨nnes Blechgitter zu durchreißen; aber der Riß tat weh, erst damit hatte ich u Diebstahl begangen. Bis dahin hatte ich nur genascht, Zuckerst¨cke und Obst. u Dies nun war gestohlen, obwohl es mein eigenes Geld war. Ich sp¨rte, wie ich u wieder einen Schritt n¨her bei Kromer und seiner Welt war, wie es so h¨bsch a u Zug um Zug abw¨rts ging, und setzte Trotz dagegen. Mochte mich der Teufel a holen, jetzt ging kein Weg mehr zur¨ck. Ich z¨hlte das Geld mit Angst, es u a hatte in der B¨chse so voll geklungen, nun in der Hand war es elend wenig. Es u waren f¨nfundsechzig Pfennige. Ich versteckte die B¨chse in der untern Flur, u u hielt das Geld in der geschlossenen Hand und trat aus dem Hause, anders als ich je durch dieses Tor gegangen war. Oben rief jemand nach mir, wie mir schien; ich ging schnell davon. Es war noch viel Zeit, ich dr¨ckte mich auf Umwegen durch die Gassen u einer ver¨nderten Stadt, unter niegesehenen Wolken hin, an H¨usern vorbei, a a die mich ansahen, und an Menschen, die Verdacht auf mich hatten. Unterwegs fiel mir ein, daß ein Schulkamerad von mir einmal auf dem Viehmarkt einen Taler gefunden hatte. Gern h¨tte ich gebetet, daß Gott ein Wunder tun und a mich auch einen solchen Fund machen lassen m¨ge. Aber ich hatte kein Recht o mehr zu beten. Und auch dann w¨re die B¨chse nicht wieder ganz geworden. a u Franz Kromer sah mich von weitem, doch kam er ganz langsam auf mich zu und schien nicht auf mich zu achten. Als er in meiner N¨he war, gab er a mir einen befehlenden Wink, daß ich ihm folgen solle, und ging, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, ruhig weiter, die Strohgasse hinab und uber den ¨ Steg, bis er bei den letzten H¨usern vor einem Neubau hielt. Es wurde dort a nicht gearbeitet, die Mauern standen kahl ohne T¨ren und Fenster. Kromer u sah sich um und ging durch die T¨r hinein, ich ihm nach. Er trat hinter die u Mauer, winkte mich zu sich und streckte die Hand aus. Hast du’s?“ fragte er k¨hl. u ” Ich zog die geballte Hand aus der Tasche und sch¨ttete mein Geld in seine u flache Hand. Er hatte es gez¨hlt, noch eh der letzte F¨nfer ausgeklungen hatte. a u Das sind f¨nfundsechzig Pfennig“, sagte er und sah mich an. u ” Ja“, sagte ich sch¨chtern. Das ist alles, was ich habe, es ist zuwenig, ich u ” ”

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weiß wohl. Aber es ist alles. Ich habe nicht mehr.“ Ich h¨tte dich f¨r gescheiter gehalten“, schalt er mit einem beinah milden a u ” Tadel. Unter Ehrenm¨nnern soll Ordnung sein. Ich will dir nichts abnehmen, a ” was nicht recht ist, das weißt du. Nimm deine Nickel wieder, da! Der andere – du weißt, wer – versucht nicht, mich herunter zu handeln. Der zahlt.“ Aber ich habe und habe nicht mehr! Es war meine Sparkasse.“ ” Das ist deine Sache. Aber ich will dich nicht ungl¨cklich machen. Du bist u ” mir noch eine Mark und f¨nfunddreißig Pfennig schuldig. Wann krieg ich die?“ u Oh, du kriegst sie gewiß, Kromer! Ich weiß jetzt nicht – vielleicht habe ich ” bald mehr, morgen oder ubermorgen. Du begreifst doch, daß ich es meinem ¨ Vater nicht sagen kann.“ Das geht mich nichts an. Ich bin nicht so, daß ich dir schaden will. Ich ” k¨nnte ja mein Geld noch vor Mittag haben, siehst du, und ich bin arm. o Du hast sch¨ne Kleider an, und du kriegst was Besseres zu Mittag zu essen o als ich. Aber ich will nichts sagen. Ich will meinetwegen ein wenig warten. ¨ Ubermorgen pfeife ich dir, am Nachmittag, dann bringst du es in Ordnung. Du kennst meinen Pfiff?“ Er pfiff ihn mir vor, ich hatte ihn oft geh¨rt. o Ja“, sagte ich, ich weiß.“ ” ” Er ging weg, als geh¨rte ich nicht zu ihm. Es war ein Gesch¨ft zwischen uns o a gewesen, weiter nichts. Noch heute, glaube ich, w¨rde Kromers Pfiff mich erschrecken machen, wenn u ich ihn pl¨tzlich wieder h¨rte. Ich h¨rte ihn von nun an oft, mir schien, ich o o o h¨re ihn immer und immerzu. Kein Ort, kein Spiel, keine Arbeit, kein Gedano ke, wohin dieser Pfiff nicht drang, der mich abh¨ngig machte, der jetzt mein a Schicksal war. Oft war ich in unsrem kleinen Blumengarten, den ich sehr liebte, an den sanften, farbigen Herbstnachmittagen, und ein sonderbarer Trieb hieß mich, Knabenspiele fr¨herer Epochen wieder aufzunehmen; ich spielte u gewissermaßen einen Knaben, der j¨nger war als ich, der noch gut und frei, u unschuldig und geborgen war. Aber mitten hinein, immer erwartet und immer doch entsetzlich aufst¨rend und uberraschend, klang der Kromersche Pfiff von o ¨ irgendwoher, schnitt den Faden ab, zerst¨rte die Einbildungen. Dann mußte o ich gehen, mußte meinem Peiniger an schlechte und h¨ßliche Orte folgen, mußa te ihm Rechenschaft ablegen und mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze hat vielleicht einige Wochen gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten hatte ich Geld, einen F¨nfer oder einen Groschen, der u vom K¨chentisch gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ. u jedesmal wurde ich von Kromer gescholten und mit Verachtung uberh¨uft; a ¨ ich war es, der ihn betr¨gen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, u ich war es, der ihn bestahl, ich war es, der ihn ungl¨cklich machte! Nicht oft u

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im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, nie habe ich gr¨ßere o Hoffnungslosigkeit, gr¨ßere Abh¨ngigkeit gef¨hlt. o a u Die Sparb¨chse hatte ich mit Spielmarken gef¨llt und wieder an ihren Ort u u gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag uber mich ¨ hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff f¨rchtete ich mich oft u vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat – kam sie nicht, um mich nach der B¨chse zu fragen? u Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu qu¨len und zu benutzen. Ich mußte f¨r ihn arbeiten. Er a u hatte f¨r seinen Vater Ausg¨nge zu besorgen, ich mußte sie f¨r ihn besorgen. u a u Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollf¨hren, zehn Minuten lang auf u einem Bein zu h¨pfen, einem Vor¨bergehenden einen Papierwisch an den Rock u u zu heften. In Tr¨umen vieler N¨chte setzte ich diese Plagen fort und lag im a a Schweiß des Alpdruckes. Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt, nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter f¨hlte, daß etwas nicht richtig u sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich qu¨lte, weil ich sie nicht mit a Vertrauen erwidern konnte. Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein St¨ckchen u Schokolade. Es war ein Anklang an fr¨here Jahre, wo ich abends, wenn ich u brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte. Nun stand sie da und hielt mir das St¨ckchen Schokolade hin. Mir war so u weh, daß ich nur den Kopf sch¨tteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie u streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: Nicht! Nicht! Ich will ” nichts haben.“ Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging. Als sie mich andern Tages dar¨ber ausfragen wollte, tat ich, als w¨ßte ich nichts mehr u u davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb. Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten f¨r eine Stunde. Gegen u meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich verschlossen und kalt.

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Kain
Die Rettung aus meinen Qualen kam von ganz unerwarteter Seite, und zugleich mit ihr kam etwas Neues in mein Leben, das bis heute fortgewirkt hat. In unserer Lateinschule war vor kurzem ein neuer Sch¨ler eingetreten. Er u war der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, ¨ und er trug einen Trauerflor um den Armel. Er ging in eine h¨here Klasse o als ich und war mehrere Jahre ¨lter, aber auch mir fiel er bald auf, wie ala len. Dieser merkw¨rdige Sch¨ler schien viel ¨lter zu sein, als er aussah, auf u u a niemanden machte er den Eindruck eines Knaben. Zwischen uns kindischen Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein Herr. Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an Raufereien teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die Lehrer gefiel den andern. Er hieß Max Demian. Eines Tages traf es sich, wie es in unsrer Schule hie und da vorkam, daß aus irgendwelchen Gr¨nden noch eine zweite Klasse in unser sehr großes Schulzimu mer gesetzt wurde. Es war die Klasse Demians. Wir Kleinen hatten biblische Geschichte, die Großen mußten einen Aufsatz machen. W¨hrend man uns die a Geschichte von Kain und Abel einbleute, sah ich viel zu Demian hin¨ber, desu sen Gesicht mich eigent¨mlich faszinierte, und sah dies kluge, helle, ungemein u feste Gesicht aufmerksam und geistvoll uber seine Arbeit gebeugt; er sah gar ¨ nicht aus wie ein Sch¨ler, der eine Aufgabe macht, sondern wie ein Forscher, u der eigenen Problemen nachgeht. Angenehm war er mir eigentlich nicht, im Gegenteil, ich hatte irgend etwas gegen ihn, er war mir zu uberlegen und k¨hl, u ¨ er war mir allzu herausfordernd sicher in seinem Wesen, und seine Augen hatten den Ausdruck der Erwachsenen – den die Kinder nie lieben – ein wenig traurig mit Blitzen von Spott darin. Doch mußte ich ihn immerfort ansehen, er mochte mir lieb oder leid sein; kaum aber blickte er einmal auf mich, so zog ich meinen Blick erschrocken zur¨ck. Wenn ich es mir heute uberlege, wie er u ¨ damals als Sch¨ler aussah, so kann ich sagen: er war in jeder Hinsicht anders u als alle, war durchaus eigen und pers¨nlich gestempelt, und fiel darum auf o – zugleich aber tat er alles, um nicht aufzufallen, trug und benahm sich wie ein verkleideter Prinz, der unter Bauernbuben ist und sich jede M¨he gibt, u ihresgleichen zu scheinen.

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Auf dem Heimweg von der Schule ging er hinter mir. Als die anderen sich verlaufen hatten, uberholte er mich und gr¨ßte. Auch dies Gr¨ßen, obwohl er u u ¨ unsern Schuljungenton dabei nachmachte, war so erwachsen und h¨flich. o Gehen wir ein St¨ck weit zusammen?“ fragte er freundlich. Ich war geu ” schmeichelt und nickte. Dann beschrieb ich ihm, wo ich wohne. ¨ Ah, dort?“ sagte er l¨chelnd. Das Haus kenne ich schon. Uber eurer a ” ” Haust¨r ist so ein merkw¨rdiges Ding angebracht, das hat mich gleich inu u teressiert.“ Ich wußte gar nicht gleich, was er meine, und war erstaunt, daß er unser Haus besser zu kennen schien als ich. Es war wohl als Schlußstein uber der ¨ Torw¨lbung eine Art Wappen vorhanden, doch war es im Lauf der Zeiten flach o und oftmals mit Farbe uberstrichen worden, mit uns und unsrer Familie hatte ¨ es, soviel ich wußte, nichts zu tun. Ich weiß nichts dar¨ber“, sagte ich sch¨chtern. Es ist ein Vogel oder so u u ” ¨ ” was Ahnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll fr¨her einmal zum Kloster u geh¨rt haben.“ o Das kann schon sein“, nickte er. Sieh dir’s einmal gut an! Solche Sachen ” ” sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist.“ Wir gingen weiter, ich war sehr befangen. Pl¨tzlich lachte Demian, als falle o ihm etwas Lustiges ein. Ja, ich habe ja da eurer Stunde beigewohnt“, sagte er lebhaft. Die Ge” ” schichte von Kain, der das Zeichen auf der Stirn trug, nicht wahr? Gef¨llt sie a dir?“ Nein, gefallen hatte mir selten irgend etwas von all dem, was wir lernen mußten. Ich wagte es aber nicht zu sagen, es war, als rede ein Erwachsener mit mir. Ich sagte, die Geschichte gefalle mir ganz gut. Demian klopfte mir auf die Schulter. Du brauchst mir nichts vorzumachen, Lieber. Aber die Geschichte ist tat” s¨chlich recht merkw¨rdig, ich glaube, sie ist viel merkw¨rdiger als die meisten a u u andern, die im Unterricht vorkommen. Der Lehrer hat ja nicht viel dar¨ber u ¨ gesagt, nur so das Ubliche uber Gott und die S¨nde und so weiter. Aber ich u ¨ glaube –“, er unterbrach sich, l¨chelte und fragte: Interessiert es dich aber?“ a ” Ja, ich glaube also“, fuhr er fort, man kann diese Geschichte von Kain ” ” auch ganz anders auffassen. Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz wahr und richtig, aber man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun, und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn. Mit diesem Kain zum Beispiel und mit dem Zeichen auf seiner Stirn kann man doch nicht recht zufrieden sein, so wie der uns erkl¨rt wird. Findest du nicht a auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschl¨gt, kann ja gewiß passieren, a und daß er nachher Angst kriegt und klein beigibt, ist auch m¨glich. Daß er o

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aber f¨r seine Feigheit extra mit einem Orden ausgezeichnet wird, der ihn u sch¨tzt und allen andern Angst einjagt, ist doch recht sonderbar.“ u Freilich“, sagte ich interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. Aber ” ” wie soll man die Geschichte anders erkl¨ren?“ a Er schlug mir auf die Schulter. Ganz einfach! Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren ” Anfang genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht, ihn anzur¨hren, u er imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob geht es im Leben selten zu. Viel eher war es etwas kaum wahrnehmbares Unheimliches, ein wenig mehr Geist und K¨hnheit im Blick, als die Leute gewohnt waren. u Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein Zeichen‘. Man konnte das erkl¨ren, wie man wollte. Und man‘ will immer das, a ’ ’ was einem bequem ist und recht gibt. Man hatte Furcht vor den Kainskindern, sie hatten ein Zeichen‘. Also erkl¨rte man das Zeichen nicht als das, was es a ’ war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und das waren sie auch. Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, ¨ und nun h¨ngte man diesem Geschlecht einen Ubernamen und eine Fabel an, a um sich an ihm zu r¨chen, um sich f¨r alle die ausgestandne Furcht ein bißchen a u schadlos zu halten. Begreifst du?“ Ja – das heißt – dann w¨re ja Kain also gar nicht b¨se gewesen? Und die a o ” ganze Geschichte in der Bibel w¨re eigentlich gar nicht wahr?“ a Ja und nein. So alte, uralte Geschichten sind immer wahr, aber sie sind ” nicht immer so aufgezeichnet und werden nicht immer so erkl¨rt, wie es richtig a w¨re. Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und bloß, weil man a Angst vor ihm hatte, h¨ngte man ihm diese Geschichte an. Die Geschichte a war einfach ein Ger¨cht, so etwas, was die Leute herumschw¨tzen, und es war u a insofern ganz wahr, als Kain und seine Kinder ja wirklich eine Art Zeichen‘ ’ trugen und anders waren als die meisten Leute.“ Ich war sehr erstaunt. Und dann glaubst du, daß auch das mit dem Totschlag gar nicht wahr ist?“ ” fragte ich ergriffen. O doch! Sicher ist das wahr. Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen. ” Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann man ja zweifeln. Es ist nicht wichtig, schließlich sind alle Menschen Br¨der. Also ein Starker hat einen Schwau chen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch nicht. Jedenfalls aber waren die andern Schwachen jetzt voller Angst, sie beklagten sich sehr, und wenn man sie fragte: Warum schlaget ihr ihn nicht einfach auch ’

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tot?‘ dann sagten sie nicht: Weil wir Feiglinge sind‘, sondern sie sagten: Man ’ ’ kann nicht. Er hat ein Zeichen. Gott hat ihn gezeichnet!‘ Etwa so muß der Schwindel entstanden sein. – Na, ich halte dich auf. Adieu denn!“ Er bog in die Altgasse ein und ließ mich allein, verwunderter, als ich je gewesen war. Kaum war er weg, so erschien mir alles, was er gesagt hatte, ganz unglaublich! Kain ein edler Mensch, Abel ein Feigling! Das Kainszeichen eine Auszeichnung! Es war absurd, es war gottesl¨sterlich und ruchlos. Wo blieb a dann der liebe Gott? Hatte der nicht Abels Opfer angenommen, hatte der nicht Abel lieb? – Nein, dummes Zeug! Und ich vermutete, Demian habe sich uber mich lustig machen und mich aufs Glatteis locken wollen. Ein verflucht ¨ gescheiter Kerl war er ja, und reden konnte er, aber so – nein – Immerhin hatte ich noch niemals uber irgendeine biblische oder andere Ge¨ schichte so viel nachgedacht. Und hatte seit langem noch niemals den Franz Kromer so v¨llig vergessen, stundenlang, einen ganzen Abend lang. Ich las zu o Hause die Geschichte noch einmal durch, wie sie in der Bibel stand, sie war kurz und deutlich, und es war ganz verr¨ckt, da nach einer besonderen, geheiu men Deutung zu suchen. Da k¨nnte jeder Totschl¨ger sich f¨r Gottes Liebling o a u erkl¨ren! Nein, es war Unsinn. Nett war bloß die Art, wie Demian solche Saa chen sagen konnte, so leicht und h¨bsch, wie wenn alles selbstverst¨ndlich u a w¨re, und mit diesen Augen dazu! a Etwas freilich war ja bei mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in Unordnung. Ich hatte in einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak ich so tief im andern“, war so sehr ” gefallen und gesunken, und doch konnte ich im Grunde nicht so sehr viel daf¨r! u Wie war es nun damit? Ja, und jetzt blitzte eine Erinnerung in mir herauf, die mir f¨r einen Augenblick fast den Atem nahm. An jenem ublen Abend, wo u ¨ mein jetziges Elend angefangen hatte, da war das mit meinem Vater gewesen, da hatte ich, einen Augenblick lang, ihn und seine lichte Welt und Weisheit auf einmal wie durchschaut und verachtet! Ja, da hatte ich selber, der ich Kain war und das Zeichen trug, mir eingebildet, dies Zeichen sei keine Schande, es sei eine Auszeichnung und ich stehe durch meine Bosheit und mein Ungl¨ck u h¨her als mein Vater, h¨her als die Guten und Frommen. o o Nicht in dieser Form des klaren Gedankens war es, daß ich die Sache damals erlebte, aber alles dies war darin enthalten, es war nur ein Aufflammen von Gef¨hlen, von seltsamen Regungen, welche weh taten und mich doch mit Stolz u erf¨llten. u Wenn ich mich besann – wie sonderbar hatte Demian von den Furchtlosen und den Feigen gesprochen! Wie seltsam hatte er das Zeichen auf Kains Stirne gedeutet! Wie hatte sein Auge, sein merkw¨rdiges Auge eines Erwachsenen, u dabei wunderlich geleuchtet! Und es schoß mir unklar durch den Kopf – ist nicht er selber, dieser Demian, so eine Art Kain? Warum verteidigt er ihn,

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wenn er sich nicht ihm ¨hnlich f¨hlt? Warum hat er diese Macht im Blick? a u Warum spricht er so h¨hnisch von den andern“, von den Furchtsamen, welche o ” doch eigentlich die Frommen und Gott Wohlgef¨lligen sind? a Ich kam mit diesen Gedanken zu keinem Ende. Es war ein Stein in den Brunnen gefallen, und der Brunnen war meine junge Seele. Und f¨r eine lange, u sehr lange Zeit war diese Sache mit Kain, dem Totschlag und dem Zeichen der Punkt, bei dem meine Versuche zu Erkenntnis, Zweifel und Kritik alle ihren Ausgang nahmen. Ich merkte, daß auch die andern Sch¨ler sich mit Demian viel besch¨ftigten. u a Von der Geschichte wegen Kain hatte ich niemandem etwas gesagt, aber er schien auch andre zu interessieren. Wenigstens kamen viel Ger¨chte uber den u ¨ Neuen“ in Umlauf. Wenn ich sie nur noch alle wußte, jedes w¨rde ein Licht u ” auf ihn werfen, jedes w¨rde zu deuten sein. Ich weiß nur noch, daß zuerst u verlautete, die Mutter Demians sei sehr reich. Auch sagte man, sie gehe nie in die Kirche, und der Sohn auch nicht. Sie seien Juden, wollte einer wissen, aber sie konnten auch heimliche Mohammedaner sein. Weiter wurden M¨rchen a erz¨hlt von Max Demians K¨rperkraft. Sicher war, daß er den St¨rksten seiner a o a Klasse, der ihn zum Raufen aufforderte und ihn bei seiner Weigerung einen Feigling hieß, furchtbar dem¨tigte. Die, die dabei waren, sagten, Demian habe u ihn bloß mit einer Hand im Genick genommen und fest gedr¨ckt, dann sei der u Knabe bleich geworden, und nachher sei er weggeschlichen und habe tagelang seinen Arm nicht mehr brauchen k¨nnen. Einen Abend lang hieß es sogar, er o sei tot. Alles wurde eine Weile behauptet, alles geglaubt, alles war aufregend und wundersam. Dann hatte man f¨r eine Weile genug. Nicht viel sp¨ter aber u a kamen neue Ger¨chte unter uns Sch¨lern auf, die wußten davon zu berichten, u u daß Demian vertrauten Umgang mit M¨dchen habe und alles wisse“. a ” Inzwischen ging meine Sache mit Franz Kromer ihren zwangsl¨ufigen Weg a weiter. Ich kam nicht von ihm los, denn wenn er mich auch zwischenein tagelang in Ruhe ließ, war ich doch an ihn gebunden. In meinen Tr¨umen lebte er a wie mein Schatten mit, und was er mir nicht in der Wirklichkeit antat, das ließ meine Phantasie ihn in diesen Tr¨umen tun, in denen ich ganz und gar sein a Sklave wurde. Ich lebte in diesen Tr¨umen – ein starker Tr¨umer war ich ima a mer – mehr als im Wirklichen, ich verlor Kraft und Leben an diese Schatten. Unter anderem tr¨umte ich oft, daß Kromer mich mißhandelte, daß er mich a anspie und auf mir kniete, und, was schlimmer war, daß er mich zu schweren Verbrechen verf¨hrte – vielmehr nicht verf¨hrte, sondern einfach durch seiu u nen m¨chtigen Einfluß zwang. Der furchtbarste dieser Tr¨ume, aus dem ich a a halb wahnsinnig erwachte, enthielt einen Mordanfall auf meinen Vater. Kromer schliff ein Messer und gab es mir in die Hand, wir standen hinter den B¨umen einer Allee und lauerten aufjemand, ich wußte nicht auf wen; aber a

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als jemand daherkam und Kromer mir durch einen Druck auf meinen Arm sagte, der sei es, den ich erstechen m¨sse, da war es mein Vater. Da erwachte u ich. ¨ Uber diesen Dingen dachte ich zwar wohl noch an Kain und Abel, aber wenig mehr an Demian. Als er mir zuerst wieder nahetrat, war es merkw¨rdigerweise u auch in einem Traume. N¨mlich ich tr¨umte wieder von Mißhandlungen und a a Vergewaltigung, die ich erlitt, aber statt Kromer war es diesmal Demian, der auf mir kniete. Und – das war ganz neu und machte mir tiefen Eindruck – alles, was ich von Kromer unter Qual und Widerstreben erlitten hatte, das erlitt ich von Demian gerne und mit einem Gef¨hl, das ebensoviel Wonne wie u Angst enthielt. Diesen Traum hatte ich zweimal, dann trat Kromer wieder an seine Stelle. Was ich in diesen Tr¨umen erlebte und was in der Wirklichkeit, das kann a ich l¨ngst nicht mehr genau trennen. Jedenfalls aber nahm mein schlimmes a Verh¨ltnis zu Kromer seinen Lauf und war nicht etwa zu Ende, als ich dem a Knaben endlich die geschuldete Summe aus lauter kleinen Diebst¨hlen abbea zahlt hatte. Nein, jetzt wußte er von diesen Diebst¨hlen, denn er fragte mich a immer, woher das Geld komme, und ich war mehr in seiner Hand als jemals. H¨ufig drohte er, meinem Vater alles zu sagen, und dann war meine Angst a kaum so groß wie das tiefe Bedauern dar¨ber, daß ich das nicht von Anfang u an selber getan hatte. Indessen, und so elend ich war, bereute ich doch nicht alles, wenigstens nicht immer, und glaubte zuweilen zu f¨hlen, daß alles so u sein m¨sse. Ein Verh¨ngnis war uber mir, und es war unn¨tz, es durchbrechen u a u ¨ zu wollen. Vermutlich litten meine Eltern unter diesem Zustande nicht wenig. Es war ein fremder Geist uber mich gekommen, ich paßte nicht mehr in unsre Ge¨ meinschaft, die so innig gewesen war, und nach der mich oft ein rasendes Heimweh wie nach verlorenen Paradiesen uberfiel. Ich wurde, namentlich von ¨ der Mutter, mehr wie ein Kranker behandelt als wie ein B¨sewicht, aber wie o es eigentlich stand, konnte ich am besten aus dem Benehmen meiner beiden Schwestern sehen. In diesem Benehmen, das sehr schonend war und mich dennoch unendlich beelendete, gab sich deutlich kund, daß ich eine Art von Besessener war, der f¨r seinen Zustand mehr zu beklagen als zu schelten war, u in dem aber doch eben das B¨se seinen Sitz genommen hatte. Ich f¨hlte, daß o u man f¨r mich betete, anders als sonst, und f¨hlte die Vergeblichkeit dieses u u Betens. Die Sehnsucht nach Erleichterung, das Verlangen nach einer richtigen Beichte sp¨rte ich oft brennend, und empfand doch auch voraus, daß ich u weder Vater noch Mutter alles richtig w¨rde sagen und erkl¨ren k¨nnen. Ich u a o wußte, man w¨rde es freundlich aufnehmen, man w¨rde mich sehr schonen, u u ja bedauern, aber nicht ganz verstehen, und das Ganze w¨rde als eine Art u Entgleisung angesehen werden, w¨hrend es doch Schicksal war. a

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Ich weiß, daß manche nicht glauben werden, daß ein Kind von noch nicht elf Jahren so zu f¨hlen verm¨ge. Diesen erz¨hle ich meine Angelegenheit nicht. u o a Ich erz¨hle sie denen, welche den Menschen besser kennen. Der Erwachsene, a der gelernt hat, einen Teil seiner Gef¨hle in Gedanken zu verwandeln, vermißt u diese Gedanken beim Kinde und meint nun, auch die Erlebnisse seien nicht da. Ich aber habe nur selten in meinem Leben so tief erlebt und gelitten wie damals. Einst war ein Regentag, ich war von meinem Peiniger auf den Burgplatz bestellt worden, da stand ich nun und wartete und w¨hlte mit den F¨ßen im nasu u sen Kastanienlaub, das noch immerzu von den schwarzen, triefenden B¨umen a fiel. Geld hatte ich nicht, aber ich hatte zwei St¨cke Kuchen beiseite gebracht u und trug sie bei mir, um dem Kromer wenigstens etwas geben zu k¨nnen. o Ich war es l¨ngst gewohnt, so irgendwo in einem Winkel zu stehen und auf a ihn zu warten, oft sehr lange Zeit, und ich nahm es hin, wie der Mensch das Unab¨nderliche hinnimmt. a Endlich kam Kromer. Er blieb heute nicht lang. Er gab mir ein paar Kn¨ffe u in die Rippen, lachte, nahm mir den Kuchen ab, bot mir sogar eine feuchte Zigarette an, die ich jedoch nicht nahm, und war freundlicher als gew¨hnlich. o Ja“ , sagte er beim Weggehen, daß ich’s nicht vergessedu k¨nntest das o ” ” n¨chste Mal deine Schwester mitbringen, die ¨ltere. Wie heißt sie eigentlich?“ a a Ich verstand gar nicht, gab auch keine Antwort. Ich sah ihn nur verwundert an. Kapierst du nicht? Deine Schwester sollst du mitbringen.“ ” Ja, Kromer, aber das geht nicht. Das darf ich nicht, und sie k¨me auch gar a ” nicht mit.“ Ich war darauf gefaßt, daß das nur wieder eine Schikane und ein Vorwand sei. So machte er es oft, verlangte irgend etwas Unm¨gliches, setzte mich in o Schrecken, dem¨tigte mich und ließ dann allm¨hlich mit sich handeln. Ich u a mußte mich dann mit etwas Geld oder anderen Gaben loskaufen. Diesmal war er ganz anders. Er wurde auf meine Weigerung hin fast gar nicht b¨se. o Na ja“, sagte er obenhin, du wirst dir das uberlegen. Ich m¨chte mit o ¨ ” ” deiner Schwester bekannt werden. Es wird schon einmal gehen. Du nimmst sie einfach auf einen Spaziergang mit, und dann komme ich dazu. Morgen pfeife ich dich an, dann sprechen wir noch einmal dr¨ber.“ u Als er fort war, d¨mmerte mir pl¨tzlich etwas vom Sinn seines Begehrens a o auf. Ich war noch v¨llig Kind, aber ich wußte ger¨chtweise davon, daß Knao u ben und M¨dchen, wenn sie etwas alter waren, irgendwelche geheimnisvolle, a ¨ anst¨ßige und verbotene Dinge miteinander treiben konnten. Und nun sollte o ich also – es wurde mir ganz pl¨tzlich klar, wie ungeheuerlich es war! Mein o

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Entschluß, das nie zu tun, stand sofort fest. Aber was dann geschehen und wie Kromer sich an mir r¨chen w¨rde, daran wagte ich kaum zu denken. Es a u begann eine neue Marter f¨r mich, es war noch nicht genug. u Trostlos ging ich uber den leeren Platz, die H¨nde in den Taschen. Neue a ¨ Qualen, neue Sklaverei! Da rief mich eine frische, tiefe Stimme an. Ich erschrak und fing zu laufen an. Jemand lief mir nach, eine Hand faßte mich sanft von hinten. Es war Max Demian. Ich gab mich gefangen. Du bist es?“ sagte ich unsicher. Du hast mich so erschreckt!“ ” ” Er sah mich an, und nie war sein Blick mehr der eines Erwachsenen, eines Oberlegenen und Durchschauenden gewesen als jetzt. Seit langem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Das tut mir leid“, sagte er mit seiner h¨flichen und dabei sehr bestimmten o ” Art. Aber h¨re, man muß sich nicht so erschrecken lassen.“ o ” Nun ja, das kann doch passieren.“ ” Es scheint so. Aber sieh: wenn du vor jemand, der dir nichts getan hat, so ” zusammenf¨hrst, dann f¨ngt der Jemand an nachzudenken. Es wundert ihn, a a es macht ihn neugierig. Der Jemand denkt sich, du seiest doch merkw¨rdig u schreckhaft, und er denkt weiter: so ist man bloß, wenn man Angst hat. Feiglinge haben immer Angst; aber ich glaube, ein Feigling bist du eigentlich nicht. Nicht wahr? O freilich, ein Held bist du auch nicht. Es gibt Dinge, vor denen du Furcht hast; es gibt auch Menschen, vor denen du Furcht hast. Und das sollte man nie haben. Nein, vor Menschen sollte man niemals Furcht haben. Du hast doch keine vor mir? Oder?“ O nein, gar nicht.“ ” Eben, siehst du. Aber es gibt Leute, vor denen du Furcht hast?“ ” Ich weiß nicht . . . Laß mich doch, was willst du von mir?“ ” Er hielt mit mir Schritt – ich war rascher gegangen, mit Fluchtgedanken – und ich f¨hlte seinen Blick von der Seite her. u Nimm einmal an“, fing er wieder an, daß ich es gut mit dir meine. Angst ” ” brauchst du jedenfalls vor mir nicht zu haben. Ich m¨chte gern ein Experiment o mit dir machen, es ist lustig und du kannst etwas dabei lernen, was sehr brauchbar ist. Paß einmal auf! – Also ich versuche manchmal eine Kunst, die man Gedankenlesen heißt. Es ist keine Hexerei dabei, aber wenn man nicht weiß, wie es gemacht wird, dann sieht es ganz eigent¨mlich aus. Man kann u die Leute sehr damit uberraschen. – Nun, wir probieren einmal. Also ich habe ¨ dich gern, oder ich interessiere mich f¨r dich und m¨chte nun herausbringen, u o wie es in dir drinnen aussieht. Dazu habe ich den ersten Schritt schon getan. Ich habe dich erschreckt – du bist also schreckhaft. Es gibt also Sachen und Menschen, vor denen du Angst hast. Woher kann das kommen? Man braucht

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vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemand f¨rchtet, dann kommt es u daher, daß man diesem Jemand Macht uber sich einger¨umt hat. Man hat a ¨ zum Beispiel etwas B¨ses getan, und der andre weiß das – dann hat er Macht o uber dich. Du kapierst? Es ist doch klar, nicht?“ ¨ Ich sah ihm hilflos ins Gesicht, das war ernst und klug wie stets, und auch g¨tig, aber ohne alle Z¨rtlichkeit, es war eher streng. Gerechtigkeit oder etu a ¨ was Ahnliches lag darin. Ich wußte nicht, wie mir geschah; er stand wie ein Zauberer vor mir. Hast du verstanden?“ fragte er noch einmal. ” Ich nickte. Sagen konnte ich nichts. Ich sagte dir ja, es sieht komisch aus, das Gedankenlesen, aber es geht ” ganz nat¨rlich zu. Ich k¨nnte dir zum Beispiel auch ziemlich genau sagen, u o was du uber mich gedacht hast, als ich einmal dir die Geschichte von Kain ¨ und Abel erz¨hlt hatte. Nun, das geh¨rt nicht hierher. Ich halte es auch f¨r a o u m¨glich, daß du einmal von mir getr¨umt hast. Lassen wir das aber! Du bist o a ein gescheiter Junge, die meisten sind so dumm! Ich rede gern hie und da mit einem gescheiten jungen, zu dem ich Vertrauen habe. Es ist dir doch recht?“ O ja. Ich verstehe nur gar nicht –“ ” Bleiben wir einmal bei dem lustigen Experiment! Wir haben also gefunden: ” der Knabe S. ist schreckhaft – er f¨rchtet jemanden – er hat wahrscheinlich u mit diesem andern ein Geheimnis, das ihm sehr unbequem ist. – Stimmt das ungef¨hr?“ a Wie im Traum unterlag ich seiner Stimme, seinem Einfluß. Ich nickte nur. Sprach da nicht eine Stimme, die nur aus mir selber kommen konnte? Die alles wußte? Die alles besser, klarer wußte als ich selber? Kr¨ftig schlug mir Demian auf die Schulter. a Es stimmt also. Ich konnte mir’s denken. Jetzt bloß noch eine einzige Frage: ” weißt du, wie der Junge heißt, der da vorhin wegging?“ Ich erschrak heftig, mein angetastetes Geheimnis kr¨mmte sich schmerzhaft u in mir zur¨ck, es wollte nicht ans Licht. u Was f¨r ein Junge? Es war kein Junge da, bloß ich.“ u ” Er lachte. Sag’s nur!“ lachte er. Wie heißt er?“ ” ” Ich fl¨sterte: Meinst du den Franz Kromer?“ u ” Befriedigt nickte er mir zu. Bravo! Du bist ein fixer Kerl, wir werden noch Freunde werden. Nun muß ” ich dir aber etwas sagen: dieser Kromer, oder wie er heißt, ist ein schlechter Kerl. Sein Gesicht sagt mir, daß er ein Schuft ist! Was meinst du?“ O ja“, seufzte ich auf, er ist schlecht, er ist ein Satan! Aber er darf nichts ” ” wissen! Um Gottes willen, er darf nichts wissen! Kennst du ihn? Kennt er dich?“

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Sei nur ruhig! Er ist fort, und er kennt mich nicht – noch nicht. Aber ich ” m¨chte ihn ganz gern kennenlernen. Er geht in die Volksschule?“ o Ja.“ ” In welche Klasse?“ ” In die f¨nfte. – Aber sag ihm nichts! Bitte, bitte sag ihm nichts!“ u ” Sei ruhig, es passiert dir nichts. Vermutlich hast du keine Lust, mir ein ” wenig mehr von diesem Kromer zu erz¨hlen?“ a Ich kann nicht! Nein, laß mich!“ Er schwieg eine Weile. ” Schade“, sagte er dann, wir h¨tten das Experiment noch weiter f¨hren a u ” ” k¨nnen. Aber ich will dich nicht plagen. Aber nicht wahr, das weißt du doch, o daß deine Furcht vor ihm nichts Richtiges ist? So eine Furcht macht uns ganz kaputt, die muß man loswerden. Du mußt sie loswerden, wenn ein rechter Kerl aus dir werden soll. Begreifst du?“ Gewiß, du hast ganz recht . . . aber es geht nicht. Du weißt ja nicht . . .“ ” Du hast gesehen, daß ich manches weiß, mehr als du gedacht h¨ttest. – a ” Bist du ihm etwa Geld schuldig?“ Ja, das auch, aber das ist nicht die Hauptsache. Ich kann es nicht sagen, ” ich kann nicht!“ Es hilft also nichts, wenn ich dir soviel Geld gebe, wie du ihm schuldig ” bist? – Ich k¨nnte es dir gut geben.“ o Nein, nein, das ist es nicht. Und ich bitte dich: sage niemand davon! Kein ” Wort! Du machst mich ungl¨cklich!“ u Verlaß dich auf mich, Sinclair. Eure Geheimnisse wirst du mir sp¨ter einmal a ” mitteilen –“ Nie, nie!“ rief ich heftig. ” Ganz wie du willst. Ich meine nur, vielleicht wirst du mir sp¨ter einmal a ” mehr sagen. Nur freiwillig, versteht sich! Du denkst doch nicht, ich werde es machen wie der Kromer selber?“ O nein – aber du weißt ja gar nichts davon!“ ” Gar nichts. Ich denke nur dar¨ber nach. Und ich werde es nie so machen, u ” wie Kromer es macht, das glaubst du mir. Du bist ja mir auch nichts schuldig.“ Wir schwiegen eine lange Zeit, und ich wurde ruhiger. Aber Demians Wissen wurde mir immer r¨tselhafter. a Ich geh jetzt nach Hause“, sagte er und zog im Regen seinen Lodenmantel ” fester zusammen. Ich m¨chte dir nur eins nochmals sagen, weil wir schon o ” so weit sind – du solltest diesen Kerl loswerden! Wenn es gar nicht anders geht, dann schlage ihn tot! Es w¨rde mir imponieren und gefallen, wenn du u es t¨test. Ich w¨rde dir auch helfen.“ a u Ich bekam von neuem Angst. Die Geschichte von Kain fiel mir pl¨tzlich o wieder ein. Es wurde mir unheimlich, und ich begann sachte zu weinen. Zu viel Unheimliches war um mich her.

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Nun gut“, l¨chelte Max Demian. Geh nur nach Hause! Wir machen das a ” ” schon. Obwohl Totschlagen das einfachste w¨re. In solchen Dingen ist das Eina fachste immer das Beste. Du bist in keinen guten H¨nden bei deinem Freund a Kromer.“ Ich kam nach Hause, und mir schien, ich sei ein Jahr lang weg gewesen. Alles sah anders aus. Zwischen mir und Kromer stand etwas wie Zukunft, etwas wie Hoffnung. Ich war nicht mehr allein! Und erst jetzt sah ich, wie schrecklich allein ich wochen- und wochenlang mit meinem Geheimnis gewesen war. Und sofort fiel mir ein, was ich mehrmals durchgedacht hatte: daß eine Beichte vor meinen Eltern mich erleichtern und mich doch nicht ganz erl¨sen o w¨rde. Nun hatte ich beinahe gebeichtet, einem andern, einem Fremden, und u Erl¨sungsahnung flog mir wie ein starker Duft entgegen! o Immerhin war meine Angst noch lange nicht uberwunden, und ich war noch ¨ auf lange und furchtbare Auseinandersetzungen mit meinem Feinde gefaßt. Desto merkw¨rdiger war es mir, daß alles so still, so v¨llig geheim und ruhig u o verlief. Kromers Pfiff vor unserem Hause blieb aus, einen Tag, zwei Tage, drei Tage, eine Woche lang. Ich wagte gar nicht, daran zu glauben, und lag innerlich auf der Lauer, ob er nicht pl¨tzlich, eben wenn man ihn gar nimmer erwartete, o doch wieder dastehen w¨rde. Aber er war und blieb fort! Mißtrauisch gegen u die neue Freiheit, glaubte ich noch immer nicht recht daran. Bis ich endlich einmal dem Franz Kromer begegnete. Er kam die Seilergasse herab, gerade mir entgegen. Als er mich sah, zuckte er zusammen, verzog das Gesicht zu einer w¨sten Grimasse und kehrte ohne weiteres um, um mir nicht begegnen u zu m¨ssen. u Das war f¨r mich ein unerh¨rter Augenblick! Mein Feind lief vor mir davon! u o ¨ Mein Satan hatte Angst vor mir! Mir fuhr die Freude und Uberraschung durch und durch. In diesen Tagen zeigte sich Demian einmal wieder. Er wartete auf mich vor der Schule. Gr¨ß Gott“, sagte ich. u ” Guten Morgen, Sinclair. Ich wollte nur einmal h¨ren, wie dir’s geht. Der o ” Kromer l¨ßt dich doch jetzt in Ruhe, nicht?“ a Hast du das gemacht? Aber wie denn? Wie denn? Ich begreife es gar nicht. ” Er ist ganz ausgeblieben.“ Das ist gut. Wenn er je einmal wiederkommen sollte – ich denke, er tut es ” nicht, aber er ist ja ein frecher Kerl – dann sage ihm bloß, er m¨ge an den o Demian denken.“ Aber wie h¨ngt das zusammen? Hast du H¨ndel mit ihm angefangen und a a ” ihn verhauen?“ Nein, das tue ich nicht so gern. Ich habe bloß mit ihm gesprochen, so wie ”

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mit dir auch, und habe ihm dabei klarmachen k¨nnen, daß es sein eigener o Vorteil ist, wenn er dich in Ruhe l¨ßt.“ a Oh, du wirst ihm doch kein Geld gegeben haben?“ ” Nein, mein Junge. Diesen Weg hattest ja du schon probiert.“ ” Er machte sich los, so sehr ich ihn auszufragen versuchte, und ich blieb mit dem alten beklommenen Gef¨hl gegen ihn zur¨ck, das aus Dankbarkeit und u u Scheu, aus Bewunderung und Angst, aus Zuneigung und innerem Widerstreben seltsam gemischt war. Ich nahm mir vor, ihn bald wiederzusehen, und dann wollte ich mehr mit ihm uber das alles reden, auch noch uber die Kain-Sache. ¨ ¨ Es kam nicht dazu. Dankbarkeit ist uberhaupt keine Tugend, an die ich Glauben habe, und ¨ sie von einem Kinde zu verlangen, schiene mir falsch. So wundere ich mich uber meine eigene v¨llige Undankbarkeit nicht eben sehr, die ich gegen Max o ¨ Demian bewies. Ich glaube heute mit Bestimmtheit, daß ich f¨rs Leben krank u und verdorben worden w¨re, wenn er mich nicht aus den Klauen Kromers a befreit h¨tte. Diese Befreiung f¨hlte ich auch damals schon als das gr¨ßte a u o Erlebnis meines jungen Lebens – aber den Befreier selbst ließ ich links liegen, sobald er das Wunder vollf¨hrt hatte. u Merkw¨rdig ist die Undankbarkeit, wie gesagt, mir nicht. Sonderbar ist mir u einzig der Mangel an Neugierde, den ich bewies. Wie war es m¨glich, daß ich o einen einzigen Tag ruhig weiterleben konnte, ohne den Geheimnissen n¨her zu a kommen, mit denen mich Demian in Ber¨hrung gebracht hatte? Wie konnte u ich die Begierde zur¨ckhalten, mehr uber Kain zu h¨ren, mehr uber Kromer, u o ¨ ¨ mehr uber das Gedankenlesen? ¨ Es ist kaum begreiflich, und ist doch so. Ich sah mich pl¨tzlich aus d¨moo a nischen Netzen entwirrt, sah wieder die Welt hell und freudig vor mir liegen, unterlag nicht mehr Angstanf¨llen und w¨rgendem Herzklopfen. Der Bann a u war gebrochen, ich war nicht mehr ein gepeinigter Verdammter, ich war wieder ein Schulknabe wie immer. Meine Natur suchte so rasch wie m¨glich wieo der in Gleichgewicht und Ruhe zu kommen, und so gab sie sich vor allem M¨he, das viele H¨ßliche und Bedrohende von sich wegzur¨cken, es zu veru a u gessen. Wunderbar schnell entglitt die ganze lange Geschichte meiner Schuld und Ver¨ngstigung meinem Ged¨chtnis, ohne scheinbar irgendwelche Narben a a und Eindr¨cke hinterlassen zu haben. u Daß ich hingegen meinen Helfer und Retter ebenso rasch zu vergessen suchte, begreife ich heute auch. Aus dem Jammertal meiner Verdammung, aus der furchtbaren Sklaverei bei Kromer floh ich mit allen Trieben und Kr¨ften a meiner gesch¨digten Seele dahin zur¨ck, wo ich fr¨her gl¨cklich und zufriea u u u den gewesen war: in das verlorene Paradies, das sich wieder offnete, in die ¨ helle Vater- und Mutterwelt, zu den Schwestern, zum Duft der Reinheit, zur

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Gottgef¨lligkeit Abels. a Schon am Tage nach meinem kurzen Gespr¨ch mit Demian, als ich von a meiner wiedergewonnenen Freiheit endlich v¨llig uberzeugt war und keine o ¨ R¨ckf¨lle mehr f¨rchtete, tat ich das, was ich so oft und sehnlich mir gew¨nscht u a u u hatte – ich beichtete. Ich ging zu meiner Mutter, ich zeigte ihr das Sparb¨chsu lein, dessen Schloß besch¨digt und das mit Spielmarken statt mit Geld gef¨llt a u war, und ich erz¨hlte ihr, wie lange Zeit ich durch eigene Schuld mich an einen a b¨sen Qu¨ler gefesselt hatte. Sie begriff nicht alles, aber sie sah die B¨chse, o a u sie sah meinen ver¨nderten Blick, h¨rte meine ver¨nderte Stimme, f¨hlte, daß a o a u ich genesen, daß ich ihr wiedergegeben war. Und nun beging ich mit hohen Gef¨hlen das Fest meiner Wiederaufnahu me, die Heimkehr des verlorenen Sohnes. Die Mutter brachte mich zum Vater, die Geschichte wurde wiederholt, Fragen und Ausrufe der Verwunderung dr¨ngten sich, beide Eltern streichelten mir den Kopf und atmeten aus langer a Bedr¨ckung auf. Alles war herrlich, alles war wie in den Erz¨hlungen, alles u a l¨ste sich in wunderbare Harmonie auf. o In diese Harmonie floh ich nun mit wahrer Leidenschaft. Ich konnte mich nicht genug daran ers¨ttigen, daß ich wieder meinen Frieden und das Vertrauen a der Eltern hatte, ich wurde ein h¨uslicher Musterknabe, spielte mehr als jemals a mit meinen Schwestern und sang bei den Andachten die lieben, alten Lieder mit Gef¨hlen des Erl¨sten und Bekehrten mit. Es geschah von Herzen, es war u o keine L¨ge dabei. u Dennoch war es so gar nicht in Ordnung! Und hier ist der Punkt, aus dem sich mir meine Vergeßlichkeit gegen Demian allein wahrhaft erkl¨rt. Ihm h¨tte a a ich beichten sollen! Die Beichte w¨re weniger dekorativ und r¨hrend, aber f¨r a u u mich fruchtbarer ausgefallen. Nun klammerte ich mich mit allen Wurzeln an meine ehemalige, paradiesische Welt, war heimgekehrt und in Gnaden aufgenommen. Demian aber geh¨rte zu dieser Welt keineswegs, paßte nicht in sie. o Auch er war, anders als Kromer, aber doch eben – auch er war ein Verf¨hrer, u auch er verband mich mit der zweiten, der b¨sen, schlechten Welt, und von o der wollte ich nun f¨r immer nichts mehr wissen. Ich konnte und wollte jetzt u nicht Abel preisgeben und Kain verherrlichen helfen, jetzt, wo ich eben selbst wieder ein Abel geworden war. So der ¨ußere Zusammenhang. Der innere aber war dieser: ich war aus Kroa mers und des Teufels H¨nden erl¨st, aber nicht durch meine eigene Kraft und a o Leistung. Ich hatte versucht, auf den Pfaden der Welt zu wandeln, und sie waren f¨r mich zu schl¨pfrig gewesen. Nun, da der Griff einer freundlichen u u Hand mich gerettet hatte, lief ich, ohne einen Blick mehr nebenaus zu tun, in den Schoß der Mutter und die Geborgenheit einer umhegten, frommen Kindlichkeit zur¨ck. Ich machte mich j¨nger, abh¨ngiger, kindlicher als ich war. u u a Ich mußte die Abh¨ngigkeit von Kromer durch eine neue ersetzen, denn allein a

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zu gehen vermochte ich nicht. So w¨hlte ich, in meinem blinden Herzen, die a Abh¨ngigkeit von Vater und Mutter, von der alten, geliebten lichten Welt“, a ” von der ich doch schon wußte, daß sie nicht die einzige war. H¨tte ich das a nicht getan, so h¨tte ich mich zu Demian halten und mich ihm anvertrauen a m¨ssen. Daß ich das nicht tat, das erschien mir damals als berechtigtes Mißu trauen gegen seine befremdlichen Gedanken; in Wahrheit war es nichts als Angst. Denn Demian h¨tte mehr von mir verlangt als die Eltern verlangten, a viel mehr, er h¨tte mich mit Antrieb und Ermahnung, mit Spott und Ironie a selbst¨ndiger zu machen versucht. Ach, das weiß ich heute: nichts auf der Welt a ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber f¨hrt! u Dennoch konnte ich, etwa ein halbes Jahr sp¨ter, der Versuchung nicht a widerstehen, und fragte auf einem Spaziergang meinen Vater, was davon zu halten sei, daß manche Leute den Kain f¨r besser als den Abel erkl¨rten. u a Er war sehr verwundert und erkl¨rte mir, daß dies eine Auffassung sei, a welche der Neuheit entbehre. Sie sei sogar schon in der urchristlichen Zeit aufgetaucht und sei in Sekten gelehrt worden, deren eine sich die Kainiten“ ” nannte. Aber nat¨rlich sei diese tolle Lehre nichts anderes als ein Versuch des u Teufels, unsern Glauben zu zerst¨ren. Denn glaube man an das Recht Kains o und das Unrecht Abels, dann ergebe sich daraus die Folge, daß Gott sich geirrt habe, daß also der Gott der Bibel nicht der richtige und einzige, sondern ein ¨ falscher sei. Wirklich h¨tten die Kainiten auch Ahnliches gelehrt und geprea digt: doch sei diese Ketzerei seit langem aus der Menschheit verschwunden, und er wundere sich nur, daß ein Schulkamerad von mir etwas davon habe erfahren k¨nnen. Immerhin ermahne er mich ernstlich, diese Gedanken zu o unterlassen.

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Der Sch¨cher a
Es w¨re Sch¨nes, Zartes und Liebenswertes zu erz¨hlen von meiner Kinda o a heit, von meinem Geborgensein bei Vater und Mutter, von Kindesliebe und gen¨gsam spielerischem Hinleben in sanften, lieben, lichten Umgebungen. Aber u mich interessieren nur die Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die h¨bschen Ruhepunkte, Gl¨cksinseln und Parau u diese, deren Zauber mir nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht, sie nochmals zu betreten. Darum spreche ich, soweit ich noch bei meiner Knabenzeit verweile, nur von dem, was Neues mir zukam, was mich vorw¨rts trieb, mich losriß. a Immer kamen diese Anst¨ße von der anderen Welt“, immer brachten sie o ” Angst, Zwang und b¨ses Gewissen mit sich, immer waren sie revolution¨r und o a gef¨hrdeten den Frieden, in dem ich gern wohnen geblieben w¨re. a a Es kamen die Jahre, in welchen ich aufs neue entdecken mußte, daß in mir selbst ein Urtrieb lebte, der in der erlaubten und lichten Welt sich verkriechen und verstecken mußte. Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das langsam erwachende Gef¨hl des Geschlechts als ein Feind und Zerst¨rer an, als Veru o botenes, als Verf¨hrung und S¨nde. Was meine Neugierde suchte, was mir u u Tr¨ume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubert¨t, das paßte a a gar nicht in die umhegte Gl¨ckseligkeit meines Kinderfriedens. Ich tat wie u alle. Ich f¨hrte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist. u Mein Bewußtsein lebte im Heimischen und Erlaubten, mein Bewußtsein leugnete die empord¨mmernde neue Welt. Daneben aber lebte ich in Tr¨umen, a a Trieben, W¨nschen von unterirdischer Art, uber welches jenes bewußte Leu ¨ ben sich immer ¨ngstlichere Br¨cken baute, denn die Kinderwelt in mir fiel a u zusammen. Wie fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unersch¨pflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu o leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun k¨nnen, und o mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.

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Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. F¨r den Durchschnittlichen ist u dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am h¨rtesten a mit der Umwelt in Streit ger¨t, wo der Weg nach vorw¨rts am bittersten a a erk¨mpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das a unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir pl¨tzlich die Einsamkeit und t¨dliche K¨lte des Weltraums o o a um uns f¨hlen. Und sehr viele bleiben f¨r immer an dieser Klippe h¨ngen u u a und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und m¨rderischste o aller Tr¨ume ist. a Wenden wir uns zur Geschichte zur¨ck. Die Empfindungen und Traumu bilder, in denen sich mir das Ende der Kindheit meldete, sind nicht wichtig genug, um erz¨hlt zu werden. Das Wichtige war: die dunkle Welt“, die ana ” ” dere Welt“ war wieder da. Was einst Franz Kromer gewesen war, das stak nun in mir selber. Und damit gewann auch von außen her die andere Welt“ ” wieder Macht uber mich. ¨ Es waren seit der Geschichte mit Kromer mehrere Jahre vergangen. Jene dramatische und schuldvolle Zeit meines Lebens lag damals mir sehr fern und schien wie ein kurzer Alptraum in nichts vergangen. Franz Kromer war l¨ngst aus meinem Leben verschwunden, kaum daß ich es achtete, wenn er a mir je einmal begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Trag¨die aber, o Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umkreis. Doch stand er lange Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht wirksam. Erst allm¨hlich a trat er wieder n¨her, strahlte wieder Kr¨fte und Einfl¨sse aus. a a u Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß. Es mag sein, daß ich ein Jahr oder l¨nger kein einziges Mal mit ihm gesprochen a habe. Ich mied ihn, und er dr¨ngte sich keineswegs auf. Etwa einmal, wenn wir a uns begegneten, nickte er mir zu. Mir schien es dann zuweilen, es sei in seiner Freundlichkeit ein feiner Klang von Hohn oder ironischem Vorwurf, doch mag das Einbildung gewesen sein. Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt hatte, und der seltsame Einfluß, den er damals auf mich ge¨bt, waren wie vergessen, von u ihm wie von mir. Ich suche nach seiner Figur, und nun, da ich mich auf ihn besinne, sehe ich, daß er doch da war und von mir bemerkt wurde. Ich sehe ihn zur Schule gehen, allein oder zwischen andern von den gr¨ßeren Sch¨lern, und ich sehe o u ihn fremdartig, einsam und still, wie gestirnhaft zwischen ihnen wandeln, von einer eigenen Luft umgeben, unter eigenen Gesetzen lebend. Niemand liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter, und auch mit ihr schien er nicht wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener zu verkehren. Die Lehrer ließen ihn m¨glichst in Ruhe, er war ein guter Sch¨ler, aber er suchte keinem o u

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zu gefallen, und je und je vernahmen wir ger¨chtweise von irgendeinem Wort, u einer Glosse oder Gegenrede, die er einem Lehrer sollte gegeben haben und die an schroffer Herausforderung oder an Ironie nichts zu w¨nschen ubrigließ. u ¨ Ich besinne mich, mit geschlossenen Augen, und ich sehe sein Bild auftauchen. Wo war das? Ja, nun ist es wieder da. Es war auf der Gasse vor unserem Hause. Da sah ich ihn eines Tages stehen, ein Notizbuch in der Hand, und sah ihn zeichnen. Er zeichnete das alte Wappenbild mit dem Vogel uber unsrer ¨ Haust¨re ab. Und ich stand an einem Fenster, hinterm Vorhang verborgen, u und schaute ihm zu, und sah mit tiefer Verwunderung sein aufmerksames, k¨hles, helles Gesicht dem Wappen zugewendet, das Gesicht eines Mannes, u eines Forschers oder K¨nstlers, uberlegen und voll von Willen, sonderbar hell u ¨ und k¨hl, mit wissenden Augen. u Und wieder sehe ich ihn. Es war wenig sp¨ter, auf der Straße; wir standen a alle, von der Schule kommend, um ein Pferd, das gest¨rzt war. Es lag, noch an u die Deichsel geschirrt, vor einem Bauernwagen, schnob suchend und kl¨glich a mit ge¨ffneten N¨stern in die Luft und blutete aus einer unsichtbaren Wunde, o u so daß zu seiner Seite der weiße Straßenstaub sich langsam dunkel vollsog. Als ¨ ich, mit einem Gef¨hl von Ubelkeit, mich von dem Anblick wegwandte, sah ich u Demians Gesicht. Er hatte sich nicht vorgedr¨ngt, er stand zuhinterst, bequem a und ziemlich elegant, wie es zu ihm geh¨rte. Sein Blick schien auf den Kopf o des Pferdes gerichtet und hatte wieder diese tiefe, stille, beinah fanatische und doch leidenschaftslose Aufmerksamkeit. Ich mußte ihn lang ansehen, und damals f¨hlte ich, noch fern vom Bewußtsein, etwas sehr Eigent¨mliches. Ich u u sah Demians Gesicht, und ich sah nicht nur, daß er kein Knabengesicht hatte, sondern das eines Mannes; ich sah noch mehr, ich glaubte zu sehen, oder zu sp¨ren, daß es auch nicht das Gesicht eines Mannes sei, sondern noch u etwas anderes. Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und namentlich schien dies Gesicht mir, f¨r einen Augenblick, nicht m¨nnlich u a oder kindlich, nicht alt oderjung, sondern irgendwie tausendj¨hrig, irgendwie a zeitlos, von anderen Zeitl¨uften gestempelt, als wir sie leben. Tiere konnten so a aussehen, oder B¨ume, oder Sterne – ich wußte das nicht, ich empfand nicht a ¨ genau das, was ich jetzt als Erwachsener dar¨ber sage, aber etwas Ahnliches. u Vielleicht war er sch¨n, vielleicht gefiel er mir, vielleicht war er mir auch o zuwider, auch das war nicht zu entscheiden. Ich sah nur: er war anders als wir, er war wie ein Tier, oder wie ein Geist, oder wie ein Bild, ich weiß nicht, wie er war, aber er war anders, unausdenkbar anders als wir alle. Mehr sagt die Erinnerung mir nicht, und vielleicht ist auch dies zum Teil schon aus sp¨teren Eindr¨cken gesch¨pft. a u o Erst als ich mehrere Jahre alter war, kam ich endlich wieder mit ihm in ¨ n¨here Ber¨hrung. Demian war nicht, wie die Sitte es gefordert h¨tte, mit a u a seinem Jahrgang in der Kirche konfirmiert worden, und auch daran hatten

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sich wieder alsbald Ger¨chte gekn¨pft. Es hieß in der Schule wieder, er sei u u eigentlich ein Jude, oder nein, ein Heide, und andere wußten, er sei samt seiner Mutter ohne jede Religion oder geh¨re einer fabelhaften, schlimmen Sekte an. o Im Zusammenhang damit meine ich auch den Verdacht vernommen zu haben, er lebe mit seiner Mutter wie mit einer Geliebten. Vermutlich war es so, daß er bisher ohne Konfession erzogen worden war, daß dies nun aber f¨r seine u Zukunft irgendwelche Unzutr¨glichkeiten f¨rchten ließ. Jedenfalls entschloß a u sich seine Mutter, ihn jetzt doch, zwei Jahre sp¨ter als seine Altersgenossen, a an der Konfirmation teilnehmen zu lassen. So kam es, daß er nun monatelang im Konfirmationsunterricht mein Kamerad war. Eine Weile hielt ich mich ganz von ihm zur¨ck, ich wollte nicht teil an ihm u haben, er war mir allzusehr von Ger¨chten und Geheimnissen umgeben, nau mentlich aber st¨rte mich das Gef¨hl von Verpflichtung, das seit der Aff¨re o u a mit Kromer in mir zur¨ckgeblieben war. Und gerade damals hatte ich genug u mit meinen eigenen Geheimnissen zu tun. F¨r mich fiel der Konfirmationsu unterricht zusammen mit der Zeit der entscheidenden Aufkl¨rungen in den a geschlechtlichen Dingen, und trotz gutem Willen war mein Interesse f¨r die u fromme Belehrung dadurch sehr beeintr¨chtigt. Die Dinge, von denen der a Geistliche sprach, lagen weit von mir weg in einer stillen, heiligen Unwirklichkeit, sie waren vielleicht ganz sch¨n und wertvoll, aber keineswegs aktuell und o erregend, und jene andern Dinge waren gerade dies im h¨chsten Maße. o Je mehr mich nun dieser Zustand gegen den Unterricht gleichg¨ltig machte, u desto mehr n¨herte sich mein Interesse wieder dem Max Demian. Irgend etwas a schien uns zu verbinden. Ich muß diesem Faden m¨glichst genau nachgehen. o Soviel ich mich besinnen kann, begann es in einer Stunde fr¨h am Morgen, u als noch Licht in der Schulstube brannte. Unser geistlicher Lehrer war auf die Geschichte Kains und Abels zu sprechen gekommen. Ich achtete kaum darauf, ich war schl¨frig und h¨rte kaum zu. Da begann der Pfarrer mit erhobener a o Stimme eindringlich vom Kainszeichen zu reden. In diesem Augenblick sp¨rte u ich eine Art von Ber¨hrung oder Mahnung, und aufblickend sah ich aus den u vorderen Bankreihen her das Gesicht Demians nach mir zur¨ckgewendet, mit u einem hellen, sprechenden Auge, dessen Ausdruck ebensowohl Spott wie Ernst sein konnte. Nur einen Moment sah er mich an, und pl¨tzlich horchte ich o gespannt auf die Worte des Pfarrers, h¨rte ihn von Kain und seinem Zeichen o reden, und sp¨rte tief in mir ein Wissen, daß das nicht so sei, wie er es lehre, u daß man das auch anders ansehen konnte, daß daran Kritik m¨glich war! o Mit dieser Minute war zwischen Demian und mir wieder eine Verbindung da. Und sonderbar – kaum war dies Gef¨hl einer gewissen Zusammengeh¨rigkeit u o in der Seele da, so sah ich es wie magisch auch ins R¨umliche ubertragen. Ich a ¨ wußte nicht, ob er es selbst so einrichten konnte oder ob es ein reiner Zufall war – ich glaubte damals noch fest an Zuf¨lle – nach wenigen Tagen hatte Dea

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mian pl¨tzlich seinen Platz in der Religionsstunde gewechselt und saß gerade o vor mir (ich weiß noch, wie gern ich mitten in der elenden Armenh¨uslerluft a der uberf¨llten Schulstube am Morgen von seinen Nacken her den zartfrischen u ¨ Seifengeruch einsog!), und wieder nach einigen Tagen hatte er wieder gewechselt und saß nun neben mir, und da blieb er sitzen, den ganzen Winter und das ganze Fr¨hjahr hindurch. u Die Morgenstunden hatten sich ganz verwandelt. Sie waren nicht mehr schl¨frig und langweilig. Ich freute mich auf sie. Manchmal h¨rten wir beia o de mit der gr¨ßten Aufmerksamkeit dem Pfarrer zu, ein Blick von meinem o Nachbar gen¨gte, um mich auf eine merkw¨rdige Geschichte, einen seltsamen u u Spruch hinzuweisen. Und ein anderer Blick von ihm, ein ganz bestimmter, gen¨gte, um mich zu mahnen, um Kritik und Zweifel in mir anzuregen. u Sehr oft aber waren wir schlechte Sch¨ler und h¨rten nichts vorn Unteru o richt. Demian war stets artig gegen Lehrer und Mitsch¨ler, nie sah ich ihn u Schuljungendummheiten machen, nie h¨rte man ihn laut lachen oder plauo dern, nie zog er sich einen Tadel des Lehrers zu. Aber ganz leise, und mehr mit Zeichen und Blicken als mit Fl¨sterworten, verstand er es, mich an seiu nen eigenen Besch¨ftigungen teilnehmen zu lassen. Dicsc waren zum Teil von a merkw¨rdiger Art. u Er sagte mir zum Beispiel, welche von den Sch¨lern ihn interessierten, und u auf welche Weise er sie studiere. Manche kannte er sehr gcnau. Er sagte mir vor der Lektion: Wenn ich dir ein Zeichen mit dein Daumen mache, dann ” wird der und der sich nach uns umsehen, oder sich am Nacken kratzen“ und so weiter. W¨hrend der Stunde dann, wenn ich oft kaum nicht daran dachte, a drehte Max pl¨tzlich mit auffallender Geb¨rde mir seinen Daumen zu, ich o a schaute schnell nach dem bezeichneten Sch¨ler aus und sah ihn jedesmal, wie u am Draht gezogen, die verlangte Geb¨rde machen. Ich plagte Max, er solle das a auch einmal am Lehrer versuchen, doch wollte er es nicht tun. Aber einmal, als ich in die Stunde kam und ihm sagte, ich h¨tte heute meine Aufgaben nicht a gelernt und hoffe sehr, der Pfarrer werde mich heute nichts fragen, da half er mir. Der Pfarrer suchte nach einem Sch¨ler, den er ein St¨ck Katechismus u u hersagen lassen wollte, und sein schweifendes Auge blieb auf meinem schuldbewußtun Gesicht h¨ngen. Langsam kam er heran, streckte den Finger gegen a mich aus, hatte schon meinen Namen auf den Lippen – da wurde er pl¨tzlich o zerstreut oder unruhig, r¨ckte an seinem Halskragen, trat auf Demian zu, der u ihm fest ins Gesicht sah, schien ihn etwas fragen zu wollen, wandte sich aber uberraschend wieder weg, hustete eine Weile und forderte dann einen andern ¨ Sch¨ler auf. u Erst allm¨hlich merkte ich, w¨hrend diese Scherze mich sehr belustigten, a a daß mein Freund mit mir h¨ufig dasselbe Spiel treibe. Es kam vor, daß ich a auf dein Schulweg pl¨tzlich das Gef¨hl hatte, Demian gehe eine Strecke hinter o u

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mir, und wenn ich mich umwandte, war er richtig da. Kannst du denn eigentlich machen, daß ein anderer das denken muß, was ” du willst?“ fragte ich ihn. Er gab bereitwillig Auskunft, ruhig und sachlich, in seiner erwachsenen Art. Nein“, sagte er, das kann man nicht. Man hat n¨mlich keinen freien Wila ” ” len, wenn auch der Pfarrer so tut. Weder kann der andere denken, was er will, noch kann ich ihn denken machen, was ich will. Wohl aber kann man jemand gut beobachten, und dann kann man oft ziemlich genau sagen, was er denkt oder f¨hlt, und dann kann man meistens auch voraussehen, was er im u n¨chsten Augenblick tun wird. Es ist ganz einfach, die Leute wissen es bloß a ¨ nicht. Nat¨rlich braucht es Ubung. Es gibt zum Beispiel bei den Schmetteru lingen gewisse Nachtfalter, bei denen sind die Weibchen viel seltener als die M¨nnchen. Die Falter pflanzen sich gerade so fort wie alle Tiere, der Mann a befruchtet das Weibchen, das dann Eier legt. Wenn du nun von diesen Nachtfaltern ein Weibchen hast – es ist von Naturforschern oft probiert worden –, so kommen in der Nacht zu diesem Weibchen die m¨nnlichen Falter geflogen, a und zwar stundenweit! Stundenweit, denke dir! Auf viele Kilometer sp¨ren u alle diese M¨nnchen das einzige Weibchen, das in der Gegend ist! Man vera sucht das zu erkl¨ren, aber es geht schwer. Es muß eine Art Geruchssinn oder a so etwas sein, etwa so wie gute Jagdhunde eine unmerkliche Spur finden und verfolgen k¨nnen. Du begreifst? Das sind solche Sachen, die Natur ist voll o davon, und niemand kann sie erkl¨ren. Nun sage ich aber: w¨ren bei diesen a a Schmetterlingen die Weibchen so h¨ufig wie die M¨nnchen, so h¨tten sie die a a a feine Nase eben nicht! Sie haben sie bloß, weil sie sich darauf dressiert haben. Wenn ein Tier oder Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch. Das ist alles. Und genau so ist es mit dem, was du meinst. Sieh dir einen Menschen genau genug an, so weißt du mehr von ihm als er selber.“ Mir lag es auf der Zunge, das Wort Gedankenlesen“ auszusprechen und ” ihn damit an die Szene mit Kromer zu erinnern, die so lang zur¨cklag. Aber u dies war nun auch eine seltsame Sache zwischen uns beiden: nie und niemals machte weder er noch ich die leiseste Anspielung darauf, daß er vor mehreren Jahren einmal so ernstlich in mein Leben eingegriffen hatte. Es war, als sei nie etwas fr¨her zwischen uns gewesen, oder als rechne jeder von uns fest damit, u daß der andere das vergessen habe. Es kam, ein- oder zweimal, sogar vor, daß wir zusammen uber die Straße gingen und den Franz Kromer antrafen, aber ¨ wir wechselten keinen Blick, sprachen kein Wort von ihm. Aber wie ist nun das mit dem Willen?“ fragte ich. Du sagst, man hat ” ” keinen freien Willen. Aber dann sagst du wieder, man brauche nur seinen Willen fest auf etwas zu richten, dann k¨nne man sein Ziel erreichen. Das o stimmt doch nicht! Wenn ich nicht Herr uber meinen Willen bin, dann kann ¨

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ich ihn ja auch nicht beliebig da- oder dorthin richten.“ Er klopfte mir auf die Schulter. Das tat er stets, wenn ich ihm Freude machte. Gut, daß du fragst!“ sagte er lachend. Man muß immer fragen, man muß ” ” immer zweifeln. Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalter zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonstwohin richten wollte, so k¨nnte er das nicht. Nur – er versucht das uberhaupt nicht. Er sucht nur o ¨ das, was Sinn und Wert f¨r ihn hat, was er braucht, was er unbedingt haben u muß. Und eben da gelingt ihm auch das Unglaubliche – er entwickelt einen zauberhaften sechsten Sinn, den kein anderes Tier außer ihm hat! Unsereiner hat mehr Spielraum, gewiß, und mehr Interessen als ein Tier. Aber auch wir sind in einem verh¨ltnism¨ßig recht engen Kreis gebunden und k¨nnen nicht a a o dar¨ber hinaus. Ich kann wohl das und das phantasieren, mir etwa einbilden, u ich wolle unbedingt an den Nordpol kommen, oder so etwas, aber ausf¨hren u und gen¨gend stark wollen kann ich das nur, wenn der Wunsch ganz in mir u selber liegt, wenn wirklich Mein Wesen ganz von ihm erf¨llt ist. Sobald das u der Fall ist, sobald du etwas probierst, was dir von innen heraus befohlen wird, dann geht es auch, dann kannst du deinen Willen anspannen wie einen guten Gaul. Wenn ich zum Beispiel mir jetzt vorn¨hme, ich wolle bewirken, daß a unser Herr Pfarrer k¨nftig keine Brille mehr tr¨gt, so geht das nicht. Das ist u a bloß eine Spielerei. Aber als ich, damals im Herbst, den festen Willen bekam, aus meiner Bank da vorne versetzt zu werden, da ging es ganz gut. Da war pl¨tzlich einer da, der im Alphabet vor mir kam und der bisher krank gewesen o war, und weil jemand ihm Platz machen mußte, war nat¨rlich ich der, der es u tat, weil eben mein Wille bereit war, sofort die Gelegenheit zu packen.“ Ja“, sagte ich, mir war es damals auch ganz eigent¨mlich. Von dem Auu ” ” genblick an, wo wir uns f¨reinander interessierten, r¨cktest du mir immer u u n¨her. Aber wie war das? Anfangs kamst du doch nicht gleich neben mich zu a sitzen, du saßest erst ein paarmal in der Bank da vor mir, nicht? Wie ging das zu?“ Das war so: ich wußte selber nicht recht, wohin ich wollte, als ich von ” meinem ersten Platz weg begehrte. Ich wußte nur, daß ich weiter hinten sitzen wollte. Es war mein Wille, zu dir zu kommen, der mir aber noch nicht bewußt geworden war. Zugleich zog dein eigener Wille mit und half mir. Erst als ich dann da vor dir saß, kam ich darauf, daß mein Wunsch erst halb erf¨llt sei – u ich merkte, daß ich eigentlich nichts anderes begehrt hatte, als neben dir zu sitzen.“ Aber damals ist kein Neuer eingetreten.“ ” Nein, aber damals tat ich einfach, was ich wollte, und setzte mich kur” zerhand neben dich. Der Junge, mit dem ich den Platz tauschte, war bloß verwundert und ließ mich machen. Und der Pfarrer merkte zwar einmal, daß

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¨ es da eine Anderung gegeben habe uberhaupt, jedesmal, wenn er mit mir zu ¨ tun hat, plagt ihn heimlich etwas, er weiß n¨mlich, daß ich Demian heiße und a daß es nicht stimmt, daß ich mit meinem D im Namen da ganz hinten unterm S sitze! Aber das dringt nicht bis in sein Bewußtsein, weil mein Wille dagegen ist und weil ich ihn immer wieder daran hindere. Er merkt es immer wieder einmal, daß da etwas nicht stimmt, und sieht mich an und f¨ngt an zu a studieren, der gute Herr. Ich habe da aber ein einfaches Mittel. Ich seh ihm jedesmal ganz, ganz fest in die Augen. Das vertragen fast alle Leute schlecht. Sie werden alle unruhig. Wenn du von jemand etwas erreichen willst und siehst ihm unerwartet ganz fest in die Augen, und er wird gar nicht unruhig, dann gib es auf! Du erreichst nichts bei ihm, nie! Aber das ist sehr selten. Ich weiß eigentlich bloß einen einzigen Menschen, bei dem es mir nicht hilft.“ Wer ist das?“ fragte ich schnell. ” Er sah mich an mit den etwas verkleinerten Augen, die er in der Nachdenklichkeit bekam. Dann blickte er weg und gab keine Antwort, und ich konnte, trotz heftiger Neugierde, die Frage nicht wiederholen. Ich glaube aber, daß er damals von seiner Mutter sprach. – Mit ihr schien er sehr innig zu leben, sprach mir aber nie von ihr, nahm mich nie mit sich nach Hause. Ich wußte kaum, wie seine Mutter aussah. Manchmal machte ich damals Versuche, es ihm gleichzutun und meinen Willen auf etwas so zusammenzuziehen, daß ich es erreichen m¨sse. Es waren u W¨nsche da, die mir dringend genug schienen. Aber es war nichts und ging u nicht. Mit Demian davon zu sprechen, brachte ich nicht uber mich. Was ich ¨ mir w¨nschte, h¨tte ich ihm nicht gestehen k¨nnen. Und er fragte auch nicht. u a o Meine Gl¨ubigkeit in den Fragen der Religion hatte inzwischen manche a L¨cken bekommen. Doch unterschied ich mich in meinem durchaus von Deu mian beeinflußten Denken sehr von denen meiner Mitsch¨ler, welche einen u v¨lligen Unglauben aufzuweisen hatten. Es gab einige solche, und sie ließen o gelegentlich Worte h¨ren wie, daß es l¨cherlich und menschenunw¨rdig sei, an o a u einen Gott zu glauben, und Geschichten wie die von der Dreieinigkeit und von Jesu unbefleckter Geburt seien einfach zum Lachen, und es sei eine Schande, daß man heute noch mit diesem Kram hausieren gehe. So dachte ich keineswegs. Auch wo ich Zweifel hatte, wußte ich doch aus der ganzen Erfahrung meiner Kindheit genug von der Wirklichkeit eines frommen Lebens, wie es etwa meine Eltern f¨hrten, und daß dies weder etwas Unw¨rdiges noch geheuchelt u u sei. Vielmehr hatte ich vor dem Religi¨sen nach wie vor die tiefste Ehrfurcht. o Nur hatte Demian mich daran gew¨hnt, die Erz¨hlungen und Glaubenss¨tze o a a freier, pers¨nlicher, spielerischer, phantasievoller anzusehen und auszudeuten; o wenigstens folgte ich den Deutungen, die er mir nahelegte, stets gern und mit Genuß. Vieles freilich war mir zu schroff, so auch die Sache wegen Kain. Und

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einmal w¨hrend des Konfirmationsunterrichtes erschreckte er mich durch eine a Auffassung, die wom¨glich noch k¨hner war. Der Lehrer hatte von Golgatha o u gesprochen. Der biblische Bericht vom Leiden und Sterben des Heilandes hatte mir seit fr¨hester Zeit tiefen Eindruck gemacht, manchmal als kleiner Knau be hatte ich, etwa am Karfreitag, nachdem mein Vater die Leidensgeschichte vorgelesen hatte, innig und ergriffen in dieser leidvoll sch¨nen, bleichen, geo spenstigen und doch ungeheuer lebendigen Welt gelebt, in Gethsemane und auf Golgatha, und beim Anh¨ren der Matth¨uspassion von Bach hatte mich o a der d¨ster m¨chtige Leidensglanz dieser geheimnisvollen Welt mit allen mystiu a schen Schauern uberflutet. Ich finde heute noch in dieser Musik, und im Actus ¨ ” tragicus“, den Inbegriff aller Poesie und alles k¨nstlerischen Ausdrucks. u Nun sagte Demian am Schluß jener Stunde nachdenklich zu mir: Da ist et” was, Sinclair, was mir nicht gef¨llt: Lies einmal die Geschichte nach und pr¨fe a u sie auf der Zunge, es ist da etwas, was fad schmeckt. N¨mlich die Sache mit a den beiden Sch¨chern. Großartig, wie da die drei Kreuze auf dem H¨gel beia u einanderstehen! Aber nun diese sentimentale Trakt¨tchengeschichte mit dem a biederen Sch¨cher! Erst war er ein Verbrecher und hat Schandtaten begangen, a weiß Gott was alles, und nun schmilzt er dahin und feiert solche weinerliche Feste der Besserung und Reue! Was f¨r einen Sinn hat solche Reue zwei Schritt u vom Grabe weg, ich bitte dich? Es ist wieder einmal nichts als eine richtige Pfaffengeschichte, s¨ßlich und unredlich, mit Schmalz der R¨hrung und h¨chst u u o erbaulichem Hintergrund. Wenn du heute einen von den beiden Sch¨chern zum a Freund w¨hlen m¨ßtest oder dich besinnen, welchem von beiden du eher Vera u trauen schenken k¨nntest, so ist es doch ganz gewiß nicht dieser weinerliche o Bekehrte. Nein, der andere ist’s, der ist ein Kerl und hat Charakter. Er poft auf eine Bekehrung, die ja in seiner Lage bloß noch ein h¨bsches Gerede sein u kann, er geht seinen Weg zu Ende und tagt sich nicht im letzten Augenblick feig vom Teufel los, der ihm bis dahin hat helfen m¨ssen. Er ist ein Charakter, u und die Leute von Charakter kommen in der biblischen Geschichte gern zu kurz. Vielleicht ist er auch ein Abk¨mmling von Kain. Meinst du nicht?“ o Ich war sehr best¨rzt. Hier in der Kreuzigungsgeschichte hatte ich ganz u heimisch zu sein geglaubt und sah erst jetzt, wie wenig pers¨nlich, mit wie o wenig Vorstellungskraft und Phantasie ich sie angeh¨rt und gelesen hatte. o Dennoch klang mir Demians neuer Gedanke fatal und drohte Begriffe in mir umzuwerfen, auf deren Bestehenbleiben ich glaubte halten zu m¨ssen. Nein, u so konnte man doch nicht mit allem und jedem umspringen, auch mit dem Heiligsten. Er merkte meinen Widerstand, wie immer, sofort, noch ehe ich irgend etwas sagte. Ich weiß schon“, sagte er resigniert, es ist die alte Geschichte. Nur nicht ” ” Ernst machen! Aber ich will dir etwas sagen : hier ist einer von den Punkten,

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wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann. Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das V¨terliche, das Sch¨ne und auch Hohe, das Sentimena o tale – ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze H¨lfte wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott a als Vater alles Lebens r¨hmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das u Leben doch beruht, einfach totschweigen und wom¨glich f¨r Teufelszeug und o u s¨ndlich erkl¨ren! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova veru a ehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese k¨nstlich abgetrennte, offizielle H¨lfte! u a Also m¨ssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst hau ben. Das f¨nde ich richtig. Oder aber, man m¨ßte sich einen Gott schaffen, a u der auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudr¨cken muß, wenn die nat¨rlichsten Dinge von der Welt geschehen.“ u u Er war, gegen seine Art, beinahe heftig geworden, gleich darauf l¨chelte er a jedoch wieder und drang nicht weiter in mich. In mir aber trafen diese Worte das R¨tsel meiner ganzen Knabenjahre, das a ich jede Stunde in mir trug und von dem ich nie jemandem ein Wort gesagt hatte. Was Demian da uber Gott und Teufel, uber die g¨ttlich-offizielle und die o ¨ ¨ totgeschwiegene teuflische Welt gesagt hatte, das war ja genau mein eigener Gedanke, mein eigener Mythus, der Gedanke von den beiden Welten oder Welth¨lften – der lichten und der dunkeln. Die Einsicht, daß mein Problem ein a Problem aller Menschen, ein Problem alles Lebens und Denkens sei, uberflog ¨ mich pl¨tzlich wie ein heiliger Schatten, und Angst und Ehrfurcht uberkam o ¨ mich, als ich sah und pl¨tzlich f¨hlte, wie tief mein eigenstes, pers¨nliches o u o Leben und Meinen am ewigen Strom der großen Ideen teilhatte. Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie best¨tigend und begl¨ckend. Sie war hart a u und schmeckte rauh, weil ein Klang von Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseind¨rfen, von Alleinstehen. u Ich erz¨hlte, zum erstenmal in meinem Leben ein so tiefes Geheimnis enta h¨llend, meinem Kameraden von meiner seit fr¨hesten Kindertagen besteu u henden Auffassung von den zwei Welten“, und er sah sofort, daß damit mein ” tiefstes F¨hlen ihm zustimmte und recht gab. Doch war es nicht seine Art, so u etwas auszun¨tzen. Er h¨rte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er sie mir je u o geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen abwenden mußte. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame, tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter. Wir reden ein andermal mehr davon“, sagte er schonend. Ich sehe, du ” ” denkst mehr, als du einem sagen kannst. Wenn das nun so ist, dann weißt du

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aber auch, daß du nie ganz das gelebt hast, was du dachtest, und das ist nicht gut. Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewußt, daß deine erlaubte Welt‘ bloß die H¨lfte der Welt war, und du hast versucht, die a ’ zweite H¨lfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird a dir nicht gl¨cken! Es gl¨ckt keinem, wenn er einmal das Denken angefangen u u hat.“ Es traf mich tief. Aber“, schrie ich fast, es gibt doch nun einmal tats¨chlich und wirklich a ” ” verbotene und h¨ßliche Dinge, das kannst du doch nicht leugnen! Und die sind a nun einmal verboten, und wir m¨ssen auf sie verzichten. Ich weiß ja, daß es u Mord und alle m¨glichen Laster gibt, aber soll ich denn, bloß weil es das gibt, o hingehen und ein Verbrecher werden?“ Wir werden heute nicht damit fertig“, beg¨tigte Max. Du sollst gewiß u ” ” nicht totschlagen oder M¨dchen Lustmorden, nein. Aber du bist noch nicht a dort, wo man einsehen kann, was erlaubt‘ und verboten‘ eigentlich heißt. Du ’ ’ hast erst ein St¨ck von der Wahrheit gesp¨rt. Das andere kommt noch, verlaß u u dich drauf! Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist st¨rker als alle andern, und er gilt f¨r verboten‘. Die Griechen a u ’ und viele andere V¨lker haben im Gegenteil diesen Trieb zu einer Gottheit o gemacht und ihn in großen Festen verehrt. Verboten‘ ist also nichts Ewiges, ’ es kann wechseln. Auch heute darf ja jeder bei einer Frau schlafen, sobald er mit ihr beim Pfarrer gewesen ist und sie geheiratet hat. Bei andern V¨lkern ist o das anders, auch heute noch. Darum muß jeder von uns f¨r sich selber finden, u was erlaubt und was verboten – ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotnes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. – Eigentlich ist es bloß eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der f¨gt sich eben in u die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. Andere sp¨ren selber u Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann t¨glich tut, a und es sind ihnen andere Dinge erlaubt, die sonst verp¨nt sind. Jeder muß f¨r o u sich selber stehen.“ Er schien pl¨tzlich zu bereuen, so viel gesagt zu haben, und brach ab. Schon o damals konnte ich mit dem Gef¨hl einigermaßen begreifen, was er dabei empu fand. So angenehm und scheinbar obenhin er n¨mlich seine Einf¨lle vorzubrina a gen pflegte, so konnte er doch ein Gespr¨ch nur um des Redens willen“, wie a ” er einmal sagte, in den Tod nicht leiden. Bei mir aber sp¨rte er, neben dem u echten Interesse, zu viel Spiel, zu viel Freude am gescheiten Schwatzen, oder so etwas, kurz, einen Mangel an vollkommenem Ernst. Wie ich das letzte Wort wieder lese, das ich geschrieben – vollkommener ” Ernst“ –, f¨llt eine andere Szene mir pl¨tzlich wieder ein, die eindringlichste, a o

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die ich mit Max Demian in jenen noch halbkindlichen Zeiten erlebt habe. Unsere Konfirmation kam heran, und die letzten Stunden des geistlichen Unterrichts handelten vom Abendmahl. Es war dem Pfarrer wichtig damit, und er gab sich M¨he, etwas von Weihe und Stimmung war in diesen Stunden u wohl zu versp¨ren. Allein gerade in diesen paar letzten Unterweisungsstunden u waren meine Gedanken an anderes gebunden, und zwar an die Person meines Freundes. Indem ich der Konfirmation entgegensah, die uns als die feierliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche erkl¨rt wurde, dr¨ngte sich mir a a unabweislich der Gedanke auf, daß f¨r mich der Wert dieser etwa halbj¨hrigen u a Religionsunterweisung nicht in dem liege, was wir hier gelernt hatten, sondern in der N¨he und dem Einfluß Demians. Nicht in die Kirche war ich nun bereit a aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des Gedankens und der Pers¨nlichkeit, der irgendwie auf Erden existieren mußte o und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund empfand. Ich suchte diesen Gedanken zur¨ckzudr¨ngen, es war mir Ernst damit, die u a Feier der Konfirmation, trotz allem, mit einer gewissen W¨rde zu erleben, u und diese schien sich mit meinem neuen Gedanken wenig zu vertragen. Doch ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir allm¨hlich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders zu a begehen als die andern, sie sollte f¨r mich die Aufnahme in eine Gedankenwelt u bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte. In jenen Tagen war es, daß ich wieder einmal lebhaft mit ihm disputierte; es war gerade vor einer Unterweisungsstunde. Mein Freund war zugekn¨pft und o hatte keine Freude an meinen Reden, die wohl ziemlich altklug und wichtigtuerisch waren. Wir reden zuviel“, sagte er mit ungewohntem Ernst. Das kluge Reden hat ” ” gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich selber wegkommen ist S¨nde. Man muß sich in sich selber v¨llig verkriechen u o k¨nnen wie eine Schildkr¨te.“ o o Gleich darauf betraten wir den Schulsaal. Die Stunde begann, ich gab mir M¨he, aufzumerken, und Demian st¨rte mich darin nicht. Nach einer Weile u o begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigent¨mliches zu u sp¨ren, eine Leere oder K¨hle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz u u unversehens leer geworden. Als das Gef¨hl beengend zu werden anfing, drehte u ich mich um. Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst. Aber er sah dennoch ganz anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht,

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sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichm¨ßig bleich, wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste a an ihm. Seine H¨nde lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gea genst¨nde, wie Steine oder Fr¨chte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, a u sondern wie feste, gute H¨llen um ein verborgnes starkes Leben. u Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich f¨hlte: das u war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer, der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gef¨lligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, a so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, sch¨n und kalt, tot und heimlich voll o ¨ von unerh¨rtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Ather und o Sternenraum, dieser einsame Tod! Jetzt ist der ganz in sich hineingegangen, f¨hlte ich unter Schauern. Nie war u ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen w¨re. a Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie ich denken mußte, g¨tzenhaft steif, eine Fliege setzte sich auf seine Stirn, lief o langsam uber Nase und Lippen hinweg – er zuckte mit keiner Falte. ¨ Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was f¨hlte er? War er in einem Himmel, u in einer H¨lle? o Es war mir nicht m¨glich, ihn dar¨ber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der o u Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er wie fr¨her. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Er schien m¨de. Seine Gesicht u u hatte wieder Farbe, seine H¨nde bewegten sich wieder, das braune Haar aber a war jetzt glanzlos und wie erm¨det. u In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals ei¨ ner neuen Ubung hin: ich setzte mich steil auf einen Stuhl, machte die Augen starr, hielt mich vollkommen regungslos und wartete, wie lange ich es aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß m¨de und u bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern. Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind. Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Tr¨mmer. Die u Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ern¨chterung verf¨lschte und verblaßte mir u a die gewohnten Gef¨hle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald u lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die B¨cher waren Papier, die Musik war ein Ger¨usch. So f¨llt um u a a

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einen herbstlichen Baum her das Laub, er f¨hlt es nicht, Regen rinnt an ihm u herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zur¨ck. Er stirbt nicht. Er wartet. u Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen n¨herte sich mir a die Mutter mit besonderer Z¨rtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bem¨ht, a u mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war verreist. Ich war allein.

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Beatrice
Ohne meinen Freund wiedergesehen zu haben, fuhr ich am Ende der Ferien nach St. Meine Eltern kamen beide mit und ubergaben mich mit jeder ¨ m¨glichen Sorgfalt dem Schutz einer Knabenpension bei einem Lehrer des o Gymnasiums. Sie w¨ren vor Entsetzen erstarrt, wenn sie gewußt h¨tten, in a a was f¨r Dinge sie mich nun hineinwandern ließen. u Die Frage war noch immer, ob mit der Zeit aus mir ein guter Sohn und brauchbarer B¨rger werden k¨nne, oder ob meine Natur auf andere Wege hinu o dr¨nge. Mein letzter Versuch, im Schatten des v¨terlichen Hauses und Geistes a a gl¨cklich zu sein, hatte lange gedauert, war zeitweise nahezu gegl¨ckt, und u u schließlich doch v¨llig gescheitert. o Die merkw¨rdige Leere und Vereinsamung, die ich w¨hrend der Ferien nach u a meiner Konfirmation zum erstenmal zu f¨hlen bekam (wie lernte ich sie sp¨ter u a noch kennen, diese Leere, diese d¨nne Luft!), ging nicht so rasch vor¨ber. Der u u Abschied von der Heimat gelang sonderbar leicht, ich sch¨mte mich eigentlich, a daß ich nicht wehm¨tiger war, die Schwestern weinten grundlos, ich konnte u es nicht. Ich war uber mich selbst erstaunt. Immer war ich ein gef¨hlvolles u ¨ Kind gewesen, und im Grunde ein ziemlich gutes Kind. Jetzt war ich ganz verwandelt. Ich verhielt mich v¨llig gleichg¨ltig gegen die ¨ußere Welt und o u a war tagelang nur damit besch¨ftigt, in mich hineinzuhorchen und die Str¨me a o zu h¨ren, die verbotenen und dunklen Str¨me, die da in mir unterirdisch o o rauschten. Ich war sehr rasch gewachsen, erst im letzten halben Jahre, und sah aufgeschossen, mager und unfertig in die Welt. Die Liebensw¨rdigkeit des u Knaben war ganz von mir geschwunden, ich f¨hlte selbst, daß man mich so u nicht lieben k¨nne, und liebte mich selber auch keineswegs. Nach Max Demian o hatte ich oft große Sehnsucht; aber nicht selten haßte ich auch ihn und gab ihm schuld an der Verarmung meines Lebens, die ich wie eine h¨ßliche Krankheit a auf mich nahm. In unserem Sch¨lerpensionat wurde ich anfangs weder geliebt noch geachu tet, man h¨nselte mich erst, zog sich dann von mir zur¨ck und sah einen a u Duckm¨user und unangenehmen Sonderling in mir. Ich gefiel mir in der Rolle, a ubertrieb sie noch, und grollte mich in eine Einsamkeit hinein, die nach außen ¨ best¨ndig wie m¨nnlichste Weltverachtung aussah, w¨hrend ich heimlich oft a a a verzehrenden Anf¨llen von Wehmut und Verzweiflung unterlag. In der Schule a

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hatte ich an aufgeh¨uften Kenntnissen von Zuhause zu zehren, die Klasse war a etwas gegen meine fr¨here zur¨ck, und ich gew¨hnte mir an, meine Altersgeu u o nossen etwas ver¨chtlich als Kinder anzusehen. a Ein Jahr und l¨nger lief das so dahin, auch die ersten Ferienbesuche zu a Hause brachten keine neuen Kl¨nge; ich fuhr gerne wieder weg. a Es war zu Beginn des November. Ich hatte mir angew¨hnt, bei jedem Weto ter kleine, denkerische Spazierg¨nge zu machen, auf denen ich oft eine Art von a Wonne genoß, eine Wonne voll Melancholie, Weltverachtung und Selbstverachtung. So schlenderte ich eines Abends in der feuchten, nebligen D¨mmerung a durch die Umgebung der Stadt, die breite Allee eines ¨ffentlichen Parkes stand o v¨llig verlassen und lud mich ein, der Weg lag dick voll gefallener Bl¨tter, in o a denen ich mit dunkler Wollust mit den F¨ßen w¨hlte, es roch feucht und u u bitter, die fernen B¨ume traten gespenstisch groß und schattenhaft aus den a Nebeln. Am Ende der Allee blieb ich unschl¨ssig stehen, starrte in das schwarze u Laub und atmete mit Gier den nassen Duft von Verwitterung und Absterben, den etwas in mir erwiderte und begr¨ßte. O wie fad das Leben schmeckte! u Aus einem Nebenwege kam im wehenden Kragenmantel ein Mensch daher, ich wollte weitergehen, da rief er mich an. Halloh, Sinclair!“ ” ¨ Er kam heran, es war Alfons Beck, der Alteste unserer Pension. Ich sah ihn immer gern und hatte nichts gegen ihn, als daß er mit mir wie mit allen J¨ngeren immer ironisch und onkelhaft war. Er galt f¨r b¨renstark, sollte u u a den Herrn unsrer Pension unter dem Pantoffel haben und war der Held vieler Gymnasiastenger¨chte. u Was machst du denn hier?“ rief er leutselig mit dem Ton, den die Gr¨ßeren o ” hatten, wenn sie gelegentlich sich zu einem von uns herabließen. Na, wollen ” wir wetten, du machst Gedichte?“ F¨llt mir nicht ein“, lehnte ich barsch ab. a ” Er lachte auf, ging neben mir und plauderte, wie ich es gar nicht mehr gewohnt war. Du brauchst nicht Angst zu haben, Sinclair, daß ich das etwa nicht verste” he. Es hat ja etwas, wenn man so am Abend im Nebel geht, so mit Herbstgedanken, man macht dann gern Gedichte, ich weiß schon. Von der sterbenden Natur, nat¨rlich, und von der verlorenen Jugend, die ihr gleicht. Siehe Heinrich u Heine.“ Ich bin nicht so sentimental“, wehrte ich mich. ” Na, laß gut sein! Aber bei diesem Wetter scheint mir, tut der Mensch gut, ” einen stillen Ort zu suchen, wo es ein Glas Wein oder dergleichen gibt. Kommst du ein bißchen mit? Ich bin gerade ganz allein. – Oder magst du nicht? Deinen

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Verf¨hrer m¨chte ich nicht machen, Lieber, falls du ein Musterknabe sein u o solltest.“ Bald darauf saßen wir in einer kleinen Vorstadtkneipe, tranken einen zweifelhaften Wein und stießen mit den dicken Gl¨sern an. Es gefiel mir zuerst a wenig, immerhin war es etwas Neues. Bald aber wurde ich, des Weines ungewohnt, sehr gespr¨chig. Es war, als sei ein Fenster in mir aufgestoßen, die Welt a schien herein – wie lang, wie furchtbar lang hatte ich mir nichts von der Seele geredet! Ich kam ins Phantasieren, und mitten drinne gab ich die Geschichte von Kain und Abel zum besten! Beck h¨rte mir mit Vergn¨gen zu – endlich jemand, dem ich etwas gab! o u Er klopfte mir auf die Schulter, er nannte mich einen Teufelskerl und mir schwoll das Herz hoch auf vor Wonne, angestaute Bed¨rfnisse der Rede und u Mitteilung schwelgerisch hinstr¨men zu lassen, anerkannt zu sein und bei eio ¨ nem Alteren etwas zu gelten. Als er mich ein geniales Luder nannte, lief mir das Wort wie ein s¨ßer, starker Wein in die Seele. Die Welt brannte in neuen u Farben, Gedanken flossen mir aus hundert kecken Quellen zu, Geist und Feuer lohte in mir. Wir sprachen uber Lehrer und Kameraden, und mir schien, ¨ wir verst¨nden einander herrlich. Wir sprachen von den Griechen und vom u Heidentum, und Beck wollte mich durchaus zu Gest¨ndnissen uber Liebesa ¨ abenteuer bringen. Da konnte ich nun nicht mitreden. Erlebt hatte ich nichts, nichts zum Erz¨hlen. Und was ich in mir gef¨hlt, konstruiert, phantasiert a u hatte, das saß zwar brennend in mir, war aber auch durch den Wein nicht gel¨st und mitteilbar geworden. Von den M¨dchen wußte Beck viel mehr, und o a ich h¨rte diesen M¨rchen gl¨hend zu. Unglaubliches erfuhr ich da, nie f¨r o a u u m¨glich Gehaltenes trat in die platte Wirklichkeit, schien selbstverst¨ndlich. o a Alfons Beck hatte mit seinen vielleicht achtzehn Jahren schon Erfahrungen gesammelt. Unter anderen die, daß es mit den M¨dchen so eine Sache sei, a sie wollten nichts als Sch¨ntun und Galanterien haben, und das war ja ganz o h¨bsch, aber doch nicht das Wahre. Da sei mehr Erfolg bei Frauen zu hoffen. u Frauen seien viel gescheiter. Zum Beispiel die Frau Jaggelt, die den Laden mit den Schulheften und Bleistiften hatte, mit der ließe sich reden, und was hinter ihrem Ladentisch schon alles geschehen sei, das gehe in kein Buch. Ich saß tiefbezaubert und benommen. Allerdings, ich h¨tte die Frau Jaggelt a nicht gerade lieben k¨nnen – aber immerhin, es war unerh¨rt. Es schienen o o ¨ da Quellen zu fließen, wenigstens f¨r die Alteren, von denen ich nie getr¨umt u a hatte. Ein falscher Klang war ja dabei, und es schmeckte alles geringer und allt¨glichr, als nach meiner Meinung die Liebe schmecken durfte, – aber ima merhin, es war Wirklichkeit, es war Leben und Abenteuer, es saß einer neben mir, der es erlebt hatte, dem es selbstverst¨ndlich schien. a Unsere Gespr¨che waren ein wenig herabgestiegen, hatten etwas verloren. a Ich war auch nicht mehr der geniale, kleine Kerl, ich war jetzt bloß noch

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ein Knabe, der einem Manne zuh¨rte. Aber auch so noch – gegen das, was o seit Monaten und Monaten mein Leben gewesen war, war dies k¨stlich, war o dies paradiesisch. Außerdem war es, wie ich erst allm¨hlich zu f¨hlen begann, a u verboten, sehr verboten, vom Wirtshaussitzen bis zu dem, was wir sprachen. Ich jedenfalls schmeckte Geist, schmeckte Revolution darin. Ich erinnere mich jener Nacht mit gr¨ßter Deutlichkeit. Als wir beide, sp¨t o a an tr¨b brennenden Gaslaternen vorbei, in der k¨hlen nassen Nacht unsern u u Heimweg nahmen, war ich zum erstenmal betrunken. Es war nicht sch¨n, es o war ¨ußerst qualvoll, und doch hatte auch das noch etwas, einen Reiz, eine a S¨ßigkeit, war Aufstand und Orgie, war Leben und Geist. Beck nahm sich u meiner tapfer an, obwohl er bitter uber mich als blutigen Anf¨nger schalt, a ¨ und er brachte mich, halb getragen, nach Hause, wo es ihm gelang, mich und sich durch ein offenstehendes Flurfenster einzuschmuggeln. Mit der Ern¨chterung aber, zu der ich nach ganz kurzem totem Schlaf mit u Schmerzen erwachte, kam ein unsinniges Weh uber mich. Ich saß im Bette ¨ auf, hatte das Taghemd noch an, meine Kleider und Schuhe lagen am Boden umher und rochen nach Tabak und Erbrochenem, und zwischen Kopfweh, Obelkeit und rasendem Durstgef¨hl kam mir ein Bild vor die Seele, dem ich u lange nicht mehr ins Auge gesehen hatte. Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles, heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden – und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, g¨ttlich und rein, und alles, alles das hatte – so wußte o ich jetzt – noch gestern, noch vor Stunden, mir geh¨rt, auf mich gewartet und o war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, geh¨rte mir o nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste, goldenste Kindheitsg¨rten zur¨ck von meinen Eltern a u erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme, helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten alles war verw¨stet, alles hatu te ich mit F¨ßen getreten! Wenn jetzt H¨scher gekommen w¨ren und h¨tten u a a a mich gebunden und als Auswurf und Tempelsch¨nder zum Galgen gef¨hrt, a u ich w¨re einverstanden gewesen, w¨re gern gegangen, h¨tte es richtig und gut a a a gefunden. Also so sah ich innerlich aus! Ich, der herumging und die Welt verachtete! Ich, der stolz im Geist war und Gedanken Demians mitdachte! So sah ich aus, ein Auswurf und Schweinigel, betrunken und beschmutzt, ekelhaft und gemein, eine w¨ste Bestie, von scheußlichen Trieben uberrumpelt! So sah ich u ¨ aus, ich, der aus jenen G¨rten kam, wo alles Reinheit, Glanz und holde Zarta heit war, ich, der ich Musik von Bach und sch¨ne Gedichte geliebt hatte! Ich o h¨rte noch mit Ekel und Emp¨rung mein eigenes Lachen, ein betrunkenes, o o unbeherrschtes, stoßweis und albern herausbrechendes Lachen. Das war ich!

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Trotz allem aber war es beinahe ein Genuß, diese Qualen zu leiden. So lange war ich blind und stumpf dahingekrochen, so lange hatte mein Herz geschwiegen und verarmt im Winkel gesessen, daß auch diese Selbstanklagen, dieses Grauen, dies ganze scheußliche Gef¨hl der Seele willkommen war. Es war u doch Gef¨hl, es stiegen doch Flammen, es Zuckte doch Herz darin! Verwirrt u empfand ich mitten im Elend etwas wie Befreiung und Fr¨hling. u Indessen ging es, von außen gesehen, t¨chtig bergab mit mir. Der erste u Rausch war bald nicht mehr der erste. Es wurde an unsrer Schule viel gekneipt und Allotria getrieben, ich war einer der Allerj¨ngsten unter denen, u die mittaten, und bald war ich kein Geduldeter und Kleiner mehr, sondern ein Anf¨hrer und Stern, ein ber¨hmter, wagehalsiger Kneipenbesucher. Ich u u geh¨rte wieder einmal ganz der dunkeln Welt, dem Teufel an, und ich galt in o dieser Welt als ein famoser Kerl. Dabei war mir jammervoll zumute. Ich lebte in einem selbstzerst¨rerischen o Orgiasmus dahin, und w¨hrend ich bei den Kameraden f¨r einen F¨hrer und a u u Teufelskerl, f¨r einen ,verflucht schneidigen und witzigen Burschen galt, hatte u ich tief in mir eine angstvolle Seele voller Bangnis flattern. Ich weiß noch, daß mir einmal die Tr¨nen kamen, als ich beim Verlassen einer Kneipe am Sonna tagvormittag auf der Straße Kinder spielen sah, hell und vergn¨gt mit frischu gek¨mmtem Haar und in Sonntagskleidern. Und w¨hrend ich, zwischen Biera a lachen an schmutzigen Tischen geringer Wirtsh¨user, meine Freunde durch a unerh¨rte Zynismen belustigte und oft erschreckte, hatte ich im verborgenen o Herzen Ehrfurcht vor allem, was ich verh¨hnte, und lag innerlich weinend auf o den Knien vor meiner Seele, vor meiner Vergangenheit, vor meiner Mutter, vor Gott. Daß ich niemals eins wurde mit meinen Begleitern, daß ich unter ihnen einsam blieb und darum so leiden konnte, das hatte einen guten Grund. Ich war ein Kneipenheld und Sp¨tter nach dem Herzen der Rohesten, ich zeigte o Geist und zeigte Mut in meinen Gedanken und Reden uber Lehrer, Schule, ¨ Eltern, Kirche – ich hielt auch Zoten stand und wagte etwa selber eine – aber ich war niemals dabei, wenn meine Kumpane zu M¨dchen gingen, ich war a allein und war voll gl¨hender Sehnsucht nach Liebe, hoffnungsloser Sehnsucht, u w¨hrend ich nach meinen Reden ein abgebr¨hter Genießer h¨tte sein m¨ssen. a u a u Niemand war verletzlicher, niemand schamhafter als ich. Und wenn ich je und je die jungen B¨rgerm¨dchen vor mir gehen sah, h¨bsch und sauber, licht und u a u anmutig, waren sie mir wunderbare, reine Tr¨ume, tausendmal zu gut und a rein f¨r mich. Eine Zeitlang konnte ich auch nicht mehr in den Papierladen u der Frau Jaggelt gehen, weil ich rot wurde, wenn ich sie ansah und an das dachte, was Alfons Beck mir von ihr erz¨hlt hatte. a Je mehr ich nun auch in meiner neuen Gesellschaft mich fortw¨hrend eina sam und anders wußte, desto weniger kam ich von ihr los. Ich weiß wirklich

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nicht mehr, ob das Saufen und Renommieren mir eigentlich jemals Vergn¨gen u machte, auch gew¨hnte ich mich an das Trinken niemals so, daß ich nicht jeo desmal peinliche Folgen gesp¨rt h¨tte. Es war alles wie ein Zwang. Ich tat, u a was ich mußte, weil ich sonst durchaus nicht wußte, was mit mir beginnen. Ich hatte Furcht vor langem Alleinsein, hatte Angst vor den vielen zarten, schamhaften, innigen Anwandlungen, zu denen ich mich stets geneigt f¨hlte, u hatte Angst vor den zarten Liebesgedanken, die mir so oft kamen. Eines fehlte mir am meisten – ein Freund. Es gab zwei oder drei Mitsch¨ler, u die ich sehr gerne sah. Aber sie geh¨rten zu den Braven, und meine Laster o waren l¨ngst niemandem mehr ein Geheimnis. Sie mieden mich. Ich galt bei a allen f¨r einen hoffnungslosen Spieler, dem der Boden unter den F¨ßen wanku u te. Die Lehrer wußten viel von mir, ich war mehrmals streng bestraft worden, meine schließliche Entlassung aus der Schule war etwas, worauf man wartete. Ich selbst wußte das, ich war auch schon lange kein guter Sch¨ler mehr, sonu dern dr¨ckte und schwindelte mich m¨hsam durch, mit dem Gef¨hl, daß das u u u nicht mehr lange dauern k¨nne. o Es gibt viele Wege, auf denen der Gott uns einsam machen und zu uns selber f¨hren kann. Diesen Weg ging er damals mit mir. Es war wie ein aru ¨ ger Traum. Uber Schmutz und Klebrigkeit, uber zerbrochene Biergl¨ser und a ¨ zynisch durchschwatzte N¨chte weg sehe ich mich, einen gebannten Tr¨umer, a a ruhelos und gepeinigt kriechen, einen h¨ßlichen und unsaubern Weg. Es gibt a solche Tr¨ume, in denen man, auf dem Weg zur Prinzessin, in Kotlachen, in a Hintergassen voll Gestank und Unrat steckenbleibt. So ging es mir. Auf diese wenig feine Art war es mir beschieden, einsam zu werden und zwischen mich und die Kindheit ein verschlossenes Edentor mit erbarmungslos strahlenden W¨chtern zu bringen. Es war ein Beginn, ein Erwachen des Heimwehs nach a mir selber. Ich erschrak noch und hatte Zuckungen, als zum erstenmal, durch Briefe meines Pensionsherrn alarmiert, mein Vater in St. erschien und mir unerwartet gegen¨bertrat. Als er, gegen Ende jenes Winters, zum zweitenmal kam, war u ich schon hart und gleichg¨ltig, ließ ihn schelten, ließ ihn bitten, ließ ihn an u die Mutter erinnern. Er war zuletzt sehr aufgebracht und sagte, wenn ich nicht anders werde, lasse er mich mit Schimpf und Schande von der Schule jagen und stecke mich in eine Besserungsanstalt. Mochte er! Als er damals abreiste, tat er mir leid, aber er hatte nichts erreicht, er hatte keinen Weg mehr zu mir gefunden, und f¨r Augenblicke f¨hlte ich, es geschehe ihm recht. u u Was aus mir w¨rde, war mir einerlei. Auf meine sonderbare und wenig u h¨bsche Art, mit meinem Wirtshaussitzen und Auftrumpfen lag ich im Streit u mit der Welt, dies war meine Form zu protestieren. Ich machte mich dabei kaputt, und zuweilen sah f¨r mich die Sache etwa so aus: wenn die Welt Leute u wie mich nicht brauchen konnte, wenn sie f¨r sie keinen bessern Platz, keine u

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h¨hern Aufgaben hatte, nun, so gingen die Leute wie ich eben kaputt. Mochte o die Welt den Schaden haben. Die Weihnachtsferien jenes Jahres waren recht unerfreulich. Meine Mutter erschrak, als sie mich wiedersah. Ich war noch mehr gewachsen, und mein hageres Gesicht sah grau und verw¨stet aus, mit schlaffen Z¨gen und entz¨ndeten u u u Augenr¨ndern. Der erste Anflug des Schnurrbartes und die Brille, die ich seit a kurzem trug, machten mich ihr noch fremder. Die Schwestern wichen zur¨ck u und kicherten. Es war alles unerquicklich. Unerquicklich und bitter das Gespr¨ch mit dem Vater in dessen Studierzimmer, unerquicklich das Begr¨ßen a u der paar Verwandten, unerquicklich vor allem der Weihnachtsabend. Das war, seit ich lebte, in unsrem Hause der große Tag gewesen, der Abend der Festlichkeit und Liebe, der Dankbarkeit, der Erneuerung des Bundes zwischen den Eltern und mir. Diesmal war alles nur bedr¨ckend und verlegenmachend. u Wie sonst las mein Vater das Evangelium von den Hirten auf dem Felde, die ” h¨teten allda ihre Herde“, wie sonst standen die Schwestern strahlend vor u ihrem Gabentisch, aber die Stimme des Vaters klang unfroh, und sein Gesicht sah alt und beengt aus, und die Mutter war traurig, und mir war alles gleich peinlich und unerw¨nscht, Gaben und Gl¨ckw¨nsche, Evangelium und u u u Lichterbaum. Die Lebkuchen rochen s¨ß und str¨mten dichte Wolken s¨ßerer u o u Erinnerungen aus. Der Tannenbaum duftete und erz¨hlte von Dingen, die a nicht mehr waren. Ich sehnte das Ende des Abends und der Feiertage herbei. Es ging den ganzen Winter so weiter. Erst vor kurzem war ich eindringlich vom Lehrersenat verwarnt und mit dem Ausschluß bedroht worden. Es w¨rde u nicht lange mehr dauern. Nun, meinetwegen. Einen besonderen Groll hatte ich gegen Max Demian. Den hatte ich nun die ganze Zeit nicht mehr gesehen. Ich hatte ihm, am Beginn meiner Sch¨lerzeit u in St., zweimal geschrieben, aber keine Antwort bekommen; darum hatte ich ihn auch in den Ferien nicht besucht. In demselben Park, wo ich im Herbst mit Alfons Beck zusammengetroffen war, geschah es im beginnenden Fr¨hling, als eben die Dornhecken gr¨n zu werden u u anfingen, daß ein M¨dchen mir auffiel. Ich war allein spazierengegangen, voll a von widerlichen Gedanken und Sorgen, denn meine Gesundheit war schlecht geworden, und außerdem war ich best¨ndig in Geldverlegenheiten, war Kaa meraden Betr¨ge schuldig, mußte notwendige Ausgaben erfinden, um wieder a etwas von Hause zu erhalten, und hatte in mehreren L¨den Rechnungen f¨r a u Zigarren und ¨hnliche Dinge anwachsen lassen. Nicht daß diese Sorgen sehr a tief gegangen w¨renwenn n¨chstens einmal mein Hiersein sein Ende nahm und a a ich ins Wasser ging oder in die Besserungsanstalt gebracht wurde, dann kam es auf diese paar Kleinigkeiten auch nimmer an. Aber ich lebte doch immerzu Aug’ in Auge mit solchen unsch¨nen Sachen und litt darunter. o

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An jenem Fr¨hlingstag im Park begegnete mir eine junge Dame, die mich u sehr anzog. Sie war groß und schlank, elegant gekleidet und hatte ein kluges Knabengesicht. Sie gefiel mir sofort, sie geh¨rte dem Typ an, den ich liebte, o und sie begann meine Phantasien zu besch¨ftigen. Sie war wohl kaum viel a a ¨lter als ich, aber viel fertiger, elegant und wohl umrissen, schon fast ganz ¨ Dame, aber mit einem Anflug von Ubermut und Jungenhaftigkeit im Gesicht, den ich uberaus gern hatte. ¨ Es war mir nie gegl¨ckt, mich einem M¨dchen zu n¨hern, in das ich verliebt u a a war, und es gl¨ckte mir auch bei dieser nicht. Aber der Eindruck war tiefer als u alle fr¨heren, und der Einfluß dieser Verliebtheit auf mein Leben war gewaltig. u Pl¨tzlich hatte ich wieder ein Bild vor mir stehen, ein hohes und verehrtes o Bild – ach, und kein Bed¨rfnis, kein Drang war so tief und heftig in mir wie u der Wunsch nach Ehrfurcht und Anbetung! Ich gab ihr den Namen Beatrice, denn von ihr wußte ich, ohne Dante gelesen zu haben, aus einem englischen Gem¨lde, dessen Reproduktion ich mir aufbewahrt hatte. Dort war es a eine englisch-pr¨raffaelitische M¨dchenfigur, sehr langgliedrig und schlank mit a a schmalem, langem Kopf und vergeistigten H¨nden und Z¨gen. Mein sch¨nes, a u o junges M¨dchen glich ihr nicht ganz, obwohl auch sie diese Schlankheit und a Knabenhaftigkeit der Formen zeigte, die ich liebte, und etwas von der Vergeistigung oder Beseelung des Gesichts. Ich habe mit Beatrice nicht ein einziges Wort gesprochen. Dennoch hat sie damals den tiefsten Einfluß auf mich ausge¨bt. Sie stellte ihr Bild vor mir auf, u sie ¨ffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem Tempel. o Von einem Tag auf den andern blieb ich von den Kneipereien und n¨chtlichen a Streifz¨gen weg. Ich konnte wieder allein sein, ich las wieder gern, ich ging u wieder gern spazieren. Die pl¨tzliche Bekehrung trug mir Spott genug ein. Aber ich hatte nun o etwas zu lieben und anzubeten, ich hatte wieder ein Ideal, das Leben war wieder voll von Ahnung und bunt geheimnisvoller D¨mmerung – das machte a mich unempfindlich. Ich war wieder bei mir selbst zu Hause, obwohl nur als Sklave und Dienender eines verehrten Bildes. An jene Zeit kann ich nicht ohne eine gewisse R¨hrung denken. Wieder u versuchte ich mit innigstem Bem¨hen, aus Tr¨mmern einer zusammengebrou u chenen Lebensperiode mir eine lichte Welt“ zu bauen, wieder lebte ich ganz ” in dem einzigen Verlangen, das Dunkle und B¨se in mir abzutun und v¨llig o o im Lichten zu weilen, auf Knien vor G¨ttern. Immerhin war diese jetzige o lichte Welt“ einigermaßen meine eigene Sch¨pfung; es war nicht mehr ein o ” Zur¨ckfliehen und Unterkriechen zur Mutter und verantwortungslosen Geboru genheit, es war ein neuer, von mir selbst erfundener und geforderter Dienst, mit Verantwortlichkeit und Selbstzucht. Die Geschlechtlichkeit, unter der ich litt und vor der ich immer und immer auf der Flucht war, sollte nun in diesem

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heiligen Feuer zu Geist und Andacht verkl¨rt werden. Es durfte nichts Fina steres mehr, nichts H¨ßliches geben, keine durchst¨hnten N¨chte, kein Herza o a klopfen vor unz¨chtigen Bildern, kein Lauschen an verbotenen Pforten, keine u L¨sternheit. Statt alles dessen richtete ich meinen Altar ein, mit dem Bilde u Beatricens, und indem ich mich ihr weihte, weihte ich mich dem Geist und den G¨ttern. Den Lebensanteil, den ich den finsteren M¨chten entzog, bracho a te ich den lichten zum Opfer. Nicht Lust war mein Ziel, sondern Reinheit, nicht Gl¨ck, sondern Sch¨nheit und Geistigkeit. u o Dieser Kult der Beatrice ¨nderte mein Leben ganz und gar. Gestern noch ein a fr¨hreifer Zyniker, war ich jetzt ein Tempeldiener, mit dem Ziel, ein Heiliger u zu werden. Ich tat nicht nur das uble Leben ab, an das ich mich gew¨hnt o ¨ hatte, ich z¨chte alles zu ¨ndern, suchte Reinheit, Adel und W¨rde in alles u a u zu bringen, dachte hieran in Essen und Trinken, Sprache und Kleidung. Ich begann den Morgen mit kalten Waschungen, zu denen ich mich anfangs schwer zwingen mußte. Ich benahm mich ernst und w¨rdig, trug mich aufrecht und u machte meinen Gang langsamer und w¨rdiger. F¨r Zuschauer mag es komisch u u ausgesehen haben – bei mir innen war es lauter Gottesdienst. ¨ Von all den neuen Ubungen, in denen ich Ausdruck f¨r meine neue Gesinu nung suchte, wurde eine mir wichtig. Ich begann zu malen. Es fing damit an, daß das englische Beatricebild, das ich besaß, jenem M¨dchen nicht ¨hnlich a a genug war. Ich wollte versuchen, sie f¨r mich zu malen. Mit einer ganz neuu en Freude und Hoffnung trug ich in meinem Zimmer ich hatte seit kurzem ein eigenes – sch¨nes Papier, Farben und Pinsel zusammen, machte Palette, o Glas, Porzellanschalen, Bleistifte zurecht. Die feinen Temperafarben, die ich gekauft hatte, entz¨ckten mich. Es war ein feuriges Chromoxydgr¨n dabei, u u das ich noch zu sehen meine, wie es erstmals in der kleinen, weißen Schale aufleuchtete. Ich begann mit Vorsicht. Ein Gesicht zu malen, war schwer, ich wollte es erst mit anderem probieren. Ich malte Ornamente, Blumen und kleine phantasierte Landschaften; einen Baum bei einer Kapelle, eine r¨mische Br¨cke mit o u Zypressen. Manchmal verlor ich mich ganz in dies spielende Tun, war gl¨cklich u wie ein Kind mit einer Farbenschachtel. Schließlich aber begann ich, Beatrice zu malen. Einige Bl¨tter mißgl¨ckten ganz und wurden weggetan. Je mehr ich mir a u das Gesicht des M¨dchens vorzustellen suchte, das ich je und je auf der Straa ße antraf, desto weniger wollte es gehen. Schließlich tat ich darauf Verzicht und begann einfach ein Gesicht zu malen, der Phantasie und den F¨hrungen u folgend, die sich aus dem Begonnenen, aus Farbe und Pinsel von selber ergaben. Es war ein getr¨umtes Gesicht, das dabei herauskam, und ich war nicht a unzufrieden damit. Doch setzte ich den Versuch sogleich fort, und jedes neue Blatt sprach etwas deutlicher, kam dem Typ n¨her, wenn auch keineswegs der a

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Wirklichkeit. Mehr und mehr gew¨hnte ich mich daran, mit tr¨umerischem Pinsel Linien o a zu ziehen und Fl¨chen zu f¨llen, die ohne Vorbild waren, die sich aus spielena u dem Tasten, aus dem Unbewußten ergaben. Endlich machte ich eines Tages, fast bewußtlos, ein Gesicht fertig, das st¨rker als die fr¨heren zu mir sprach. a u Es war nicht das Gesicht jenes M¨dchens, das sollte es auch l¨ngst nimmer a a sein. Es war etwas anderes, etwas Unwirkliches, doch nicht minder Wertvolles. Es sah mehr wie ein J¨nglingskopf aus als wie ein M¨dchengesicht, das Haar u a war nicht hellblond wie bei meinem h¨bschen M¨dchen, sondern braun mit u a r¨tlichem Hauch, das Kinn war stark und fest, der Mund aber rotbl¨hend, das o u Ganze etwas steif und maskenhaft, aber eindr¨cklich und voll von geheimem u Leben. Als ich vor dem fertigen Blatte saß, machte es mir einen seltsamen Eindruck. Es schien mir eine Art von G¨tterbild oder heiliger Maske zu sein, o halb m¨nnlich, halb weiblich, ohne Alter, ebenso willensstark wie tr¨umerisch, a a ebenso starr wie heimlich lebendig. Dies Gesicht hatte mir etwas zu sagen, es ¨ geh¨rte zu mir, es stellte Forderungen an mich. Und es hatte Ahnlichkeit mit o irgendjemand, ich wußte nicht mit wem. Das Bildnis begleitete nun eine Weile alle meine Gedanken und teilte mein Leben. Ich hielt es in einer Schieblade verborgen, niemand sollte es erwischen und mich damit verh¨hnen k¨nnen. Aber sobald ich allein in meinem St¨bchen o o u war, zog ich das Bild heraus und hatte Umgang mit ihm. Abends heftete ich es mit einer Nadel mir gegen¨ber uberm Bett an die Tapete, sah es bis zum u ¨ Einschlafen an, und morgens fiel mein erster Blick darauf. Gerade in jener Zeit fing ich wieder an, viel zu tr¨umen, wie ich es als a Kind stets getan hatte. Mir schien, ich habe jahrelang keine Tr¨ume mehr a gehabt. Jetzt kamen sie wieder, eine ganz neue Art von Bildern, und oft und oft tauchte das gemalte Bildnis darin auf, lebend und redend, mir befreundet Oder feindlich, manchmal bis zur Fratze verzogen und manchmal unendlich sch¨n, harmonisch und edel. o Und eines Morgens, als ich aus solchen Tr¨umen erwachte, erkannte ich es a pl¨tzlich. Es sah mich so fabelhaft wohlbekannt an, es schien meinen Namen o zu rufen. Es schien mich zu kennen, wie eine Mutter, schien mir seit allen Zeiten zugewandt. Mit Herzklopfen starrte ich das Blatt an, die braunen, dichten Haare, den halbweiblichen Mund, die starke Stirn mit der sonderbaren Helligkeit (es war von selber so aufgetrocknet), und n¨her und n¨her f¨hlte a a u ich in mir die Erkenntnis, das Wiederfinden, das Wissen. Ich sprang aus dem Bette, stellte mich vor dem Gesicht auf und sah es aus n¨chster N¨he an, gerade in die weit offenen, gr¨nlichen, starren Augen hinein, a a u von denen das rechte etwas h¨her als das andere stand. Und mit einemmal o zuckte dies rechte Auge, zuckte leicht und fein, aber deutlich, und mit diesem

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Zucken erkannte ich das Bild . . . Wie hatte ich das erst so sp¨t finden k¨nnen! Es war Demians Gesicht. a o Sp¨ter verglich ich das Blatt oft und oft mit Demians wirklichen Z¨gen, a u wie ich sie in meinem Ged¨chtnis fand. Sie waren gar nicht dieselben, obwohl a a ¨hnlich. Aber es war doch Demian. Einst an einem Fr¨hsommerabend schien die Sonne schr¨g und rot durch u a mein Fenster, das nach Westen blickte. Im Zimmer wurde es d¨mmerig. Da a kam ich auf den Einfall, das Bildnis Beatricens, oder Demians, mit der Nadel ans Fensterkreuz zu heften und es anzusehen, wie die Abendsonne hindurch schien. Das Gesicht verschwamm ohne Umrisse, aber die r¨tlich umrandeten o Augen, die Helligkeit auf der Stirn und der heftig rote Mund gl¨hten tief und u wild aus der Fl¨che. Lange saß ich ihm gegen¨ber, auch als es schon erloschen a u war. Und allm¨hlich kam mir ein Gef¨hl, daß das nicht Beatrice und nicht a u Demian sei, sondern – ich selbst. Das Bild glich mir nicht – das sollte es auch nicht, f¨hlte ich – aber es war das, was mein Leben ausmachte, es war mein u Inneres, mein Schicksal oder mein D¨mon. So w¨rde mein Freund aussehen, a u wenn ich je wieder einen f¨nde. So w¨rde meine Geliebte aussehen, wenn ich a u je eine bek¨me. So w¨rde mein Leben und so mein Tod sein, dies war der a u Klang und Rhythmus meines Schicksals. In jenen Wochen hatte ich eine Lekt¨re begonnen, die mir tieferen Eindruck u machte als alles, was ich fr¨her gelesen. Auch sp¨ter habe ich selten mehr u a B¨cher so erlebt, vielleicht nur noch Nietzsche. Es war ein Band Novalis, mit u Briefen und Sentenzen, von denen ich viele nicht verstand und die mich doch alle uns¨glich anzogen und umspannten. Einer von den Spr¨chen fiel mir nun a u ein. Ich schrieb ihn mit der Feder unter das Bildnis: Schicksal und Gem¨t u ” sind Namen eines Begriffs.“ Das hatte ich nun verstanden. Das M¨dchen, das ich Beatrice nannte, begegnete mir noch oft. Ich f¨hlte a u ¨ keine Bewegung mehr dabei, aber stets ein sanftes Ubereinstimmen, ein gef¨hlhaftes Ahnen: du bist mir verkn¨pft, aber nicht du, nur dein Bild; du bist u u ein St¨ck von meinem Schicksal. u Meine Sehnsucht nach Max Demian wurde wieder m¨chtig. Ich wußte nichts a von ihm, seit Jahren nichts. Ein einziges Mal hatte ich ihn in den Ferien angetroffen. Ich sehe jetzt, daß ich diese kurze Begegnung in meinen Aufzeichnungen unterschlagen habe, und sehe, daß es aus Scham und Eitelkeit geschah. Ich muß es nachholen. Also einmal in den Ferien, als ich mit dem blasierten und stets etwas m¨den u Gesicht meiner Wirtshauszeit durch meine Vaterstadt schlenderte, meinen Spazierstock schwang und den Philistern in die alten, gleichgebliebenen, verachteten Gesichter sah, da kam mir mein ehemaliger Freund entgegen. Kaum sah ich ihn, so zuckte ich zusammen. Und blitzschnell mußte ich an Franz Kromer denken. M¨chte doch Demian diese Geschichte wirklich vergessen haben! o

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Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben eigentlich ja eine dumme Kindergeschichte, aber doch eben eine Verpflichtung . . . Er schien zu warten, ob ich ihn gr¨ßen wolle, und als ich es m¨glichst gelasu o sen tat, gab er mir die Hand. Das war wieder sein H¨ndedruck! So fest, warm a und doch k¨hl, m¨nnlich! Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte: Du u a ” bist groß geworden, Sinclair.“ Er selbst schien mir ganz unver¨ndert, gleich a alt, gleich jung wie immer. Er schloß sich mir an, wir machten einen Spaziergang und sprachen uber ¨ lauter nebens¨chliche Dinge, nichts von damals. Es fiel mir ein, daß ich ihm a einst mehrmals geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Ach, m¨chte o er doch such das vergessen haben, diese dummen, dummen Briefe! Er sagte nichts davon! Es gab damals noch keine Beatrice und kein Bildnis, ich war noch mitten in meiner w¨sten Zeit. Vor der Stadt lud ich ihn ein, mit in ein Wirtshaus zu u kommen. Er ging mit. Prahlerisch bestellte ich eine Flasche Wein, schenkte ein, stieß mit ihm an und zeigte mich mit den studentischen Trinkgebr¨uchen a sehr vertraut, leerte auch das erste Glas auf einen Zug. Du gehst viel ins Wirtshaus?““ fragte er mich. ” Ach ja“, sagte ich tr¨ge, was soll man sonst tun? Es ist am Ende immer a ” ” noch das Lustigste.“ Findest du? Es kann schon sein. Etwas daran ist ja sehr sch¨n – der Rausch, o ” das Bacchische! Aber ich finde, bei den meisten Leuten, die viel im Wirtshaus sitzen, ist das ganz verlorengegangen. Mir kommt es so vor, als sei gerade das Wirtshauslaufen etwas richtig Philisterhaftes. Ja, eine Nacht lang, mit brennenden Fackeln, zu einem richtigen, sch¨nen Rausch und Taumel! Aber o so immer wieder, ein Sch¨ppchen ums andere, das ist doch wohl nicht das o Wahre? Kannst du dir etwa den Faust vorstellen, wie er Abend f¨r Abend an u einem Stammtisch sitzt?“ Ich trank und schaute ihn feindselig an. Ja, es ist eben nicht jeder ein Faust“, sagte ich kurz. ” Er sah mich etwas stutzig an. ¨ Dann lachte er mit der alten Frische und Uberlegenheit. Na, wozu dar¨ber streiten? Jedenfalls ist das Leben eines S¨ufers oder u a ” W¨stlings vermutlich lebendiger als das des tadellosen B¨rgers. Und dann u u – ich habe das einmal gelesenist das Leben des W¨stlings eine der besten u Vorbereitungen f¨r den Mystiker. Es sind ja auch immer solche Leute wie der u heilige Augustin, die zu Sehern werden. Der war vorher auch ein Genießer und Lebemann.“ Ich war mißtrauisch und wollte mich keineswegs von ihm meistern lassen. So sagte ich blasiert: Ja, jeder nach seinem Geschmack! Mir ist es, offen ” gestanden, gar nicht darum zu tun, ein Seher oder so etwas zu werden.“

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Demian blitzte mich aus leicht eingekniffenen Augen wissend an. Lieber Sinclair“, sagte er langsam, es war nicht meine Absicht, dir Un” ” ¨ angenehmes zu sagen. Ubrigens – zu welchem Zweck du jetzt deine Schoppen trinkst, wissen wir ja beide nicht. Das in dir, was dein Leben macht, weiß es schon. Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber. – Aber verzeih, ich muß nach Hause.“ Wir nahmen kurzen Abschied. Ich blieb sehr mißmutig sitzen, trank meine Flasche vollends aus, und fand, als ich gehen wollte, daß Demian sie schon bezahlt hatte. Das ¨rgerte mich noch mehr. a Bei dieser kleinen Begebenheit hielten nun meine Gedanken wieder an. Sie waren voll von Demian. Und die Worte, Ike er in jenem Gasthaus vor der Stadt gesagt, kamen in meinem Ged¨chtnis wieder hervor, seltsam frisch und a unverloren. – Es ist so gut, das zu wissen, daß in uns drinnen einer W, der ” alles weiß!“ Ich blickte auf das Bild, das am Fenster hing und ganz erloschen war. Aber ich sah die Augen noch gl¨hen. Das war der Dick Demians. Oder es war der, u der in mir drinnen war. Der, der alles weiß. Wie hatte ich Sehnsucht nach Demian! Ich wußte nichts von ihm, er war mir nicht erreichbar. Ich wußte nur, daß er vermutlich irgendwo studiere und daß nach dem Abschluß seiner Gymnasiastenzeit seine Mutter unsere Stadt verlassen habe. Bis zu meiner Geschichte mit Kromer zur¨ck suchte ich alle Erinnerungen u an Max Demian in mir hervor. Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst gesagt hatte, und alles hatte heut noch Sinn, war aktuell, ging mich an! Auch das, was er bei unsrem letzten, so wenig erfreulichen Zusammentreffen uber den W¨stling und den Heiligen gesagt hatte, stand mir pl¨tzlich hell u o ¨ vor der Seele. War es nicht genauso mit mir gegangen? Hatte ich nicht in Rausch und Schmutz gelebt, in Bet¨ubung und Verlorenheit, bis mit einem a neuen Lebensantrieb gerade das Gegenteil in mir lebendig geworden war, das Verlangen nach Reinheit, die Sehnsucht nach dem Heiligen? So ging ich weiter den Erinnerungen nach, es war l¨ngst Nacht geworden, a und draußen regnete es. Auch in meinen Erinnerungen h¨rte ich es regnen, es o war die Stunde unter den Kastanienb¨umen, wo er mich einst wegen Franz a Kromer ausgefragt und meine ersten Geheimnisse erraten hatte. Eines ums andere kam hervor, Gespr¨che auf dem Schulweg, die Konfirmationsstunden. a Und zuletzt fiel mein allererstes Zusammentreffen mit Max Demian mir ein. Um was hatte es sich doch da gehandelt? Ich kam nicht gleich darauf, aber ich ließ mir Zeit, ich war ganz darein versunken. Und nun kam es wieder, auch das. Wir waren vor unserem Hause gestanden, nachdem er mir seine Meinung uber Kain mitgeteilt hatte. Da hatte er von dem alten, verwischten Wappen ¨

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gesprochen, das uber unsrem Haustor saß, in dem von unten nach oben breiter ¨ werdenden Schlußstein. Er hatte gesagt, es interessiere ihn, und man m¨sse u auf solche Sachen achthaben. In der Nacht tr¨umte ich von Demian und von dem Wappen. Es verwandela te sich best¨ndig, Demian hielt es in H¨nden, oft war es klein und grau, oft a a m¨chtig groß und vielfarbig, aber er erkl¨rte mir, daß es doch immer ein und a a dasselbe sei. Zuletzt aber n¨tigte er mich, das Wappen zu essen. Als ich es geo schluckt hatte, sp¨rte ich mit ungeheurem Erschrecken, daß der verschlungene u Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausf¨lle und von innen zu verzehren u beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte. Ich wurde munter, es war mitten in der Nacht, und h¨rte es ins Zimmer o regnen. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, und trat dabei auf etwas Helles, das am Boden lag. Am Morgen fand ich, daß es mein gemaltes Blatt war. Es lag in der N¨sse am Boden und hatte sich in W¨lste geworfen. Ich a u spannte es zum Trocknen zwischen Fließbl¨tter in ein schweres Buch. Als ich a am n¨chsten Tage wieder danach sah, war es getrocknet. Es hatte sich aber a ver¨ndert. Der rote Mund war verblaßt und etwas schm¨ler geworden. Es war a a jetzt ganz der Mund Demians. Ich ging nun daran, ein neues Blatt zu malen, den Wappenvogel. Wie er eigentlich aussah, wußte ich nicht mehr deutlich, und einiges daran war, wie ich wußte, auch aus der N¨he nicht gut mehr zu erkennen, da das Ding alt a und oftmals mit Farbe uberstrichen worden war. Der Vogel stand oder saß ¨ auf etwas, vielleicht auf einer Blume, oder auf einem Korb oder Nest, oder auf einer Baumkrone. Ich k¨mmerte mich nicht darum und fing mit dem an, u wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bed¨rfnis u begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding in einigen Tagen fertig. Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen, k¨hnen Sperberkopf. Er stak u mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das Blatt l¨nger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das farbige a Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war. Einen Brief an Demian zu schreiben, w¨re mir nicht m¨glich gewesen, auch a o wenn ich gewußt h¨tte wohin. Ich beschloß aber, in demselben traumhafa ten Ahnen, mit dem ich damals alles tat, ihm das Bild mit dem Sperber zu schicken, mochte es ihn dann erreichen oder nicht. Ich schrieb nichts darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die R¨nder sorgf¨ltig, kaufte einen großen a a Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse darauf. Dann schickte ich es fort. Ein Examen kam n¨her, und ich mußte mehr als sonst f¨r die Schule arbeia u

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ten. Die Lehrer hatten mich wieder zu Gnaden angenommen, seit ich pl¨tzlich o meinen schn¨den Wandel ge¨ndert hatte. Ein guter Sch¨ler war ich auch jetzt o a u wohl nicht, aber weder ich noch sonst jemand dachte noch daran, daß vor einem halben Jahr meine strafweise Entlassung aus der Schule allen wahrscheinlich gewesen war. Mein Vater schrieb mir jetzt wieder mehr in dem Ton wie fr¨her, ohne u Vorw¨rfe und Drohungen. Doch hatte ich keinen Trieb, ihm oder irgend jeu mand zu erkl¨ren, wie die Wandlung mit mir vor sich gegangen war. Es war a ein Zufall, daß diese Wandlung mit den W¨nschen meiner Eltern und hehrer u ubereinstimmte. Diese Wandlung brachte mich nicht zu den andern, n¨herte a ¨ mich niemandem an, machte mich nur einsamer. Sie zielte irgendwohin, zu Demian, zu einem fernen Schicksal. Ich wußte es selber ja nicht, ich stand ja mitten drin. Mit Beatrice hatte es angefangen, aber seit einiger Zeit lebte ich mit meinen gemalten Bl¨ttern und meinen Gedanken an Demian in einer so a ganz unwirklichen Welt, daß ich auch sie v¨llig aus den Augen und Gedanken o verlor. Niemand h¨tte ich von meinen Tr¨umen, meinen Erwartungen, meiner a a inneren Umwandlung ein Wort sagen k¨nnen, auch nicht, wenn ich gewollt o h¨tte. a Aber wie h¨tte ich dies wollen k¨nnen? a o

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Der Vogel k¨mpft sich aus dem Ei a
Mein gemalter Traumvogel war unterwegs und suchte meinen Freund. Auf die wunderlichste Weise kam mir eine Antwort. In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buche stecken. Er war genau so gefaltet, wie es bei uns ublich war, wenn Klassengenossen zuweilen w¨hrend a ¨ einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. Mich wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschickte, denn ich stand mit keinem Mitsch¨ler u je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die Aufforderung zu irgendeinem Sch¨lerspaß sein, an dem ich doch nicht teilnehmen w¨rde, und legte den u u Zettel ungelesen vorn in mein Buch. Erst w¨hrend der Lektion fiel er mir a zuf¨llig wieder in die Hand. a Ich spielte mit dem Papier, entfaltete es gedankenlos und fand einige Worte darein geschrieben. Ich warf einen Blick darauf, blieb an einem Wort h¨ngen, a erschrak und las, w¨hrend mein Herz sich vor Schicksal wie in großer K¨lte a a zusammenzog: Der Vogel k¨mpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren a ” werden will, muß eine Welt zerst¨ren. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott o heißt Abraxas.“ Ich versank nach dem mehrmaligen Lesen dieser Zeilen in tiefes Nachsinnen. Es war kein Zweifel m¨glich, es war Antwort von Demian. Niemand konnte o von dem Vogel wissen, als ich und er. Er hatte mein Bild bekommen. Er hatte verstanden und half mir deuten. Aber wie hing alles zusammen? Und – das plagte mich vor allem – was hieß Abraxas? Ich hatte das Wort nie geh¨rt oder o gelesen. Der Gott heißt Abraxas!“ ” Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht h¨rte. Die n¨chste o a begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universit¨t kam und uns schon darum gefiel, weil er a so jung war und sich uns gegen¨ber keine falsche W¨rde anmaßte. u u Wir lasen unter Doktor Follens F¨hrung Herodot. Diese Lekt¨re geh¨rte zu u u o den wenigen Schulf¨chern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich nicht a dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Ober¨ setzer nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Ubrigens hatte ich schon

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mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich w¨hrend des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken a besch¨ftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ. a ja, wenn man zerstreut war oder schl¨frig, dann stand er pl¨tzlich da: das war a o mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man gesch¨tzt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte u ich schon probiert und bew¨hrt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es a mir nicht gegl¨ckt, jetzt sp¨rte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken u u sehr viel ausrichten konnte. So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schrecken erwachte. Ich h¨rte seine Stimme, er stand o dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er sah mich nicht an. Ich atmete auf. Da h¨rte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: Abraxas.“ o ” In einer Erkl¨rung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen a fort: Wir m¨ssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen Vereiniu ” gungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum uberhaupt nicht. Daf¨r gab es eine Besch¨ftigung u a ¨ mit philosophischmystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen f¨hrte. Aber auch die Magie hatte eine edle Herkunft und tiefe u Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anf¨hrte. u Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und h¨lt ihn vielfach f¨r den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde a u V¨lker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet. o Wir k¨nnen uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die o symbolische Aufgabe hatte, das G¨ttliche und das Teuflische zu vereinigen.“ o Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter, niemand war sehr aufmerksam, und da der Name nicht mehr vorkam, sank auch meine Aufmerksamkeit bald wieder in mich selbst zur¨ck. u Das G¨ttliche und das Teuflische vereinigen“, klang es mir nach. Hier konno ” te ich ankn¨pfen. Das war mir von den Gespr¨chen mit Demian in der allerletzu a ten Zeit unserer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals gesagt, wir h¨tten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willk¨rlich a u abgetrennte H¨lfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte lichte“ Welt). a ” Man m¨sse aber die ganze Welt verehren k¨nnen, also m¨sse man entweder u o u einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man m¨sse neben dem Gottesu dienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. – Und nun War also Abraxas

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der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war. Eine Zeitlang suchte ich mit großem Eifer auf der Spur weiter, ohne doch vorw¨rts zu kommen. Ich st¨berte auch eine ganze Bibliothek erfolglos nach a o dem Abraxas durch. Doch war mein Wesen niemals stark auf diese Art des direkten und bewußten Suchens eingestellt, wobei man zuerst nur Wahrheiten findet, die einem Steine in der Hand bleiben. Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel und innig besch¨ftigt war, sank nun allm¨hlich unter, oder vielmehr sie trat a a langsam von mir hinweg, n¨herte sich mehr und mehr dem Horizont und wurde a schattenhafter, ferner, blasser. Sie gen¨gte der Seele nicht mehr. u Es begann jetzt in dem eigent¨mlich in mich selbst eingesponnenen Dasein, u das ich wie ein Traumwandler f¨hrte, eine neue Bildung zu entstehen. Die u Sehnsucht nach dem Leben bl¨hte in mir, vielmehr die Sehnsucht nach Lieu be, und der Trieb des Geschlechts, den ich eine Weile hatte in die Anbetung Beatrices aufl¨sen k¨nnen, verlangte neue Bilder und Ziele. Noch immer kam o o keine Erf¨llung mir entgegen, und unm¨glicher als je war es mir, die Sehnu o sucht zu t¨uschen und etwas von den M¨dchen zu erwarten, bei denen meine a a Kameraden ihr Gl¨ck suchten. Ich tr¨umte wieder heftig, und zwar mehr am u a Tage als in der Nacht. Vorstellungen, Bilder oder W¨nsche, stiegen in mir auf u und zogen mich von der ¨ußeren Welt hinweg, so daß ich mit diesen Bildern a in mir, mit diesen Tr¨umen oder Schatten, wirklicher und lebhafter Umgang a hatte und lebte, als mit meiner wirklichen Umgebung. Ein bestimmter Traum, oder ein Phantasiespiel, das immer wiederkehrte, wurde mir bedeutungsvoll. Dieser Traum, der wichtigste und nachteiligste meines Lebens, war etwa so: ich kehrte in mein Vaterhaus zur¨ck – uber dem u ¨ Haustor leuchtete der Wappenvogel in Gelb auf blauem Grund – im Hause kam mir meine Mutter entgegen – aber als ich eintrat und sie umarmen wollte, war es nicht sie, sondern eine nie gesehene Gestalt, groß und m¨chtig, dem a Max Demian und meinem gemalten Blatte ¨hnlich, doch anders, und trotz a der M¨chtigkeit ganz und gar weiblich. Diese Gestalt zog mich an sich und a nahm mich in eine tiefe, schauernde Liebesumarmung auf. Wonne und Grausen waren vermischt, die Umarmung war Gottesdienst und war ebenso Verbrechen. Zu viel Erinnerung an meine Mutter, zu viel Erinnerung an meinen Freund Demian geistete in der Gestalt, die mich umfing. Ihre Umarmung verstieß gegen jede Ehrfurcht und war doch Seligkeit. Oft erwachte ich aus diesem Traum mit tiefem Gl¨cksgef¨hl, oft mit Todesangst und gequ¨ltem Gewissen u u a wie aus furchtbarer S¨nde. u Nur allm¨hlich und unbewußt kam zwischen diesem ganz innerlichen Bilde a und dem mir von außen zugekommenen Wink uber den zu suchenden Gott ¨ eine Verbindung zustande. Sie wurde aber dann enger und inniger, und ich begann zu sp¨ren, daß ich gerade in diesem Ahnungstraum den Abraxas anu

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rief. Wonne und Grauen, Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Gr¨ßliches a ineinander verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckendso war mein Liebestraumbild, und so war auch Abraxas. Liebe war nicht mehr tierisch dunkler Trieb, wie ich sie be¨ngstigt im Anfang empfunden hatte, und a sie war auch nicht mehr fromm vergeistigte Anbeterschaft, wie ich sie dem Bilde der Beatrice dargebracht. Sie war beides, beides und noch viel mehr, sie war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, h¨chstes Gut und ¨ußerstes B¨ses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies o a o zu kosten mein Schicksal. Ich hatte Sehnsucht nach ihm und hatte Angst vor ihm, aber es war immer da, war immer uber mir. ¨ Im n¨chsten Fr¨hjahr sollte ich das Gymnasium verlassen und studieren gea u hen, ich wußte noch nicht wo und was. Auf meinen Lippen wuchs ein kleiner Bart, ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. Ich f¨hlte die u Aufgabe, dieser F¨hrung blind zu folgen. Aber es fiel mir schwer, und t¨glich u a lehnte ich mich auf. Vielleicht war ich verr¨ckt, dachte ich nicht selten, vielu leicht war ich nicht wie andere Menschen? Aber ich konnte das, was andere leisteten, alles auch tun, mit ein wenig Fleiß und Bem¨hung konnte ich Plato u lesen, konnte trigonometrische Aufgaben l¨sen oder einer chemischen Analyse o folgen. Nur eines konnte ich nicht: das in mir dunkel verborgene Ziel herausreißen und irgendwo vor mich hinmalen, wie andere es taten, welche genau wußten, daß sie Professor oder Richter, Arzt oder K¨nstler werden wollten, u wie lang das dauern und was f¨r Vorteile es haben w¨rde. Das konnte ich u u nicht. Vielleicht w¨rde ich auch einmal so etwas, aber wie sollte ich das wisu sen. Vielleicht mußte ich auch suchen und weitersuchen, jahrelang, und wurde nichts, und kam an kein Ziel. Vielleicht kam ich auch an ein Ziel, aber es war ein b¨ses, gef¨hrliches, furchtbares. o a Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer? Oft machte ich den Versuch, die m¨chtige Liebesgestalt meines Traumes zu a malen. Es gelang aber nie. W¨re es mir gelungen, so h¨tte ich das Blatt an a a Demian gesandt. Wo war er? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, er war mit mir verbunden. Wann w¨rde ich ihn wiedersehen? u Die freundliche Ruhe jener Wochen und Monate der Beatricezeit war lang vergangen. Damals hatte ich gemeint, eine Insel erreicht und einen Frieden gefunden zu haben. Aber so war es immer kaum war ein Zustand mir lieb geworden, kaum hatte ein Traum mir wohlgetan, so wurde er auch schon welk und blind. Vergebens, ihm nachzuklagen! Ich lebte jetzt in einem Feuer von ungestilltem Verlangen, von gespanntem Erwarten, das mich oft v¨llig wild o und toll machte. Das Bild der Traumgeliebten sah ich oft mit uberlebendiger ¨ Deutlichkeit vor mir, viel deutlicher als meine eigene Hand, sprach mit ihm,

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weinte vor ihm, fluchte ihm. Ich nannte es Mutter und kniete vor ihm in Tr¨nen, ich nannte es Geliebte und ahnte seinen reifen, alles erf¨llenden Kuß, a u ich nannte es Teufel und Hure, Vampyr und M¨rder. Es verlockte mich zu zaro testen Liebestr¨umen und zu w¨sten Schamlosigkeiten, nichts war ihm zu gut a u und k¨stlich, nichts zu schlecht und niedrig. jenen ganzen Winter verlebte ich o in einem inneren Sturm, den ich schwer beschreiben kann. An die Einsamkeit war ich lang gew¨hnt, sie dr¨ckte mich nicht, ich lebte mit Demian, mit dem o u Sperber, mit dem Bild der großen Traumgestalt, die mein Schicksal und meine Geliebte war. Das war genug, um darin zu leben, denn alles blickte ins Große und Weite, und alles deutete auf Abraxas. Aber keiner dieser Tr¨ume, keiner a meiner Gedanken gehorchte mir, keinen konnte ich rufen, keinem konnte ich nach Belieben seine Farben geben. Sie kamen und nahmen mich, ich wurde von ihnen regiert, wurde von ihnen gelebt. Wohl war ich nach außen gesichert. Vor Menschen hatte ich keine Furcht, das hatten auch meine Mitsch¨ler gelernt und brachten mir eine heimliche u Achtung entgegen, die mich oft l¨cheln machte. Wenn ich wollte, konnte ich a die meisten von ihnen sehr gut durchschauen und sie gelegentlich dadurch in Erstaunen setzen. Nur wollte ich selten oder nie. Ich war immer mit mir besch¨ftigt, immer mit mir selbst. Und ich verlangte sehnlichst danach, nun a endlich auch einmal ein St¨ck zu leben, etwas aus mir hinaus in die Welt zu u geben, in Beziehung und Kampf mit ihr zu treten. Manchmal, wenn ich am Abend durch die Straßen lief und vor Unrast bis Mitternacht nicht heimkehren konnte, manchmal meinte ich dann, jetzt und jetzt m¨sse meine Geliebte mir u begegnen, an der n¨chsten Ecke vor¨bergehen, mir aus dem n¨chsten Fenster a u a rufen. Manchmal auch schien mir dies alles unertr¨glich qualvoll, und ich war a darauf gefaßt, mir einmal das Leben zu nehmen. Eine eigent¨mliche Zuflucht fand ich damals – durch einen Zufall“, wie u ” man sagt. Es gibt aber solche Zuf¨lle nicht. Wenn der, der etwas notwendig a braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und M¨ssen f¨hrt ihn hin. u u Ich hatte zwei oder drei Male auf meinen G¨ngen durch die Stadt aus einer a kleineren Vorstadtkirche Orgelspiel vernommen, ohne dabei zu verweilen. Als ich das n¨chste Mal vor¨berkam, h¨rte ich es wieder, und erkannte, daß Bach a u o gespielt wurde. Ich ging zum Tor, das ich geschlossen fand, und da die Gasse fast ohne Menschen war, setzte ich mich neben der Kirche auf einen Prellstein, schlug den Mantelkragen um mich und h¨rte zu. Es war keine große, doch eio ne gute Orgel, und es wurde wunderlich gespielt, mit einem eigent¨mlichen, u h¨chst pers¨nlichen Ausdruck von Willen und Beharrlichkeit, der wie ein Geo o bet klang. Ich hatte das Gef¨hl: der Mann, der da spielt, weiß in dieser Musik u einen Schatz verschlossen, und er wirbt und pocht und m¨ht sich um diesen u Schatz wie um sein Leben. Ich verstehe, im Sinn der Technik, nicht sehr viel

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von Musik, aber ich habe gerade diesen Ausdruck der Seele von Kind auf instinktiv verstanden und das Musikalische als etwas Selbstverst¨ndliches in mir a gef¨hlt. u Der Musiker spielte darauf auch etwas Modernes, es konnte von Reger sein. Die Kirche war fast v¨llig dunkel, nur ein ganz d¨nner Lichtschein drang o u durchs n¨chste Fenster. Ich wartete, bis die Musik zu Ende war, und strich a dann auf und ab, bis ich den Organisten herauskommen sah. Es war ein noch junger Mensch, doch ¨lter als ich, vierschr¨tig und untersetzt von Gestalt, und a o er lief rasch mit kr¨ftigen und gleichsam unwilligen Schritten davon. a Manchmal saß ich von da an in der Abendstunde vor der Kirche oder ging auf und ab. Einmal fand ich auch das Tor offen und saß eine halbe Stunde fr¨stelnd und gl¨cklich im Gest¨hl, w¨hrend der Organist oben bei sp¨rlichem o u u a a Gaslicht spielte. Aus der Musik, die er spielte, h¨rte ich nicht nur ihn selbst. o Es schien mir auch alles, was er spielte, unter sich verwandt zu sein, einen geheimen Zusammenhang zu haben. Alles, was er spielte, war gl¨ubig, war a hingegeben und fromm, aber nicht fromm wie die Kircheng¨nger und Paa storen, sondern fromm wie die Pilger und Bettler im Mittelalter, fromm mit r¨cksichtsloser Hingabe an ein Weltgef¨hl, das uber allen Bekenntnissen stand. u u ¨ Die Meister vor Bach wurden fleißig gespielt, und alte Italiener. Und alle sagten dasselbe, alle sagten das, was auch der Musikant in der Seele hatte: Sehnsucht, innigstes Ergreifen der Welt und wildestes Sichwiederscheiden von ihr, brennendes Lauschen auf die eigene dunkle Seele, Rausch der Hingabe und tiefe Neugierde auf das Wunderbare. Als ich einmal den Orgelspieler nach seinem Weggang aus der Kirche heimlich verfolgte, sah ich ihn weit draußen am Rande der Stadt in eine kleine Schenke treten. Ich konnte nicht widerstehen und ging ihm nach. Zum erstenmal sah ich ihn hier deutlich. Er saß am Wirtstisch in einer Ecke der kleinen Stube, den schwarzen Filzhut auf dem Kopf, einen Schoppen Wein vor sich, und sein Gesicht war so, wie ich es erwartet hatte. Es war h¨ßlich und etwas a wild, suchend und verbohrt, eigensinnig und willensvoll, dabei um den Mund weich und kindlich. Das M¨nnliche und Starke saß alles in Augen und Stirn, a der untere Teil des Gesichtes war zart und unfertig, unbeherrscht und zum Teil weichlich, das Kinn voll Unentschlossenheit stand knabenhaft da wie ein Widerspruch gegen Stirn und Blick. Lieb waren mir die dunkelbraunen Augen, voll Stolz und Feindlichkeit. Schweigend setzte ich mich ihm gegen¨ber, niemand war sonst in der Kneiu pe. Er blitzte mich an, als wolle er mich wegjagen. Ich hielt jedoch stand und sah ihn unentwegt an, bis er unwirsch brummte: Was schauen Sie denn so ” verflucht scharf? Wollen Sie was von mir?“ Ich will nichts von Ihnen“, sagte ich. Aber ich habe schon viel von Ihnen ” ” gehabt.“

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Er zog die Stirn zusammen. So, sind Sie ein Musikschw¨rmer? Ich finde es ekelhaft, f¨r Musik zu a u ” schw¨rmen.“ a Ich ließ mich nicht abschrecken. Ich habe Ihnen schon oft zugeh¨rt, in der Kirche da draußen“, sagte ich. o ” Ich will Sie ubrigens nicht bel¨stigen. Ich dachte, ich w¨rde bei Ihnen viela u ¨ ” leicht etwas finden, etwas Besonderes, ich weiß nicht recht was. Aber h¨ren o Sie lieber gar nicht auf mich! Ich kann Ihnen j a in der Kirche zuh¨ren.“ o Ich schließe doch immer ab.“ ” Neulich haben Sie es vergessen, und ich saß drinnen. Sonst stehe ich drau”” ßen oder sitze auf dem Prellstein.“ So? Sie k¨nnen ein andermal hereinkommen, es ist w¨rmer. Sie m¨ssen o a u ” dann bloß an die T¨r klopfen. Aber kr¨ftig, und nicht w¨hrend ich spiele. Jetzt u a a los – was wollten Sie sagen? Sie sind ein ganz junger Mann, wahrscheinlich ein Sch¨ler oder Student. Sind Sie Musiker?“ u Nein. Ich h¨re gern Musik, aber bloß solche, wie Sie spielen, ganz unbeo ” dingte Musik, solche, bei der man sp¨rt, daß da ein Mensch an Himmel und u H¨lle r¨ttelt. Die Musik ist mir sehr lieb, ich glaube, weil sie so wenig moo u ralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. Ich habe unter dem Moralischen immer bloß gelitten. Ich kann mich nicht gut ausdr¨cken. – Wissen Sie, daß es einen Gott geben muß, der zugleich Gott u und Teufel ist? Es soll einen gegeben haben, ich h¨rte davon.“ o Der Musiker schob den breiten Hut etwas zur¨ck und sch¨ttelte sich das u u dunkle Haar von der großen Stirn. Dabei sah er mich durchdringend an und neigte mir sein Gesicht uber den Tisch entgegen. ¨ Leise und gespannt fragte er: Wie heißt der Gott, von dem Sie da sagen?“ ” Ich weiß leider fast nichts von ihm, eigentlich bloß den Namen. Er heißt ” Abraxas.“ Der Musikant blickte wie mißtrauisch um sich, als k¨nnte uns jemand beo lauschen. Dann r¨ckte er nahe zu mir und sagte fl¨sternd: Ich habe es mir u u ” gedacht. Wer sind Sie?“ Ich bin ein Sch¨ler vom Gymnasium.“ u ” Woher wissen Sie von Abraxas?“ ” Durch Zufall.“ ” Er hieb auf den Tisch, daß sein Weinglas uberlief. ¨ Zufall! Reden Sie keinen Sch. . . dreck, junger Mensch! Von Abraxas weiß ” man nicht durch Zufall, das merken Sie sich. Ich werde Ihnen noch mehr von ihm sagen. Ich weiß ein wenig von ihm.“ Er schwieg und r¨ckte seinen Stuhl zur¨ck. Als ich ihn voll Erwartung ansah, u u schnitt er eine Grimasse. Nicht hier! Ein andermal. – Da nehmen Sie!“ ”

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Dabei griff er in die Tasche seines Mantels, den er nicht abgelegt hatte, und zog ein paar gebratene Kastanien heraus, die er mir hinwarf. Ich sagte nichts, nahm sie und aß und war sehr zufrieden. Also!“ fl¨sterte er nach einer Weile. Woher wissen Sie von – ihm?“ u ” ” Ich z¨gerte nicht, es ihm zu sagen. o Ich war allein und ratlos“, erz¨hlte ich. Da fiel mir ein Freund aus fr¨heren a u ” ” f ahren ein, von dem ich glaube, daß er sehr viel weiß. Ich hatte etwas gemalt, einen Vogel, der aus einer Weltkugel herauskam. Den schickte ich ihm. Nach einiger Zeit, als ich nicht mehr recht daran glaubte, bekam ich ein St¨ck Papier u in die Hand, darauf stand: Der Vogel k¨mpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die a Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerst¨ren. Der Vogel fliegt zu o Gott. Der Gott heißt Abraxas.“ Er erwiderte nichts, wir sch¨lten unsere Kastanien und aßen sie zum Wein. a Nehmen wir noch einen Schoppen?“ fragte er. ” Danke, nein. Ich trinke nicht gern.“ ” Er lachte, etwas entt¨uscht. a Wie Sie wollen! Bei mir ist es anders. Ich bleibe noch hier. Gehen Sie jetzt ” nur!“ Als ich dann das n¨chste Mal nach der Orgelmusik mit ihm ging, war er a nicht sehr mitteilsam. Er f¨hrte mich in einer alten Gasse durch ein altes, u stattliches Haus empor und in ein großes, etwas d¨steres und verwahrlostes u Zimmer, wo außer einem Klavier nichts auf Musik deutete, w¨hrend ein großer a B¨cherschrank und Schreibtisch dem Raum etwas Gelehrtenhaftes gaben. u Wieviel B¨cher Sie haben!“ sagte ich anerkennend. u ” Ein Teil davon ist aus der Bibliothek meines Vaters, bei dem ich wohne. ” – Ja, junger Mann, ich wohne bei Vater und Mutter, aber ich kann Sie ihnen nicht vorstellen, mein Umgang genießt hier im Hause keiner großen Achtung. Ich bin ein verlorener Sohn, wissen Sie. Mein Vater ist ein fabelhaft ehrenwerter Mann, ein bedeutender Pfarrer und Prediger in hiesiger Stadt. Und ich, damit Sie gleich Bescheid wissen, bin sein begabter und vielversprechender Herr Sohn, der aber entgleist und einigermaßen verr¨ckt geworden ist. Ich u war Theologe und habe kurz vor dem Staatsexamen diese biedere Fakult¨t a verlassen. Obgleich ich eigentlich noch immer beim Fach bin, was meine Privatstudien betrifft. Was f¨r G¨tter die Leute sich jeweils ausgedacht haben, u o das ist mir noch immer h¨chst wichtig und interessant. Im ubrigen bin ich o ¨ jetzt Musiker und werde, wie es scheint, bald eine kleinere Organistenstelle bekommen. Dann bin ich ja auch wieder bei der Kirche.“ Ich schaute an den B¨cherr¨cken entlang, fand griechische, lateinische, heu u br¨ische Titel, soweit ich beim schwachen Licht der kleinen Tischlampe sehen a konnte. Inzwischen hatte sich mein Bekannter im Finstern bei der Wand auf den Boden gelegt und machte sich dort zu schaffen.

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Kommen Sie“, rief er nach einer Weile, wir wollen jetzt ein wenig Philo” ” sophie uben, das heißt das Maul halten, auf dem Bauche liegen und denken.“ ¨ Er strich ein Z¨ndholz an und setzte in dem Kamin, vor dem er lag, Papier u und Scheite in Brand. Die Flamme stieg hoch, er sch¨rte und speiste das u Feuer mit ausgesuchter Umsicht. Ich legte mich zu ihm auf den zerschlissenen Teppich. Er starrte ins Feuer, das auch mich anzog, und wir lagen schweigend wohl eine Stunde lang auf dem Bauch vor dem flackernden Holzfeuer, sahen es flammen und brausen, ein sinken und sich kr¨mmen, verflackern und zucken u und endlich in stiller, versunkener Glut am Boden br¨ten. u Das Feueranbeten war nicht das D¨mmste, was erfunden worden ist“, muru ” melte er einmal vor sich hin. Sonst sagte keiner von uns ein Wort. Mit starren Augen hing ich an dem Feuer, versank in Traum und Stille, sah Gestalten im Rauch und Bilder in der Asche. Einmal schrak ich auf. Mein Genosse warf ein St¨ckchen Harz in die Glut, eine kleine, schlanke Flamme schoß empor, u ich sah in ihr den Vogel mit dem gelben Sperberkopf. In der hinsterbenden Kaminglut liefen goldig gl¨hende F¨den zu Netzen zusammen, Buchstaben u a und Bilder erschienen, Erinnerungen an Gesichter, an Tiere, an Pflanzen, an W¨rmer und Schlangen. Als ich, erwachend, nach dem andern sah, stierte er, u das Kinn auf den F¨usten, hingegeben und fanatisch in die Asche. a Ich muß jetzt gehen“, sagte ich leise. ” Ja, dann gehen Sie. Auf Wiedersehen!“ ” Er stand nicht auf, und da die Lampe gel¨scht war, mußte ich mich mit o M¨he durchs finstere Zimmer und die finsteren G¨nge und Treppen aus dem u a verwunschenen alten Hause tasten. Auf der Straße machte ich halt und sah an dem alten Hause hinauf. In keinem Fenster brannte Licht. Ein kleines Schild aus Messing gl¨nzte im Schein der Gaslaterne vor der T¨r. a u Pistorius, Hauptpfarrer“, las ich darauf. ” Erst zu Hause, als ich nach dem Abendessen allein in meinem kleinen Zimmer saß, fiel mir ein, daß ich weder uber Abraxas noch sonst etwas von Pisto¨ rius erfahren habe, daß wir uberhaupt kaum zehn Worte gewechselt hatten. ¨ Aber ich war mit meinem Besuch bei ihm sehr zufrieden. Und f¨r das n¨chste u a Mal hatte er mir ein ganz exquisites St¨ck alter Orgelmusik versprochen, eine u Passacaglia von Buxtehude. Ohne daß ich es wußte, hatte der Organist Pistorius mir eine erste Lektion gegeben, als ich mit ihm vor dem Kamin auf dem Boden seines tr¨ben u Einsiedlerzimmers lag. Das Schauen ins Feuer hatte mir gutgetan, es hatte Neigungen in mir gekr¨ftigt und best¨tigt, die ich immer gehabt, doch nie a a eigentlich gepflegt hatte. Allm¨hlich wurde ich teilweise dar¨ber klar. a u Schon als kleines Kind hatte ich je und je den Hang gehabt, bizarre Formen der Natur anzuschauen, nicht beobachtend, sondern ihrem eigenen Zauber,

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ihrer krausen, tiefen Sprache hingegeben. Lange, verholzte Baumwurzeln, far¨ bige Adern im Gestein, Flecken von Ol, das auf Wasser schwimmt, Spr¨nge in u Glas – alle ¨hnlichen Dinge hatten zuzeiten großen Zauber f¨r mich gehabt, a u vor allem auch das Wasser und das Feuer, der Rauch, die Wolken, der Staub, und ganz besonders die kreisenden Farbflecke, die ich sah, wenn ich die Augen schloß. In den Tagen nach meinem ersten Besuch bei Pistorius begann dies mir wieder einzufallen. Denn ich merkte, daß ich eine gewisse St¨rkung und a Freude, eine Steigerung meines Gef¨hls von mir selbst, die ich seither sp¨rte, u u lediglich dem langen Starren ins offene Feuer verdankte. Es war merkw¨rdig u wohltuend und bereichernd, das zu tun! An die wenigen Erfahrungen, welche ich bis jetzt auf dem Wege zu meinem eigentlichen Lebensziel gefunden hatte, reihte sich diese neue: das Betrachten solcher Gebilde, das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der ¨ Natur erzeugt in uns ein Gef¨hl von der Ubereinstimmung unseres Innern mit u dem Willen, der diese Gebilde werden ließ – wir sp¨ren bald die Versuchung, u sie f¨r unsere eigenen Launen, f¨r unsere eigenen Sch¨pfungen zu halten – u u o wir sehen die Grenze zwischen uns und der Natur zittern und zerfließen und lernen die Stimmung kennen, in der wir nicht wissen, ob die Bilder auf unserer Netzhaut von ¨ußeren Eindr¨cken stammen oder von inneren. Nirgends so a u ¨ einfach und leicht wie bei dieser Ubung machen wir die Entdeckung, wie sehr wir Sch¨pfer sind, wie sehr unsere Seele immerzu teilhat an der best¨ndigen o a Erschaffung der Welt. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur t¨tig ist, und wenn die ¨ußere Welt unterginge, so w¨re a a a einer von uns f¨hig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und a Blatt, Wurzel und Bl¨te, alles Gebildete in der Natur liegt in uns vorgebildet, u stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Sch¨pferkraft zu f¨hlen gibt. o u Erst manche Jahre sp¨ter fand ich diese Beobachtung in einem Buche best¨a a tigt, n¨mlich bei Leonardo da Vinci, der einmal davon redet, wie gut und tief a anregend es sei, eine Mauer anzusehen, welche von vielen Leuten angespien worden ist. Vor jenen Flecken an der feuchten Mauer f¨hlte er dasselbe wie u Pistorius und ich vor dem Feuer. Bei unserem n¨chsten Zusammensein gab mir der Orgelspieler eine Era kl¨rung. a Wir ziehen die Grenzen unserer Pers¨nlichkeit immer viel zu eng! Wir o ” rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser K¨rper die Stammtafeln der o Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zur¨ck in sich tr¨gt, so hau a ben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle G¨tter o und Teufel, die je gewesen sind, sei es bei Griechen und Chinesen oder bei

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Zulukaffern, alle sind mit in uns, sind da, als M¨glichkeiten, als W¨nsche, o u als Auswege. Wenn die Menschheit ausst¨rbe bis auf ein einziges halbwegs u begabtes Kind, das keinerlei Unterricht genossen hat, so w¨rde dieses Kind u den ganzen Gang der Dinge wiederfinden, es w¨rde G¨tter, D¨monen, Parau o a diese, Gebote und Verbote, Alte und Neue Testamente, alles w¨rde es wieder u produzieren k¨nnen.“ o Ja gut“, wandte ich ein, aber worin besteht dann noch der Wert des ” ” einzelnen? Warum streben wir noch, wenn wir doch alles in uns schon fertig haben?“ Halt!“ rief Pistorius heftig. Es ist ein großer Unterschied, ob Sie bloß die ” ” Welt in sich tragen, oder ob Sie das auch wissen! Ein Wahnsinniger kann Gedanken hervorbringen, die an Plato erinnern, und ein kleiner frommer Schulknabe in einem Herrnhuter Institut denkt tiefe mythologische Zusammenh¨nge sch¨pferisch nach, die bei den Gnostikern oder bei Zoroaster vora o kommen. Aber er weiß nichts davon! Er ist ein Baum oder Stein, bestenfalls ein Tier, solange er es nicht weiß. Dann aber, wenn der erste Funke dieser Erkenntnis d¨mmert, dann wird er Mensch. Sie werden doch wohl nicht alle a die Zweibeiner, die da auf der Straße laufen, f¨r Menschen halten, bloß weil sie u aufrecht gehen und ihre Jungen neun Monate tragen? Sie sehen doch, wie viele von ihnen Fische oder Schafe, W¨rmer oder Egel sind, wie viele Ameisen, wie u viele Bienen! Nun, in jedem von ihnen sind die M¨glichkeiten zum Menschen o da, aber erst, indem er sie ahnt, indem er sie teilweise sogar bewußt machen lernt, geh¨ren diese M¨glichkeiten ihm.“ o o Etwa dieser Art waren unsere Gespr¨che. Selten brachten sie mir etwas v¨llig a o ¨ Neues, etwas ganz und gar Uberraschendes. Alle aber, auch das banalste, trafen mit leisem stetigem Hammerschlag auf denselben Punkt in mir, alle halfen an mir bilden, alle halfen H¨ute von mir abstreifen, Eierschalen zerbrechen, a und aus jedem hob ich den Kopf etwas h¨her, etwas freier, bis mein gelber o Vogel seinen sch¨nen Raubvogelkopf aus der zertr¨mmerten Weltschale stieß. o u H¨ufig erz¨hlten wir auch einander unsere Tr¨ume. Pistorius verstand ihnen a a a eine Deutung zu geben. Ein wunderliches Beispiel ist mir eben erinnerlich. Ich hatte einen Traum, in dem ich fliegen konnte, jedoch so, daß ich gewissermaßen von einem großen Schwung durch die Luft geschleudert wurde, dessen ich nicht Herr war. Das Gef¨hl dieses Fluges war erhebend, ward aber bald zur Angst, u als ich mich willenlos in bedenkliche H¨hen gerissen sah. Da machte ich die o erl¨sende Entdeckung, daß ich mein Steigen und Fallen durch Anhalten und o Str¨menlassen des Atems regeln konnte. o Dazu sagte Pistorius: Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser ” großer Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es ist das Gef¨hl des Zusammenu hangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gef¨hrlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen a

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und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem B¨rgersteige zu u wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich f¨r einen t¨chtigen Buru u schen geh¨rt. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, daß Sie allm¨hlich o a Herr dar¨ber werden, daß zu der großen allgemeinen Kraft, die Sie fortreißt, u eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos. Ohne das ginge man willenlos in die L¨fte, das tun zum Beispiel die Wahnsinniu gen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem B¨rgersteig, u aber Sie haben keinen Schl¨ssel und kein Steuer dazu, und sausen ins Bodenu lose. Sie aber, Sinclair, Sie machen die Sache! Und wie, bitte. Das wissen Sie wohl noch gar nicht? Sie machen es mit einem neuen Organ, mit einem Atemregulator. Und nun k¨nnen Sie sehen, wie wenig pers¨nlich‘ Ihre Seele in ihrer o o ’ Tiefe ist. Sie erfindet n¨mlich diesen Regulator nicht! Er ist nicht neu! Er ist a eine Anleihe, er existiert seit Jahrtausenden. Er ist das Gleichgewichtsorgan der Fische, die Schwimmblase. Und tats¨chlich gibt es ein paar wenige selta same und konservative Fischarten noch heute, bei denen die Schwimmblase zugleich eine Art Lunge ist und unter Umst¨nden richtig zum Atmen diea nen kann. Also haargenau wie die Lunge, die Sie im Traum als Fliegerblase benutzen!“ Er brachte mir sogar einen Band Zoologie und zeigte mir Namen und Abbildungen jener altmodischen Fische. Und ich f¨hlte in mir, mit einem eiu gent¨mlichen Schauer, eine Funktion aus fr¨hen Entwicklungsepochen lebenu u dig.

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Jakobs Kampf
Was ich von dem sonderbaren Musiker Pistorius uber Abraxas erfuhr, kann ich ¨ nicht in K¨rze wiedererz¨hlen. Das Wichtigste aber, was ich bei ihm lernte, u a war ein weiterer Schritt auf dem Wege zu mir selbst. Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungew¨hnlicher junger Mensch, in hundert o Dingen fr¨hreif, in hundert andern Dingen sehr zur¨ck und hilflos. Wenn ich u u mich je und je mit anderen verglich, war ich oft stolz und eingebildet gewesen, ebensooft aber niedergedr¨ckt und gedem¨tigt. Oft hatte ich mich f¨r ein u u u Genie angesehen, oft f¨r halb verr¨ckt. Es gelang mir nicht, Freuden und u u Leben der Altersgenossen mitzumachen, und oft hatte ich mich in Vorw¨rfen u und Sorgen verzehrt, als sei ich hoffnungslos von ihnen getrennt, als sei mir das Leben verschlossen. Pistorius, welcher selbst ein ausgewachsener Sonderling war, lehrte mich den Mut und die Achtung vor mir selbst bewahren. Indem er in meinen Worten, in meinen Tr¨umen, in meinen Phantasien und Gedanken stets Wertvolles fand, a sie stets ernst nahm und ernsthaft besprach, gab er mir das Beispiel. Sie haben mir erz¨hlt“, sagte er, daß Sie die Musik darum lieben, weil a ” ” sie nicht moralisch sei. Meinetwegen. Aber Sie selber m¨ssen eben auch kein u Moralist sein! Sie d¨rfen sich nicht mit andern vergleichen, und wenn die Natur u Sie zur Fledermaus geschaffen hat, d¨rfen Sie sich nicht zum Vogel Strauß u machen wollen. Sie halten sich manchmal f¨r sonderbar, Sie werfen sich vor, u daß Sie andere Wege gehen als die meisten. Das m¨ssen Sie verlernen. Blicken u Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann uberlassen Sie ¨ sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den B¨rgersteig und wird ein Fossil. u Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Tr¨ume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das a nie. Aber er verl¨ßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. a Dann verl¨ßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin a zu kochen.“

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Unter allen meinen Tr¨umen war jener dunkle Liebestraum der treueste. a Oft, oft habe ich ihn getr¨umt, trat unterm Wappenvogel weg in unser altes a Haus, wollte die Mutter an mich ziehen und hielt statt ihrer das große, halb m¨nnliche, halb m¨tterliche Weib umfaßt, vor der ich Furcht hatte und zu a u der mich doch das gl¨hendste Verlangen zog. Und diesen Traum konnte ich u meinem Freunde nie erz¨hlen. Ihn behielt ich zur¨ck, wenn ich ihm alles andre a u erschlossen hatte. Er war mein Winkel, mein Geheimnis, meine Zuflucht. Wenn ich bedr¨ckt war, dann bat ich Pistorius, er m¨ge mir die Passau o caglia des alten Buxtehude spielen. In der abendlichen, dunklen Kirche saß ich dann verloren an diese seltsame, innige, in sich selbst versenkte, sich selber belauschende Musik, die mir jedesmal wohl tat und mich bereiter machte, den Stimmen der Seele recht zu geben. Zuweilen blieben wir auch eine Weile, nachdem die Orgel schon verklungen war, in der Kirche sitzen und sahen das schwache Licht durch die hohen, spitzbogigen Fenster scheinen und sich verlieren. Es klingt komisch“, sagte Pistorius, daß ich einmal Theologe war und bei” nah Pfarrer geworden w¨re. Aber es war nur ein Irrtum in der Form, den a ich dabei beging. Priester sein, ist mein Beruf und mein Ziel. Nur war ich zu fr¨h zufrieden und stellte mich dem Jehova zur Verf¨gung, noch ehe ich den u u Abraxas kannte. Ach, jede Religion ist sch¨n. Religion ist Seele, einerlei, ob o man ein christliches Abendmahl nimmt oder ob man nach Mekka wallfahrt.“ Dann h¨tten Sie“, meinte ich, aber eigentlich doch Pfarrer werden k¨na o ” ” nen.“ Nein, Sinclair, nein. Ich h¨tte ja l¨gen m¨ssen. Unsre Religion wird so a u u ” ausge¨bt, als sei sie keine. Sie tut so, als sei sie ein Verstandeswerk. Katholik u k¨nnte ich zur Not wohl sein, aber protestantischer Priester – nein! Die paar o wirklich Gl¨ubigen – ich kenne solche – halten sich gern an das W¨rtliche, a o ihnen k¨nnte ich nicht sagen, daß etwa Christus f¨r mich keine Person, sondern o u ein Heros, ein Mythos ist, ein ungeheures Schattenbild, in dem die Menschheit sich selber an die Wand der Ewigkeit gemalt sieht. Und die anderen, die in die Kirche kommen, um ein kluges Wort zu h¨ren, um eine Pflicht zu erf¨llen, o u um nichts zu vers¨umen und so weiter, ja, was h¨tte ich denen sagen sollen? a a Sie bekehren, meinen Sie? Aber das will ich gar nicht. Der Priester will nicht bekehren, er will nur unter Gl¨ubigen, unter seinesgleichen leben und will a Tr¨ger und Ausdruck sein f¨r das Gef¨hl, aus dem wir unsere G¨tter machen.“ a u u o Er unterbrach sich. Dann fuhr er fort: Unser neuer Glaube, f¨r den wir u ” jetzt den Namen des Abraxas w¨hlen, ist sch¨n, lieber Freund. Er ist das a o Beste, was wir haben. Aber er ist noch ein S¨ugling! Die Fl¨gel sind ihm noch a u nicht gewachsen. Ach, eine einsame Religion, das ist noch nicht das Wahre. Sie muß gemeinsam werden, sie muß Kult und Rausch, Feste und Mysterien haben . . .“

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Er sann und versank in sich. Kann man Mysterien nicht auch allein oder im kleinsten Kreis begehen?“ ” fragte ich z¨gernd. o Man kann schon“, nickte er. Ich begehe sie schon lang. Ich habe Kulte ” ” begangen, f¨r die ich Jahre von Zuchthaus absitzen m¨ßte, wenn man davon u u w¨ßte. Aber ich weiß, es ist noch nicht das Richtige.“ u Pl¨tzlich schlug er mir auf die Schulter, daß ich zusammenzuckte. Junge“, o ” sagte er eindringlich, auch Sie haben Mysterien. Ich weiß, daß Sie Tr¨ume a ” haben m¨ssen, die Sie mir nicht sagen. Ich will sie nicht wissen. Aber ich sage u Ihnen: leben Sie sie, diese Tr¨ume, spielen Sie sie, bauen Sie ihnen Alt¨re! a a Es ist noch nicht das Vollkommene, aber es ist ein Weg. Ob wir einmal, Sie und ich und ein paar andere, die Welt erneuern werden, das wird sich zeigen. In uns drinnen aber m¨ssen wir sie jeden Tag erneuern, sonst ist es nichts u mit uns. Denken Sie dran! Sie sind achtzehn Jahre alt, Sinclair, Sie laufen nicht zu den Straßendirnen, Sie m¨ssen Liebestr¨ume, Liebesw¨nsche haben. u a u Vielleicht sind sie so, daß Sie sich vor ihnen f¨rchten. F¨rchten Sie sich nicht! u u Sie sind das Beste, was Sie haben! Sie k¨nnen mir glauben. Ich habe damit o viel verloren, daß ich in Ihren Jahren meine Liebestr¨ume vergewaltigt habe. a Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts f¨rchten und nichts f¨r verboten halten, was die Seele in u u uns w¨nscht.“ u Erschreckt wandte ich ein: Aber man kann doch nicht alles tun, was einem ” einf¨llt! Man darf doch auch nicht einen Menschen umbringen, weil er einem a zuwider ist.“ Er r¨ckte n¨her zu mir. u a Unter Umst¨nden darf man auch das. Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich a ” meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht. Nein, aber Sie sollen diese Einf¨lle, die ihren guten Sinn haben, nicht a dadurch sch¨dlich machen, daß Sie sie vertreiben und an ihnen herummoraa lisieren. Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wein trinken und dabei das Mysterium des Opfers denken. Man kann, auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren Sinn, und sie haben alle Sinn. – Wenn Ihnen wieder einmal etwas recht Tolles oder S¨ndhaftes einf¨llt, Sinclair, wenn Sie jemand umbringen u a oder irgendeine gigantische Unfl¨tigkeit begehen m¨chten, dann denken Sie a o einen Augenblick daran, daß es Abraxas ist, der so in Ihnen phantasiert! Der Mensch, den Sie t¨ten m¨chten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur o o eine Verkleidung. Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“

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Nie hatte mir Pistorius etwas gesagt, was mich so tief im Heimlichsten getroffen hatte. Ich konnte nicht antworten. Was mich aber am st¨rksten und a sonderbarsten ber¨hrt hatte, das war der Gleichklang dieses Zuspruches mit u Worten Demians, die ich seit Jahren und Jahren in mir trug. Sie wußten nichts voneinander, und beide sagten mir dasselbe. Die Dinge, die wir sehen“, sagte Pistorius leise, sind dieselben Dinge, die ” ” in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb f¨r u das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann gl¨cklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, u dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unsrer ist schwer. – Wir wollen gehen.“ Einige Tage sp¨ter, nachdem ich zweimal vergebens auf ihn gewartet hata te, traf ich ihn sp¨t am Abend auf der Straße an, wie er einsam im kalten a Nachtwinde um eine Ecke geweht kam, stolpernd und ganz betrunken. Ich mochte ihn nicht anrufen. Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit gl¨henden und vereinsamten Augen, als folge er eiu nem dunklen Ruf aus dem Unbekannten. Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb wie an unsichtbarem Draht gezogen dahin, mit fanatischem und doch aufgel¨stem Gang, wie ein Gespenst. Traurig ging ich nach Hause zur¨ck, zu o u meinen unerl¨sten Tr¨umen. o a So erneuert er nun die Welt in sich!“ dachte ich und f¨hlte noch im selben u ” Augenblick, daß das niedrig und moralisch gedacht sei. Was wußte ich von seinen Tr¨umen? Er ging vielleicht in seinem Rausch den sicherern Weg als a ich in meiner Bangnis. In den Pausen zwischen den Schulstunden war mir zuweilen aufgefallen, daß ein Mitsch¨ler meine N¨he suchte, den ich nie beachtet hatte. Es war ein kleiu a ner, schwach aussehender, schm¨chtiger J¨ngling mit r¨tlichblondem, d¨nnem a u o u Haar, der in Blick und Benehmen etwas Eigenes hatte. Eines Abends, als ich nach Hause kam, lauerte er in der Gasse auf mich, ließ mich an sich vor¨bergehen, lief mir dann wieder nach und blieb vor unsrer Haust¨r steu u hen. Willst du etwas von mir?“ fragte ich. ” Ich m¨chte bloß einmal mit dir sprechen, sagte er sch¨chtern. Sei so gut o u ” ” und komm ein paar Schritte mit.“ Ich folgte ihm und sp¨rte, daß er tief erregt und voll Erwartung war. Seine u H¨nde zitterten. a Bist du Spiritist?“ fragte er ganz pl¨tzlich. o ” Nein, Knauer“, sagte ich lachend. Keine Spur davon. Wie kommst du auf ” ” so etwas?“

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Aber Theosoph bist du?“ ” Auch nicht.“ ” Ach, sei nicht so verschlossen! Ich sp¨re doch ganz gut, daß etwas Besondeu ” res mit dir ist. Du hast es in den Augen. Ich glaube bestimmt, daß du Umgang mit Geistern hast. Ich frage nicht aus Neugierde, Sinclair, nein! Ich bin selber ein Suchender, weißt du, und ich bin so allein.“ Erz¨hle nur!“ munterte ich ihn an. Ich weiß von Geistern zwar gar nichts, a ” ” ich lebe in meinen Tr¨umen, und das hast du gesp¨rt. Die anderen Leute leben a u auch in Tr¨umen, aber nicht in ihren eigenen, das ist der Unterschied.“ a Ja, so ist es vielleicht“, fl¨sterte er. Es kommt nur drauf an, welcher Art u ” ” die Tr¨ume sind, in denen man lebt. – Hast du schon von der weißen Magie a geh¨rt?“ o Ich mußte verneinen. Das ist, wenn man lernt, sich selber zu beherrschen. Man kann unsterblich ” ¨ werden und auch zaubern. Hast du nie solche Ubungen gemacht?“ ¨ Auf meine neugierige Frage nach diesen Ubungen tat er erst geheimnisvoll, bis ich mich zum Gehen wandte, dann kramte er aus. Zum Beispiel, wenn ich einschlafen oder auch mich konzentrieren will, dann ” ¨ mache ich eine solche Ubung. Ich denke mir irgend etwas, zum Beispiel ein Wort oder einen Namen, oder eine geometrische Figur. Die denke ich dann in mich hinein, so stark ich kann, ich suche sie mir innen in meinem Kopf vorzustellen, bis ich f¨hle, daß sie darin ist. Dann unke ich sie in den Hals, u und so weiter, bis ich ganz davon ausgef¨llt bin. Dann bin ich ganz fest, und u nichts mehr kann mich aus der Ruhe bringen.“ Ich begriff einigermaßen, wie er es meine. Doch f¨hlte ich wohl, daß er noch u anderes auf dem Herzen habe, er war seltsam erregt und hastig. Ich suchte ihm das Fragen leicht zu machen, und bald kam er denn mit seinem eigentlichen Anliegen. Du bist doch auch enthaltsam?“ fragte er mich ¨ngstlich. a ” Wie meinst du das? Meinst du das Geschlechtliche?“ ” Ja, ja. Ich bin jetzt seit zwei Jahren enthaltsam, seit ich von der Lehre ” weiß. Vorher habe ich ein Laster getrieben, du weißt schon. – Du bist also nie bei einem Weib gewesen?“ Nein“, sagte ich. Ich habe die Richtige nicht gefunden.“ ” ” Aber wenn du die f¨ndest, von der du meinst, sie sei die Richtige, dann a ” w¨rdest du mit ihr schlafen?“ u Ja, nat¨rlich. – Wenn sie nichts dagegen hat“, sagte ich mit etwas Spott. u ” Oh, da bist du aber auf dem falschen Weg! Die inneren Kr¨fte kann man a ” nur ausbilden, wenn man v¨llig enthaltsam bleibt. Ich habe es getan, zwei o Jahre lang. Zwei Jahre und etwas mehr als einen Monat! Es ist so schwer! Manchmal kann ich es kaum mehr aushalten.“

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H¨re, Knauer, ich glaube nicht, daß die Enthaltsamkeit so furchtbar wichtig o ” ist.“ Ich weiß“, wehrte er ab, das sagen alle. Aber von dir habe ich es nicht ” ” erwartet. Wer den h¨heren geistigen Weg gehen will, der muß rein bleiben, o unbedingt!“ Ja, dann tu es! Aber ich begreife nicht, warum einer reiner‘ sein soll, ” ’ der sein Geschlecht unterdr¨ckt, als irgendein anderer. Oder kannst du das u Geschlechtliche auch aus allen Gedanken und Tr¨umen ausschalten?“ a Er sah mich verzweifelt an. Nein, eben nicht! Herrgott, und doch muß es sein. Ich habe in der Nacht ” Tr¨ume, die ich nicht einmal mir selber erz¨hlen k¨nnte! Furchtbare Tr¨ume, a a o a du!“ Ich erinnerte mich dessen, was Pistorius mir gesagt hatte. Aber so sehr ich seine Worte als richtig empfand, ich konnte sie nicht weitergeben, ich konnte nicht einen Rat erteilen, der nicht aus meiner eigenen Erfahrung herkam und dessen Befolgung ich mich selber noch nicht gewachsen f¨hlte. Ich wurde u schweigsam und f¨hlte mich dadurch gedem¨tigt, daß da jemand Rat bei mir u u suchte, dem ich keinen zu geben hatte. Ich habe alles probiert!“ jammerte Knauer neben mir. Ich habe getan, ” ” was man tun kann, mit kaltem Wasser, mit Schnee, mit Turnen und Laufen, aber es hilft alles nichts. Jede Nacht wache ich aus Tr¨umen auf, an die ich gar a nicht denken darf. Und das Entsetzliche ist: dar¨ber geht mir allm¨hlich alles u a wieder verloren, was ich geistig gelernt hatte. Ich bringe es beinahe nie mehr fertig, mich zu konzentrieren oder mich einzuschl¨fern, oft liege ich die ganze a Nacht wach. Ich halte das nimmer lang aus. Wenn ich schließlich doch den Kampf nicht durchf¨hren kann, wenn ich nachgebe und mich wieder unrein u mache, dann bin ich schlechter als alle anderen, die uberhaupt nie gek¨mpft a ¨ haben. Das begreifst du doch?“ Ich nickte, konnte aber nichts dazu sagen. Er begann mich zu langweilen, und ich erschrak vor mir selber, daß mir seine offensichtliche Not und Verzweiflung keinen tiefern Eindruck machte. Ich empfand nur: ich kann dir nicht helfen. Also weißt du mir gar nichts?“ sagte er schließlich ersch¨pft und traurig. o ” Gar nichts? Es muß doch einen Weg geben! Wie machst denn du es?“ ” Ich kann dir nichts sagen, Knauer. Man kann einander da nicht helfen. ” Mir hat auch niemand geholfen. Du mußt dich auf dich selber besinnen, und dann mußt du das tun, was wirklich aus deinem Wesen kommt. Es gibt nichts anderes. Wenn du dich selber nicht finden kannst, dann wirst du auch keine Geister finden, glaube ich.“ Entt¨uscht und pl¨tzlich stumm geworden, sah der kleine Kerl mich an. a o Dann gl¨hte sein Blick in pl¨tzlicher Geh¨ssigkeit auf, er schnitt mir eine u o a

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Grimasse und schrie w¨tend: Ah, du bist mir ein sch¨ner Heiliger! Du hast u o ” auch dein Laster, ich weiß es! Du tust wie ein Weiser, und heimlich h¨ngst du a am gleichen Dreck wie ich und alle! Du bist ein Schwein, ein Schwein, wie ich selber. Alle sind wir Schweine!“ Ich ging weg und ließ ihn stehen. Er tat mir zwei, drei Schritte nach, dann blieb er zur¨ck, kehrte um und rannte davon. Mir wurde ubel aus einem u ¨ Gef¨hl von Mitleid und Abscheu, und ich kam von dem Gef¨hl nicht los, bis u u ich zu Hause in meinem kleinen Zimmerchen meine paar Bilder um mich stellte und mich mit sehnlichster Innigkeit meinen eigenen Tr¨umen hingab. Da kam a sofort mein Traum wieder, vom Haustor und Wappen, von der Mutter und der fremden Frau, und ich sah die Z¨ge der Frau so uberdeutlich, daß ich noch u ¨ am selben Abend ihr Bild zu zeichnen begann. Als diese Zeichnung nach einigen Tagen fertig war, in traumhaften Viertelstunden wie bewußtlos hingestrichen, h¨ngte ich sie am Abend an meiner a Wand auf, r¨ckte die Studierlampe davor und stand vor ihr wie vor einem u Geist, mit dem ich k¨mpfen mußte bis zur Entscheidung. Es war ein Gesicht, a a u a u ¨hnlich dem fr¨hern, ¨hnlich meinem Freund Demian, in einigen Z¨gen auch a o ¨hnlich mir selber. Das eine Auge stand auffallend h¨her als das andere, der Blick ging uber mich weg in versunkener Starrheit, voll von Schicksal. ¨ Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas. Dazwischen fielen Worte von Pistorius – oder von Demian? – mir ein; ich konnte mich nicht erinnern, wann sie gesprochen waren, aber ich meinte sie wieder zu h¨ren. Es waren Worte uber den Kampfjakobs mit o ¨ dem Engel Gottes, und das Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. ” Das gemalte Gesicht im Lampenschein verwandelte sich bei jeder Anrufung. Es wurde hell und leuchtend, wurde schwarz und finster, schloß fahle Lider uber erstorbenen Augen, ¨ffnete sie wieder und blitzte gl¨hende Blicke, es war o u ¨ Frau, war Mann, war M¨dchen, war ein kleines Kind, ein Tier, verschwamm a zum Fleck, wurde wieder groß und klar. Am Ende schloß ich, einem starken, inneren Ruf folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir, st¨rker a und m¨chtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr in mir a innen, daß ich es nicht mehr von mir trennen konnte, als w¨re es zu lauter Ich a geworden. Da h¨rte ich ein dunkles, schweres Brausen wie von einem Fr¨hjahrssturm o u und zitterte in einem unbeschreiblich neuen Gef¨hl von Angst und Erlebu nis. Sterne zuckten vor mir auf und erloschen, Erinnerungen bis in die erste, vergessenste Kinderzeit zur¨ck, ja bis in Vorexistenzen und fr¨he Stufen des u u Werdens, str¨mten gedr¨ngt an mir vor¨ber. Aber die Erinnerungen, die mir o a u mein ganzes Leben bis ins Geheimste zu wiederholen schienen, h¨rten mit geo

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stern und heute nicht auf, sie gingen weiter, spiegelten Zukunft, rissen mich von heute weg und in neue Lebensformen, deren Bilder ungeheuer hell und blendend waren, an deren keines ich mich aber sp¨ter richtig erinnern konnte. a In der Nacht erwachte ich aus tiefem Schlaf, ich war in den Kleidern und lag quer uberm Bett. Ich z¨ndete Licht an, f¨hlte, daß ich mich auf Wichtiges u u ¨ besinnen m¨sse, wußte nichts mehr von den Stunden vorher. Ich z¨ndete Licht u u an, die Erinnerung kam allm¨hlich. Ich suchte das Bild, es hing nicht mehr a an der Wand, lag auch nicht auf dem Tische. Da meinte ich mich dunkel zu besinnen, daß ich es verbrannt h¨tte. Oder war es ein Traum gewesen, daß ich a es in meinen H¨nden verbrannt und die Asche gegessen h¨tte? a a Eine große zuckende Unruhe trieb mich. Ich setzte den Hut auf, ging durch Haus und Gasse, wie unter einem Zwang, lief und lief durch Straßen und uber Pl¨tze wie von einem Sturm geweht, lauschte vor der finstern Kirche a ¨ meines Freundes, suchte und suchte in dunklem Trieb, ohne zu wissen was. Ich kam durch eine Vorstadt, wo Dirnenh¨user standen, dort war hier und da a noch Licht. Weiter draußen lagen Neubauten und Ziegelhaufen, zum Teil mit grauem Schnee bedeckt. Mir fiel, da ich wie ein Traumwandler unter einem fremden Druck durch diese W¨ste trieb, der Neubau in meiner Vaterstadt ein, u in welchen mich einst mein Peiniger Kromer zu unserer ersten Abrechnung gezogen hatte. Ein ¨hnlicher Bau lag in der grauen Nacht hier vor mir, g¨hnte a a mit schwarzem T¨rloch mich an. Es zog mich hinein, ich wollte ausweichen u und stolperte uber Sand und Schutt; der Drang war st¨rker, ich mußte hinein. a ¨ ¨ Uber Bretter und zerbrochene Backsteine hinweg taumelte ich in den oden ¨ Raum, es roch tr¨be nach feuchter K¨lte und Steinen. Ein Sandhaufen lag da, u a ein grauheller Fleck, sonst war alles dunkel. Da rief eine entsetzte Stimme mich an: Um Gottes willen, Sinclair, wo ” kommst du her?“ Und neben mir richtete aus der Finsternis ein Mensch sich auf, ein kleiner magerer Bursch, wie ein Geist, und ich erkannte, w¨hrend mir noch die Haare a zu Berge standen, meinen Schulkameraden Knauer. Wie kommst du hierher?“ fragte er, wie irr vor Erregung. Wie hast du ” ” mich finden k¨nnen?“ o Ich verstand nicht. Ich habe dich nicht gesucht“, sagte ich benommen; jedes Wort machte mir ” M¨he und kam mir m¨hsam uber tote, schwere, wie erfrorene Lippen. u u ¨ Er starrte mich an. Nicht gesucht?“ ” Nein. Es zog mich her. Hast du mich gerufen? Du mußt mich gerufen haben. ” Was tust du denn hier? Es ist doch Nacht.“ Er umschlang mich krampfhaft mit seinen d¨nnen Armen. u

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Ja, Nacht. Es muß bald Morgen werden. O Sinclair, daß du mich nicht ” vergessen hast! Kannst du mir denn verzeihen?“ Was denn?“ ” Ach, ich war ja so h¨ßlich!“ a ” Erst jetzt kam mir die Erinnerung an unser Gespr¨ch. War das vor vier, f¨nf a u Tagen gewesen? Mir schien seither ein Leben vergangen. Aber jetzt wußte ich pl¨tzlich alles. Nicht nur, was zwischen uns geschehen war, sondern auch, o warum ich hergekommen war und was Knauer hier draußen hatte tun wollen. Du wolltest dir also das Leben nehmen, Knauer?“ ” Er schauderte vor K¨lte und vor Angst. a Ja, ich wollte. Ich weiß nicht, ob ich es gekonnt h¨tte. Ich wollte warten, a ” bis es Morgen wird.“ Ich zog ihn ins Freie. Die ersten waagrechten Lichtstreifen des Tages glommen uns¨glich kalt und lustlos in den grauen L¨ften. a u Ich f¨hrte den jungen eine Strecke weit am Arm. Es sprach aus mir: Jetzt u ” gehst du nach Hause und sagst niemand etwas! Du bist den falschen Weg gegangen, den falschen Weg! Wir sind auch nicht Schweine, wie du meinst. Wir sind Menschen. Wir machen G¨tter und k¨mpfen mit ihnen, und sie o a segnen uns.“ Schweigend gingen wir weiter und auseinander. Als ich heimkam, war es Tag geworden. Das Beste, was mir jene Zeit in St. noch brachte, waren Stunden mit Pistorius an der Orgel oder vor dem Kaminfeuer. Wir lasen einen griechischen ¨ Text uber Abraxas zusammen, er las mir St¨cke einer Ubersetzung aus den u ¨ Veden vor und lehrte mich das heilige Om“ sprechen. Indessen waren es nicht ” diese Gelehrsamkeiten, die mich im Innern f¨rderten, sondern eher das Gegeno teil. Was mir wohltat, war das Vorw¨rtsfinden in mir selber, das zunehmende a Vertrauen in meine eigenen Tr¨ume, Gedanken und Ahnungen, und das zua nehmende Wissen von der Macht, die ich in mir trug. Mit Pistorius verstand ich mich auf jede Weise. Ich brauchte nur stark an ihn zu denken, so war ich sicher, daß er oder ein Gruß von ihm zu mir kam. Ich konnte ihn, ebenso wie Demian, irgend etwas fragen, ohne daß er selbst da war: ich brauchte ihn mir nur fest vorzustellen und meine Fragen als intensive Gedanken an ihn zu richten. Dann kehrte alle in die Frage gegebene Seelenkraft als Antwort in mich zur¨ck. Nur war es nicht die Person des Pistorius, die ich u mir vorstellte, und nicht die des Max Demian, sondern es war das von mir getr¨umte und gemalte Bild, das mannweibliche Traumbild meines D¨mons, a a das ich anrufen mußte. Es lebte jetzt nicht mehr nur in meinen Tr¨umen und a nicht mehr gemalt auf Papier, sondern in mir, als ein Wunschbild und eine Steigerung meiner selbst.

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Eigent¨mlich und zuweilen komisch war das Verh¨ltnis, in welches der mißu a gl¨ckte Selbstm¨rder Knauer zu mir getreten war. Seit der Nacht, in der ich u o ihm gesendet worden war, hing er an mir wie ein treuer Diener oder Hund, suchte sein Leben an meines zu kn¨pfen und folgte mir blindlings. Mit den u wunderlichsten Fragen und W¨nschen kam er zu mir, wollte Geister sehen, u wollte die Kabbala lernen, und glaubte mir nicht, wenn ich ihm versicherte, daß ich von all diesen Sachen nichts verst¨nde. Er traute mir jede Macht zu. u Aber seltsam war, daß er oft mit seinen wunderlichen und dummen Fragen gerade dann zu mir kam, wenn irgendein Knoten in mir zu l¨sen war, und daß o seine launischen Einf¨lle und Anliegen mir oft das Stichwort und den Anstoß a zur L¨sung brachten. Oft war er mir l¨stig und wurde herrisch weggeschickt, o a aber ich sp¨rte doch: auch er war mir gesandt, auch aus ihm kam das, was ich u ihm gab, verdoppelt in mich zur¨ck, auch er war mir ein F¨hrer, oder doch u u ein Weg. Die tollen B¨cher und Schriften, die er mir zutrug und in denen er u sein Heil suchte, lehrten mich mehr, als ich im Augenblick einsehen konnte. Dieser Knauer verlor sich sp¨ter ungef¨hlt von meinem Weg. Mit ihm war a u eine Auseinandersetzung nicht n¨tig. Wohl aber mit Pistorius. Mit diesem o Freunde erlebte ich gegen den Schluß meiner Schulzeit in St. noch etwas Eigent¨mliches. u Auch den harmlosen Menschen bleibt es kaum erspart, einmal oder einigemal im Leben in Konflikt mit den sch¨nen Tugenden der Piet¨t und der o a Dankbarkeit zu geraten. Jeder muß einmal den Schritt tun, der ihn von seinem Vater, von seinen Lehrern trennt, jeder muß etwas von der H¨rte der a Einsamkeit sp¨ren, wenn auch die meisten Menschen wenig davon ertragen u k¨nnen und bald wieder unterkriechen. – Von meinen Eltern und ihrer Welt, o der lichten“ Welt meiner sch¨nen Kindheit, war ich nicht in heftigem Kampf o ” geschieden, sondern langs¨m und fast unmerklich ihnen ferner gekommen und a fremder geworden. Es tat mir leid, es machte mir bei den Besuchen in der Heimat oft bittere Stunden; aber es ging nicht bis ins Herz, es war zu ertragen. Aber dort, wo wir nicht aus Gewohnheit, sondern aus eigenstem Antrieb Liebe und Ehrfurcht dargebracht haben, da, wo wir mit eigenstem Herzen J¨nger und Freunde gewesen sind – dort ist es ein bitterer und furchtbarer Auu genblick, wenn wir pl¨tzlich zu erkennen meinen, daß die f¨hrende Str¨mung o u o in uns von dem Geliebten wegf¨hren will. Da richtet jeder Gedanke, der den u Freund und Lehrer abweist, sich mit giftigem Stachel gegen unser eigenes Herz, da trifft jeder Hieb der Abwehr ins eigene Gesicht. Da tauchen dem, der eine g¨ltige Moral in sich selber zu tragen meinte, die Namen Treulosigkeit“ und u ” Undankbarkeit“ wie sch¨ndliche Zurufe und Brandm¨ler auf, da flieht das a a ” erschrockene Herz angstvoll in die lieben T¨ler der Kindheitstugenden zur¨ck a u und kann nicht daran glauben, daß auch dieser Bruch getan, daß auch dieses Band zerschnitten werden muß.

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Langsam hatte ein Gef¨hl in mir sich mit der Zeit dagegen gewendet, meiu nen Freund Pistorius so unbedingt als F¨hrer anzuerkennen. Was ich in den u wichtigsten Monaten meiner J¨nglingszeit erlebt hatte, war die Freundschaft u mit ihm, war sein Rat, sein Trost, seine N¨he gewesen. Aus ihm hatte Gott zu a mir gesprochen. Aus seinem Munde waren meine Tr¨ume mir zur¨ckgekehrt, a u gekl¨rt und gedeutet. Er hatte mir den Mut zu mir selber geschenkt. – Ach, a und nun sp¨rte ich langsam anwachsend Widerst¨nde gegen ihn. Ich h¨rte zu u a o viel Belehrendes in seinen Worten, ich empfand, daß er nur einen Teil von mir ganz verstehe. Es gab keinen Streit, keine Szene zwischen uns, keinen Bruch und nicht einmal eine Abrechnung. Ich sagte ihm nur ein einziges, eigentlich harmloses Wort – aber es war doch eben der Augenblick, in dem zwischen uns eine Illusion in farbige Scherben zerfiel. Gedr¨ckt hatte die Vorausahnung mich schon eine Weile, zum deutlichen u Gef¨hl wurde sie eines Sonntags in seiner alten Gelehrtenstube. Wir lagen am u Boden vor dem Feuer, und er sprach von Mysterien und Religionsformen, die er studierte, an denen er sann, und deren m¨gliche Zukunft ihn besch¨ftigte. Mir o a aber schien dies alles mehr kurios und interessant als lebenswichtig, es klang mir Gelehrsamkeit, es klang mir m¨des Suchen unter Tr¨mmern ehemaliger u u Welten daraus entgegen. Und mit einem Male sp¨rte ich einen Widerwillen u gegen diese ganze Art, gegen diesen Kultus der Mythologien, gegen dieses Mosaikspiel mit uberlieferten Glaubensformen. ¨ Pistorius“, sagte ich pl¨tzlich, mit einer mir selber uberraschend und ero ¨ ” schreckend hervorbrechenden Bosheit, Sie sollten mir wieder einmal einen ” Traum erz¨hlen, einen wirklichen Traum, den Sie in der Nacht gehabt haben. a Das, was Sie da reden, ist so – so verflucht antiquarisch!“ Er hatte mich niemals so reden h¨ren, und ich selbst empfand im selben o Augenblick blitzhaft mit Scham und Schrecken, daß der Pfeil, den ich auf ihn abschoß, und der ihn ins Herz traf, aus seiner eigenen R¨stkammer genommen u war daß ich Selbstvorw¨rfe, die ich ihn in ironischem Ton gelegentlich hatte u a o ¨ußern h¨ren, nun boshaft ihm in zugespitzter Form zuwarf. Er sp¨rte es augenblicklich, und er wurde sofort still. Ich sah ihn mit Angst u im Herzen an und sah ihn furchtbar bleich werden. Nach einer langen schweren Pause legte er neues Holz aufs Feuer und sagte still: Sie haben ganz recht, Sinclair, Sie sind ein kluger Kerl. Ich werde Sie ” mit dem antiquarischen Zeug verschonen.“ Er sprach sehr ruhig, aber ich h¨rte den Schmerz der Verwundung wohl o heraus. Was hatte ich getan! Die Tr¨nen waren mir nah, ich wollte mich ihm herzlich zuwenden, wollte a ihn um Verzeihung bitten, ihn meiner Liebe, meiner z¨rtlichen Dankbarkeit a versichern. R¨hrende Worte fielen mir ein – aber ich konnte sie nicht sagen. Ich u

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blieb liegen, sah ins Feuer und schwieg. Und er schwieg auch, und so lagen wir, und das Feuer brannte herab und sank zusammen, und mit jeder verblaffenden Flamme f¨hlte ich etwas Sch¨nes und Inniges vergl¨hen und verfliegen, das u o u nicht wiederkommen konnte. Ich f¨rchte, Sie verstehen mich falsch“, sagte ich schließlich sehr gepreßt u ” und mit trockener, heiserer Stimme. Die dummen, sinnlosen Worte kamen mir wie mechanisch uber die Lippen, als l¨se ich aus einem Zeitungsroman vor. a ¨ Ich verstehe Sie ganz richtig“, sagte Pistorius leis. Sie haben ja recht.“ ” Er wartete. Dann fuhr er langsam fort: Soweit ein Mensch eben gegen den ” andern recht haben kann.“ Nein, nein, rief es in mir, ich habe unrecht! – aber sagen konnte ich nichts. Ich wußte, daß ich mit meinem einzigen, kleinen Wort ihn aufeine wesentliche Schw¨che, auf seine Not und Wunde hingewiesen hatte. Ich hatte den Punkt a ber¨hrt, wo er sich selber mißtrauen mußte. Sein Ideal war antiquarisch“, er u ” war ein Sucher nach r¨ckw¨rts, er war ein Romantiker. Und pl¨tzlich f¨hlte u a o u ich tief gerade das, was Pistorius mir gewesen war und gegeben hatte, das konnte er sich selbst nicht sein und geben. Er hatte mich einen Weg gef¨hrt, u der auch ihn, den F¨hrer, uberschreiten und verlassen mußte. u ¨ Weiß Gott, wie solch ein Wort entsteht! Ich hatte es gar nicht schlimm gemeint, hatte keine Ahnung von einer Katastrophe gehabt. Ich hatte etwas ausgesprochen, was ich im Augenblick des Aussprechens selber durchaus nicht wußte, ich hatte einem kleinen, etwas witzigen, etwas boshaften Einfall nachgegeben, und es war Schicksal daraus geworden. Ich hatte eine kleine, achtlose Roheit begangen, und f¨r ihn ,war sie ein Gericht geworden. u O wie sehr habe ich mir damals gew¨nscht, er m¨chte b¨se geworden sein, er u o o m¨chte sich verteidigt, m¨chte mich angeschrien haben! Er tat nichts davon, o o alles das mußte ich, in mir drinnen, selber tun. Er h¨tte gel¨chelt, wenn er a a gekonnt h¨tte. Daß er es nicht konnte, daran sah ich am besten, wie sehr ich a ihn getroffen hatte. Und indem Pistorius den Schlag von mir, von seinem vorlauten und undankbaren Sch¨ler, so lautlos hinnahm, indem er schwieg und mir Recht ließ, u indem er mein Wort als Schicksal anerkannte, machte er mich mir selbst verhaßt, machte er meine Unbesonnenheit tausendmal gr¨ßer. Als ich zuschlug, o hatte ich einen Starken und Wehrhaften zu treffen gemeint – nun war es ein stiller, duldender Mensch, ein Wehrloser, der sich schweigend ergab. Lange Zeit blieben wir vor dem verglimmenden Feuer liegen, in dem jede gl¨hende Figur, jeder sich kr¨mmende Aschenstab mir gl¨ckliche, sch¨ne, reiu u u o che Stunden ins Ged¨chtnis rief und die Schuld meiner Verpflichtung gegen a Pistorius gr¨ßer und gr¨ßer anh¨ufte. Zuletzt ertrug ich es nicht mehr. Ich o o a stand auf und ging. Lange stand ich vor seiner T¨r, lange auf der finsteren u Treppe, lange noch draußen vor dem Hause wartend, ob er vielleicht k¨me a

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und mir nachginge. Dann ging ich weiter und lief Stunden um Stunden durch Stadt und Vorst¨dte, Park und Wald, bis zum Abend. Und damals sp¨rte ich a u zum erstenmal das Zeichen Kains auf meiner Stirn. Nur allm¨hlich kam ich zum Nachdenken. Meine Gedanken hatten alle die a Absicht, mich anzuklagen und Pistorius zu verteidigen. Und alle endeten mit dem Gegenteil. Tausendmal war ich bereit, mein rasches Wort zu bereuen und zur¨ckzunehmen – aber wahr war es doch gewesen. Erstjetzt gelang es u mir, Pistorius zu verstehen, seinen ganzen Traum vor mir aufzubauen. Dieser Traum war gewesen, ein Priester zu sein, die neue Religion zu verk¨nden, u neue Formen der Erhebung, der Liebe und Anbetung zu geben, neue Symbole aufzurichten. Aber dies war nicht seine Kraft, nicht sein Amt. Er verweilte allzu warm im Gewesenen, er kannte allzu genau das Ehemalige, er wußte allzu ¨ viel von Agypten, von Indien, von Mithras, von Abraxas. Seine Liebe war an Bilder gebunden, welche die Erde schon gesehen hatte, und dabei wußte er im Innersten selber wohl, daß das Neue neu und anders sein, daß es aus frischem Boden quellen und nicht aus Sammlungen und Bibliotheken gesch¨pft werden o mußte. Sein Amt war vielleicht, Menschen zu sich selbst f¨hren zu helfen, wie u er es mit mir getan hatte. Ihnen das Unerh¨rte zu geben, die neuen G¨tter, o o war sein Amt nicht. Und hier brannte mich pl¨tzlich wie eine scharfe Flamme die Erkenntnis: o – es gab f¨r jeden ein Amt“, aber f¨r keinen eines, das er selber w¨hlen, u u a ” umschreiben und beliebig verwalten durfte. Es war falsch, neue G¨tter zu o wollen, es war v¨llig falsch, der Welt irgend etwas geben zu wollen! Es gab o keine, keine, keine Pflicht f¨r erwachte Menschen als die eine: sich selber zu u suchen, in sich fest zu werden, den eigenen Weg vorw¨rts zu tasten, einerlei a wohin er f¨hrte. – Das ersch¨tterte mich tief, und das war die Frucht dieses u u Erlebnisses f¨r mich. Oft hatte ich mit Bildern der Zukunft gespielt, ich hatte u von Rollen getr¨umt, die mir zugedacht sein k¨nnten, als Dichter vielleicht a o oder als Prophet, oder als Maler, oder irgendwie. All das war nichts. Ich war nicht da, um zu dichten, um zu predigen, um zu malen, weder ich noch sonst ein Mensch war dazu da. Das alles ergab sich nur nebenher. Wahrer Beruf f¨r jeden war nur das eine: zu sich selbst zu kommen. Er mochte als Dichter u oder als Wahnsinniger, als Prophet oder als Verbrecher enden – dies war nicht seine Sache, ja dies war letzten Endes belanglos. Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein beliebiges, und es in sich auszuleben, ganz und ungebrochen. Alles andere war halb, war Versuch zu entrinnen, war R¨ckflucht u ins Ideale der Masse, war Anpassung und Angst vor dem eigenen Innern. Furchtbar und heilig stieg das neue Bild vor mir auf, hundertmal geahnt, vielleicht oft schon ausgesprochen, und doch erst jetzt erlebt. Ich war ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in

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mir zu f¨hlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf. u Das allein! Viel Einsamkeit hatte ich schon gekostet. Nun ahnte ich, daß es tiefere gab, und daß sie unentrinnbar sei. Ich machte keinen Versuch, Pistorius zu vers¨hnen. Wir blieben Freunde, o aber das Verh¨ltnis war ge¨ndert. Nur ein einziges Mal sprachen wir dar¨ber, a a u oder eigentlich nur er war es, der es tat. Er sagte: Ich habe den Wunsch, ” Priester zu werden, das wissen Sie. Ich wollte am liebsten der Priester der neuen Religion werden, von der wir so manche Ahnungen haben. Ich werde es nie sein k¨nnen – ich weiß es und wußte es, ohne es mir ganz zu gesteo hen, schon lange. Ich werde eben andere Priesterdienste tun, vielleicht auf der Orgel, vielleicht sonstwie. Aber ich muß immer von etwas umgeben sein, was ich als sch¨n und heilig empfinde, Orgelmusik und Mysterium, Symbol o und Mythus, ich brauche das und will nicht davon lassen. – Das ist meine Schw¨che. Denn ich weiß manchmal, Sinclair, ich weiß zuzeiten, daß ich sola che W¨nsche nicht haben sollte, daß sie Luxus und Schw¨che sind. Es w¨re u a a gr¨ßer, es w¨re richtiger, wenn ich ganz einfach dem Schicksal zur Verf¨gung o a u st¨nde, ohne Anspr¨che. Aber ich kann das nicht; es ist das einzige, was ich u u nicht kann. Vielleicht k¨nnen Sie es einmal. Es ist schwer, es ist das einzige o wirklich Schwere, was es gibt, mein Junge. Ich habe oft davon getr¨umt, aber a ich kann nicht, es schaudert mich davor: ich kann nicht so v¨llig nackt und o einsam stehen, auch ich bin ein armer, schwacher Hund, der etwas W¨rme und a Futter braucht und gelegentlich die N¨he von seinesgleichen sp¨ren m¨chte. a u o Wer wirklich gar nichts will als sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein und hat nur den kalten Weltenraum um sich. Wissen Sie, das ist Jesus im Garten Gethsemane. Es hat M¨rtyrer gegeben, die a sich gern ans Kreuz schlagen ließen, aber auch sie waren keine Helden, waren nicht befreit, auch sie wollten etwas, was ihnen liebgewohnt und heimatlich war, sie hatten Vorbilder, sie hatten Ideale. Wer nur noch das Schicksal will, der hat weder Vorbilder noch Ideale mehr, nichts Liebes, nichts Tr¨stliches hat o er! Und diesen Weg m¨ßte man eigentlich gehen. Leute wie ich und Sie sind u ja recht einsam, aber wir haben doch noch einander, wir haben die heimliche Genugtuung, anders zu sein, uns aufzulehnen, das Ungew¨hnliche zu wollen. o Auch das muß wegfallen, wenn einer den Weg ganz gehen will. Er darf auch nicht Revolution¨r, nicht Beispiel, nicht M¨rtyrer sein wollen. Es ist nicht a a auszudenken –“ Nein, es war nicht auszudenken. Aber es war zu tr¨umen, es war vorzuf¨hlen, a u es war zu ahnen. Einigemal f¨hlte ich etwas davon, wenn ich eine ganz stille u Stunde fand. Dann blickte ich in mich und sah meinem Schicksalsbild in die offenstarren Augen. Sie konnten voll Weisheit sein, sie konnten voll Wahnsinn sein, sie konnten Liebe strahlen oder tiefe Bosheit, es war einerlei. Nichts davon

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durfte man w¨hlen, nichts durfte man wollen. Man durfte nur sich wollen, nur a sein Schicksal. Dahin hatte mir Pistorius eine Strecke weit als F¨hrer gedient. u In jenen Tagen lief ich wie blind umher, Sturm brauste in mir, jeder Schritt war Gefahr. Ich sah nichts als die abgr¨ndige Dunkelheit vor mir, in welche u alle bisherigen Wege verliefen und hinabsanken. Und in meinem Innern sah ich das Bild des F¨hrers, der Demian glich und in dessen Augen mein Schicksal u stand. Ich schrieb auf ein Papier: Ein F¨hrer hat mich verlassen. Ich stehe ganz u ” im Finstern. Ich kann keinen Schritt allein tun. Hilf mir!“ Das wollte ich an Demian schicken. Doch unterließ ich es; es sah jedesmal, wenn ich es tun wollte, l¨ppisch und sinnlos aus. Aber ich wußte das kleine a Gebet auswendig und sprach es oft in mich hinein. Es begleitete mich jede Stunde. Ich begann zu ahnen, was Gebet ist. Meine Schulzeit war zu Ende. Ich sollte eine Ferienreise machen, mein Vater hatte sich das ausgedacht, und dann sollte ich zur Universit¨t gehen. Zu a welcher Fakult¨t, das wußte ich nicht. Es war mir ein Semester Philosophie a bewilligt. Ich w¨re mit allem andern ebenso zufrieden gewesen. a

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Frau Eva
In den Ferien ging ich einmal zu dem Hause, in welchem vor Jahren Max Demian mit seiner Mutter gewohnt hatte. Eine alte Frau spazierte im Garten, ich sprach sie an und erfuhr, daß ihr das Haus geh¨re. Ich fragte nach der o Familie Demian. Sie erinnerte sich ihrer gut. Doch wußte sie nicht, wo sie jetzt wohnten. Da sie mein Interesse sp¨rte, nahm sie mich mit ins Haus, suchte ein u ledernes Album hervor und zeigte mir eine Photographie von Demians Mutter. Ich konnte mich ihrer kaum mehr erinnern. Aber als ich nun das kleine Bildnis sah, blieb mir der Herzschlag stehen. – Das war mein Traumbild! Das war sie, die große, fast m¨nnliche Frauenfigur, ihrem Sohne ¨hnlich, mit Z¨gen von a a u M¨tterlichkeit, Z¨gen von Strenge, Z¨gen von tiefer Leidenschaft, sch¨n und u u u o verlockend, sch¨n und unnahbar, D¨mon und Mutter, Schicksal und Geliebte. o a Das war sie! Wie ein wildes Wunder durchfuhr es mich, als ich so erfuhr, daß mein Traumbild auf der Erde lebe! Es gab eine Frau, die so aussah, die die Z¨ge meines u Schicksals trug! Wo war sie? Wo? – Und sie war Demians Mutter. Bald darauf trat ich meine Reise an. Eine sonderbare Reise! Ich fuhr rastlos von Ort zu Ort, jedem Einfall nach, immer auf der Suche nach dieser Frau. Es gab Tage, da traf ich lauter Gestalten, die an sie erinnerten, an sie anklangen, die ihr glichen, die mich durch Gassen fremder St¨dte, durch Bahnh¨fe, in a o Eisenbahnz¨ge lockten, wie in verwickelten Tr¨umen. Es gab andere Tage, da u a sah ich ein, wie unn¨tz mein Suchen sei; dann saß ich unt¨tig irgendwo in u a einem Park, in einem Hotelgarten, in einem Wartesaal und schaute in mich hinein und versuchte das Bild in mir lebendig zu machen. Aber es war jetzt scheu und fl¨chtig geworden. Nie konnte ich schlafen, nur auf den Bahnfahrten u durch unbekannte Landschaften nickte ich f¨r Viertelstunden ein. Einmal, in u Z¨rich, stellte eine Frau mir nach, ein h¨bsches, etwas freches Weib. Ich sah u u sie kaum und ging weiter, als w¨re sie Luft. Lieber w¨re ich sofort gestorben, a a als daß ich einer andern Frau auch nur f¨r eine Stunde Teilnahme geschenkt u h¨tte. a Ich sp¨rte, daß mein Schicksal mich zog, ich sp¨rte, daß die Erf¨llung nahe u u u sei, und ich war toll vor Ungeduld, daß ich nichts dazu tun konnte. Einst auf einem Bahnhof, ich glaube, es war in Innsbruck, sah ich in einem eben wegfahrenden Zug am Fenster eine Gestalt, die mich an sie erinnerte, und war

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tagelang ungl¨cklich. Und pl¨tzlich erschien die Gestalt mir wieder nachts in u o einem Traume, ich erwachte mit einem besch¨mten und ¨den Gef¨hl von der a o u Sinnlosigkeit meiner Jagd und fuhr geraden Weges nach Hause zur¨ck. u Ein paar Wochen sp¨ter ließ ich mich auf der Universit¨t H. einschreiben. a a Alles entt¨uschte mich. Das Kolleg uber Geschichte der Philosophie, das ich a ¨ h¨rte, war ebenso wesenlos und fabrikm¨ßig wie das Treiben der studierenden o a J¨nglinge. Alles war so nach der Schablone, einer tat wie der andere, und u die erhitzte Fr¨hlichkeit auf den knabenhaften Gesichtern sah so betr¨bend o u leer und fertiggekauft aus! Aber ich war frei, ich hatte meinen ganzen Tag f¨r u mich, wohnte still und sch¨n in altem Gem¨uer vor der Stadt und hatte auf o a meinem Tisch ein paar B¨nde Nietzsche liegen. Mit ihm lebte ich, f¨hlte die a u Einsamkeit seiner Seele, witterte das Schicksal, daß ihn unaufhaltsam trieb, litt mit ihm und war selig, daß es einen gegeben hatte, der so unerbittlich seinen Weg gegangen war. Sp¨t am Abend schlenderte ich einst durch die Stadt, im wehenden Herbsta wind, und h¨rte aus den Wirtsh¨usern die Studentenvereine singen. Aus geo a o ¨ffneten Fenstern drang Tabakrauch in Wolken hervor, und in dickem Schwall der Gesang, laut und straff, doch unbeschwingt und leblos uniform. Ich stand an einer Straßenecke und h¨rte zu, aus zwei Kneipen scholl die o ¨ p¨nktlich ausge¨bte Munterkeit der f Jugend in die Nacht. Uberall Gemeinu u samkeit, uberall Zusammenhocken, uberall Abladen des Schicksals und Flucht ¨ ¨ in warme Herdenn¨he! a Hinter mir gingen zwei M¨nner langsam vor¨ber. Ich h¨rte ein St¨ck von a u o u ihrem Gespr¨ch. a Ist es nicht genau wie das Jungm¨nnerhaus in einem Negerdorf?“ sagte a ” der eine. Alles stimmt, sogar das T¨towieren ist noch Mode. Sehen Sie, das a ” ist das junge Europa.“ Die Stimme klang mir wunderlich mahnend – bekannt. Ich ging den beiden in der dunklen Gasse nach. Der eine war ein Japaner, klein und elegant, ich sah unter einer Laterne sein gelbes l¨chelndes Gesicht aufgl¨nzen. a a Da sprach der andere wieder. Nun, es wird bei Ihnen in Japan auch nicht besser sein. Die Leute, die ” nicht der Herde nachlaufen, sind uberall selten. Es gibt auch hier welche.“ ¨ Jedes Wort durchdrang mich mit freudigem Schrecken. Ich kannte den Sprecher. Es war Demian. In der windigen Nacht folgte ich ihm und dem Japaner durch die dunkeln Gassen, h¨rte ihren Gespr¨chen zu und genoß den Klang von Demians Stimme. o a Sie hatte den alten Ton, sie hatte die alte, sch¨ne Sicherheit und Ruhe, und o sie hatte die Macht uber mich. Nun war alles gut. Ich hatte ihn gefunden. ¨ Am Ende einer vorst¨dtischen Straße nahm der Japaner Abschied und a schloß eine Haust¨r auf. Demian ging den Weg zur¨ck, ich war stehengeblieu u

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ben und erwartete ihn mitten in der Straße. Mit Herzklopfen sah ich ihn mir entgegenkommen, aufrecht und elastisch, in einem braunen Gummimantel, einen d¨nnen Stock am Arme eingeh¨ngt. Er kam, ohne seinen gleichm¨ßigen u a a Schritt zu ¨ndern, bis dicht vor mich hin, nahm den Hut ab und zeigte mir a sein altes helles Gesicht mit dem entschlossenen Mund und der eigent¨mlichen u Helligkeit auf der breiten Stirn. Demian!“ rief ich. ” Er streckte mir die Hand entgegen. Also da bist du, Sinclair! Ich habe dich erwartet.“ ” Wußtest du, daß ich hier bin?“ ” Ich wußte es nicht gerade, aber ich hoffte es bestimmt. Gesehen habe ich ” dich erst heute abend, du bist uns ja die ganze Zeit nachgegangen.“ Du kanntest mich also gleich?“ ” Nat¨rlich. Du hast dich zwar ver¨ndert. Aber du hast ja das Zeichen.“ u a ” Das Zeichen? Was f¨r ein Zeichen?“ u ” Wir nannten es fr¨her das Kainszeichen, wenn du dich noch erinnern u ” kannst. Es ist unser Zeichen. Du hast es immer gehabt, darum bin ich dein Freund geworden. Aber jetzt ist es deutlicher geworden.“ Ich wußte es nicht. Oder eigentlich doch. Einmal habe ich ein Bild von dir ” gemalt, Demian, und war erstaunt, daß es auch mir ¨hnlich war. War das das a Zeichen?“ Das war es. Gut, daß du nun da bist! Auch meine Mutter wird sich freuen.“ ” Ich erschrak. Deine Mutter? Ist sie hier? Sie kennt mich ja gar nicht.“ ” Oh, sie weiß von dir. Sie wird dich kennen, auch ohne daß ich ihr sage, wer ” du bist. – Du hast lange nichts von dir h¨ren lassen.“ o Oh, ich wollte oft schreiben, aber es ging nicht. Seit einiger Zeit habe ich ” gesp¨rt, daß ich dich bald finden m¨sse. Ich habe jeden Tag darauf gewartet.“ u u Er schob seinen Arm in meinen und ging mit mir weiter. Ruhe ging von ihm aus und zog in mich ein. Wir plauderten bald wie fr¨her. Wir gedachten der u Schulzeit, des Konfirmationsunterrichtes, auch jenes ungl¨cklichen Beisamu menseins damals in den Ferien – nur von dem fr¨hesten und engsten Bande u zwischen uns, von der Geschichte mit Franz Kromer, war auch jetzt nicht die Rede. Unversehens waren wir mitten in seltsamen und ahnungsvollen Gespr¨chen. a Wir hatten, an jene Unterhaltung Demians mit dem Japaner anklingend, vom Studentenleben gesprochen und waren von da auf anderes gekommen, das weitab zu liegen schien; doch verband es sich in Demians Worten zu einem innigen Zusammenhang. ¨ Er sprach vom Geist Europas und von der Signatur dieser Zeit. Uberall, sagte er, herrsche Zusammenschluß und Herdenbildung, aber nirgends Frei-

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heit und Liebe. Alle diese Gemeinsamkeit, von der Studentenverbindung und dem Gesangverein bis zu den Staaten, sei eine Zwangsbildung, es sei eine Gemeinschaft aus Angst, aus Furcht, aus Verlegenheit, und sie sei im Innern faul und alt und dem Zusammenbruch nahe. Gemeinsamkeit“, sagte Demian, ist eine sch¨ne Sache. Aber was wir da o ” ” uberall bl¨hen sehen, ist gar keine. Sie wird neu entstehen, aus dem Voneinanu ¨ derwissen der Einzelnen, und sie wird f¨r eine Weile die Welt umformen. Was u jetzt an Gemeinsamkeit da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst haben – die Herren f¨r sich, die Arbeiu ter f¨r sich, die Gelehrten f¨r sich! Und warum haben sie Angst? Man hat nur u u Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist. Sie haben Angst, weil sie sich nie zu sich selber bekannt haben. Eine Gemeinschaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selber Angst haben! Sie f¨hlen alle, daß ihre u Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts von allem ist dem angemessen, was wir brauchen. Hundert und mehr Jahre lang hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu t¨ten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet, o sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergn¨gt sein kann. Sich dir u einmal so eine Studentenkneipe an! Oder gar einen Vergn¨gungsort, wo die u reichen Leute hinkommen! Hoffnungslos! – Lieber Sinclair, aus alledem kann nichts Heiteres kommen. Diese Menschen, die sich so ¨ngstlich zusammentun, a sind voll von Angst und voll von Bosheit, keiner traut dem andern. Sie h¨ngen a an Idealen, die keine mehr sind, und steinigen jeden, der ein neues aufstellt. Ich sp¨re, daß es Auseinandersetzungen gibt. Sie werden kommen, glaube mir, u sie werden bald kommen! Nat¨rlich werden sie die Welt nicht verbessern‘. Ob u ’ die Arbeiter ihre Fabrikanten totschlagen, oder ob Rußland und Deutschland aufeinander schießen, es werden nur Besitzer getauscht. Aber umsonst wird es doch nicht sein. Es wird die Wertlosigkeit der heutigen Ideale dartun, es wird ein Aufr¨umen mit steinzeitlichen G¨ttern geben. Diese Welt, wie sie jetzt ist, a o will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es.“ Und was wird dabei aus uns?“ fragte ich. ” Aus uns? Oh, vielleicht gehen wir mit zugrunde. Totschlagen kann man ja ” auch unsereinen. Nur daß wir damit nicht erledigt sind. Um das, was von uns bleibt, oder um die von uns, die es uberleben, wird der Wille der Zukunft sich ¨ sammeln. Der Wille der Menschheit wird sich zeigen, den unser Europa eine Zeitlang mit seinem Jahrmarkt von Technik und Wissenschaft uberschrien hat. ¨ Und dann wird sich zeigen, daß der Wille der Menschheit nie und nirgends gleich ist mit dem der heutigen Gemeinschaften, der Staaten und V¨lker, der o Vereine und Kirchen. Sondern das, was die Natur mit dem Menschen will, steht in den einzelnen geschrieben, in dir und mir. Es stand in Jesus, es stand

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in Nietzsche. F¨r diese allein wichtigen Str¨mungen – die nat¨rlich jeden Tag u o u anders aussehen k¨nnen, wird Raum sein, wenn die heutigen Gemeinschaften o zusammenbrechen.“ Wir machten sp¨t vor einem Garten am Flusse halt. a Hier wohnen wir“, sagte Demian. Komm bald zu uns! Wir erwarten dich ” ” sehr.“ Freudig ging ich durch die k¨hl gewordene Nacht meinen weiten Heimu weg. Da und dort l¨rmten und schwankten heimkehrende Studenten durch a die Stadt. Oft hatte ich den Gegensatz zwischen ihrer komischen Art von Fr¨hlichkeit und meinem einsamen Leben empfunden, oft mit einem Gef¨hl o u von Entbehrung, oft mit Spott. Aber noch nie hatte ich so wie heute mit Ruhe und geheimer Kraft gef¨hlt, wie wenig mich das anging, wie fern und verscholu len diese Welt f¨r mich war. Ich erinnerte mich an Beamte meiner Vaterstadt, u alte, w¨rdige Herren, welche an den Erinnerungen ihrer verkneipten Semester u hingen wie an Andenken eines seligen Paradieses und mit der entschwundenen Freiheit“, ihrer Studentenjahre einen Kultus trieben, wie ihn sonst etwa Dich” ¨ ¨ ter oder andere Romantiker der Kindheit widmen. Uberall dasselbe! Uberall suchten sie die Freiheit“, und das Gl¨ck“, irgendwo hinter sich, aus lauter u ” ” Angst, sie k¨nnten ihrer eigenen Verantwortlichkeit erinnert und an ihren eio genen Weg gemahnt werden. Ein paar Jahre wurde gesoffen und gejubelt, und dann kroch man unter und wurde ein seri¨ser Herr im Staatsdienst. Ja, es o war faul, faul bei uns, und diese Studentendummheit war weniger dumm und weniger schlimm als hundert andere. Als ich jedoch in meiner entlegenen Wohnung angekommen war und mein Bett suchte, waren alle diese Gedanken verflogen, und mein ganzer Sinn hing wartend an dem großen Versprechen, das mir dieser Tag gegeben hatte. Sobald ich wollte, morgen schon, sollte ich Demians Mutter sehen. Mochten die Studenten ihre Kneipen abhalten und sich die Gesichter t¨towieren, mochte a die Welt faul sein und auf ihren Untergang warten – was ging es mich an! Ich wartete einzig darauf, daß mein Schicksal mir in einem neuen Bilde entgegentrete. Ich schlief fest bis sp¨t am Morgen. Der neue Tag brach f¨r mich als ein feiera u licher Festtag an, wie ich seit den Weihnachtsfeiern meiner Knabenzeit keinen mehr erlebt hatte. Ich war voll innerster Unruhe, doch ohne jede Angst. Ich f¨hlte, daß ein wichtiger Tag f¨r mich angebrochen sei, ich sah und empfand u u die Welt um mich her verwandelt, wartend, beziehungsvoll und feierlich, auch der leise fließende Herbstregen war sch¨n, still und festt¨glich voll ernstfroher o a Musik. Zum erstenmal klang die außere Welt mit meiner innern rein zusam¨ men – dann ist Feiertag der Seele, dann lohnt es sich zu leben. Kein Haus, kein Schaufenster, kein Gesicht auf der Gasse st¨rte mich, alles war, wie es sein o mußte, trug aber nicht das leere Gesicht des Allt¨glichen und Gewohnten, sona

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dern war wartende Natur, stand ehrfurchtsvoll dem Schicksal bereit. So hatte ich als kleiner Knabe die Welt am Morgen der großen Feiertage gesehen, am Christtag und an Ostern. Ich hatte nicht gewußt, daß diese Welt noch so sch¨n o sein k¨nne. Ich hatte mich daran gew¨hnt, in mich hineinzuleben und mich o o damit abzufinden, daß mir der Sinn f¨r das da draußen eben verlorengeganu gen sei, daß der Verlust der gl¨nzenden Farben unvermeidlich mit dem Verlust a der Kindheit zusammenh¨nge, und daß man gewissermaßen die Freiheit und a Mannheit der Seele mit dem Verzicht auf diesen holden Schimmer bezahlen m¨sse. Nun sah ich entz¨ckt, daß dies alles nur versch¨ttet und verdunkelt u u u gewesen war und daß es m¨glich sei, auch als Freigewordener und auf Kino dergl¨ck Verzichtender die Welt strahlen zu sehen und die innigen Schauer u des kindlichen Sehens zu kosten. Es kam die Stunde, da ich den Vorstadtgarten wiederfand, bei dem ich mich diese Nacht von Max Demian verabschiedet hatte. Hinter hohen, regengrauen B¨umen verborgen stand ein kleines Haus, hell und wohnlich, hohe a Blumenstauden hinter einer großen Glaswand, hinter blanken Fenstern dunkle Zimmerw¨nde mit Bildern und B¨cherreihen. Die Haust¨r f¨hrte unmittelbar a u u u in eine kleine erw¨rmte Halle, eine stumme alte Magd, schwarz, mit weißer a Sch¨rze, f¨hrte mich ein und nahm mir den Mantel ab. u u Sie ließ mich in der Halle allein. Ich sah mich um, und sogleich war ich mitten in meinem Traume. Oben an der dunkeln Holzwand, uber einer T¨r, u ¨ hing unter Glas in einem schwarzen Rahmen ein wohlbekanntes Bild, mein Vogel mit dem goldgelben Sperberkopf, der sich aus der Weitschale schwang. Ergriffen blieb ich stehen – mir war so froh und weh ums Herz, als kehre in diesem Augenblick alles, was ich je getan und erlebt, zu mir zur¨ck als Antwort u und Erf¨llung. Blitzschnell sah ich eine Menge von Bildern an meiner Seele u vor¨berlaufen; das heimatliche Vaterhaus mit dem alten Steinwappen uberm u ¨ Torbogen, den Knaben Demian, der das Wappen zeichnete, mich selbst als Knaben, angstvoll in den b¨sen Bann meines Feindes Kromer verstrickt, mich o selbst als J¨ngling, in meinem Sch¨lerzimmerchen am stillen Tisch den Vogel u u meiner Sehnsucht malend, die Seele verwirrt ins Netz ihrer eigenen F¨den – a und alles, und alles bis zu diesem Augenblick klang in mir wider, wurde in mir bejaht, beantwortet, gutgeheißen. Mit naß gewordenen Augen starrte ich auf mein Bild und las in mir selbst. Da sank mein Blick herab: unter dem Vogelbilde in der ge¨ffneten T¨r stand o u eine große Frau in dunklem Kleid. Sie war es. Ich vermochte kein Wort zu sagen. Aus einem Gesicht, das gleich dem ihres Sohnes ohne Zeit und Alter und voll von beseeltem Willen war, l¨chelte a die sch¨ne, ehrw¨rdige Frau mir freundlich zu. Ihr Blick war Erf¨llung, ihr o u u Gruß bedeutete Heimkehr. Schweigend streckte ich ihr die H¨nde entgegen. a Sie ergriff sie beide mit festen, warmen H¨nden. a

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Sie sind Sinclair. Ich kannte Sie gleich. Seien Sie willkommen!“ ” Ihre Stimme war tief und warm, ich trank sie wie s¨ßen Wein. Und nun u blickte ich auf und in ihr stilles Gesicht, in die schwarzen, unergr¨ndlichen u Augen, auf den frischen, reifen Mund, auf die freie, f¨rstliche Stirn, die das u Zeichen trug. Wie bin ich froh!“ sagte ich zu ihr und k¨ßte ihre H¨nde. Ich glaube, u a ” ” ich bin mein ganzes Leben lang immer unterwegs gewesen – und jetzt bin ich heimgekommen.“ Sie l¨chelte m¨tterlich. a u Heim kommt man nie“, sagte sie freundlich. Aber wo befreundete Wege ” ” zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt f¨r eine Stunde wie Heimat aus.“ u Sie sprach aus, was ich auf dem Wege zu ihr gef¨hlt hatte. Ihre Stimme u und auch ihre Worte waren denen ihres Sohnes sehr ¨hnlich, und doch ganz a anders. Alles war reifer, w¨rmer, selbstverst¨ndlicher. Aber ebenso wie Max a a vor Zeiten auf niemand den Eindruck eines Knaben gemacht hatte, so sah seine Mutter gar nicht wie die Mutter eines erwachsenen Sohnes aus, so jung und s¨ß u war der Hauch uber ihrem Gesicht und Haar, so straff und faltenlos war ihre ¨ goldige Haut, so bl¨hend der Mund. K¨niglicher noch als in meinem Traume u o stand sie vor mir, und ihre N¨he war Liebesgl¨ck, ihr Blick war Erf¨llung. a u u Dies also war das neue Bild, in dem mein Schicksal sich mir zeigte, nicht mehr streng, nicht mehr vereinsamend, nein, reif und lustvoll! Ich faßte keine Entschl¨sse, tat kein Gel¨bde – ich war an ein Ziel gekommen, an eine u u hohe Wegstelle, von wo aus der weitere Weg sich weit und herrlich zeigte, L¨ndern der Verheißung entgegenstrebend, uberschattet von Baumwipfeln naa ¨ hen Gl¨ckes, gek¨hlt von nahen G¨rten jeder Lust. Mochte es mir gehen, wie u u a es wollte, ich war selig, diese Frau in der Welt zu wissen, ihre Stimme zu trinken und ihre N¨he zu atmen. Mochte sie mir Mutter, Geliebte, G¨ttin werden a o – wenn sie nur da war! wenn nur mein Weg dem ihren nahe war! Sie wies zu meinem Sperberbilde hinauf. Sie haben unserem Max nie eine gr¨ßere Freude gemacht als mit diesem o ” Bild“, sagte sie nachdenklich. Und mir auch. Wir haben auf Sie gewartet, ” und als das Bild kam, da wußten wir, daß Sie auf dem Weg zu uns waren. Als Sie ein kleiner Knabe waren, Sinclair, da kam eines Tages mein Sohn aus der Schule und sagte: Es ist ein Junge da, der hat das Zeichen auf der Stirn, der muß mein Freund werden. Das waren Sie. Sie haben es nicht leicht gehabt, aber wir haben Ihnen vertraut. Einmal trafen Sie, als Sie in Ferien zu Hause waren, wieder mit Max zusammen. Sie waren damals so etwa sechzehn Jahre alt. Max erz¨hlte mir davon –“ a Ich unterbrach: Oh, daß er Ihnen das gesagt hat! Es war meine elendeste ” Zeit damals!“ Ja, Max sagte zu mir: Jetzt hat Sinclair das Schwerste vor sich. Er macht ”

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noch einmal einen Versuch, sich in die Gemeinschaft zu fl¨chten, er ist sogar u ein Wirtshausbruder geworden; aber es wird ihm nicht gelingen. Sein Zeichen ist verh¨llt, aber es brennt ihn heimlich. – War es nicht so?“ u O ja, so war es, genau so. Dann fand ich Beatrice und dann kam endlich ” wieder ein F¨hrer zu mir. Er hieß Pistorius. Erst da wurde mir klar, warum u meine Knabenzeit so sehr an Max gebunden war, warum ich nicht von ihm loskommen konnte. Liebe Frau – liebe Mutter, ich habe damals oft geglaubt, ich m¨sse mir das Leben nehmen. Ist denn der Weg f¨r jeden so schwer?“ u u Sie fuhr mit ihrer Hand uber mein Haar, leicht wie Luft. ¨ Es ist immer schwer, geboren zu werden. Sie wissen, der Vogel hat M¨he, u ” aus dem Ei zu kommen. Denken Sie zur¨ck und fragen Sie: war der Weg denn u so schwer? nur schwer? War er nicht auch sch¨n? H¨tten Sie einen sch¨neren, o a o einen leichteren gewußt?“ Ich sch¨ttelte den Kopf. u Es war schwer“, sagte ich wie im Schlaf, es war schwer, bis der Traum ” ” kam.“ Sie nickte und sah mich durchdringend an. Ja, man muß seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt ” keinen immerw¨hrenden Traum, jeden l¨st ein neuer ab, und keinen darf man a o festhalten wollen.“ Ich erschrak tief. War das schon eine Warnung? War das schon Abwehr? Aber einerlei, ich war bereit, mich von ihr f¨hren zu lassen und nicht nach u dem Ziel zu fragen. Ich weiß nicht“, sagte ich, wie lange mein Traum dauern soll. Ich w¨nsche, u ” ” er w¨re ewig. Unter dem Bild des Vogels hat mich mein Schicksal empfangen, a wie eine Mutter, und wie eine Geliebte. Ihm geh¨re ich und sonst niemand.“ o Solange der Traum Ihr Schicksal ist, solange sollen Sie ihm treu bleiben“, ” best¨tigte sie ernst. a Eine Traurigkeit ergriff mich, und der sehnliche Wunsch, in dieser verzauberten Stunde zu sterben. Ich f¨hlte die Tr¨nen – wie unendlich lange hatte ich u a nicht mehr geweint! – unaufhaltsam in mir aufquellen und mich uberw¨ltigen. a ¨ Heftig wandte ich mich von ihr weg, trat an das Fenster und blickte mit blinden Augen uber die Topfblumen hinweg. ¨ Hinter mir h¨rte ich ihre Stimme, sie klang gelassen und war doch so voll o von Z¨rtlichkeit wie ein bis zum Rande mit Wein gef¨llter Becher. a u Sinclair, Sie sind ein Kind! Ihr Schicksal liebt Sie ja. Einmal wird es Ihnen ” ganz geh¨ren, so wie Sie es tr¨umen, wenn Sie treu bleiben.“ o a Ich hatte mich bezwungen und wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie gab mir die Hand. Ich habe ein paar Freunde“, sagte sie l¨chelnd, ein paar ganz wenige, ganz a ” ” nahe Freunde, die sagen Frau Eva zu mir. Auch Sie sollen mich so nennen,

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wenn Sie wollen.“ Sie f¨hrte mich zur T¨r, ¨ffnete und deutete in den Garten. Sie finden Max u u o ” da draußen.“ Unter den hohen B¨umen stand ich bet¨ubt und ersch¨ttert, wacher oder a a u tr¨umender als jemals, wußte es nicht. Sachte tropfte der Regen aus den Zweia gen. Ich ging langsam in den Garten hinein, der sich weit das Flußufer entlang zog. Endlich fand ich Demian. Er stand in einem offenen Gartenh¨uschen a mit nacktem Oberk¨rper und machte vor einem aufgeh¨ngten Sands¨ckchen o a a Box¨bungen. u Erstaunt blieb ich stehen. Demian sah prachtvoll aus, die breite Brust, der feste, m¨nnliche Kopf, die gehobenen Arme mit gestrafften Muskeln waren a stark und t¨chtig, die Bewegungen kamen aus H¨ften, Schultern und Armgeu u lenken hervor wie spielende Quellen. Demian!“ rief ich. Was treibst du denn da?“ ” ” Er lachte fr¨hlich. o Ich ube mich. Ich habe dem kleinen Japaner einen Ringkampf versprochen, ¨ ” der Kerl ist flink wie eine Katze und nat¨rlich ebenso t¨ckisch. Aber er wird u u nicht mit mir fertig werden. Es ist eine ganz kleine Dem¨tigung, die ich ihm u schuldig bin.“ Er zog Hemd und Rock uber. ¨ Du warst schon bei meiner Mutter?“ fragte er. ” Ja. Demian, was hast du f¨r eine herrliche Mutter! Frau Eva! Der Name u ” paßt vollkommen zu ihr, sie ist wie die Mutter aller Wesen.“ Er sah mir einen Augenblick nachdenklich ins Gesicht. Du weißt den Namen schon? Du kannst stolz sein, Junge! Du bist der erste, ” dem sie ihn schon in der ersten Stunde gesagt hat.“ Von diesem Tag an ging ich im Hause ein und aus wie ein Sohn und Bruder, aber auch wie ein Liebender. Wenn ich die Pforte hinter mir schloß, ja schon wenn ich von weitem die hohen B¨ume des Gartens auftauchen sah, war ich a reich und gl¨cklich. Draußen war die Wirklichkeit“, draußen waren Straßen u ” und H¨user, Menschen und Einrichtungen, Bibliotheken und Lehrs¨le – hier a a drinnen aber war Liebe und Seele, hier lebte das M¨rchen und der Traum. a Und doch lebten wir keineswegs von der Welt abgeschlossen, wir lebten in Gedanken und Gespr¨chen oft mitten in ihr, nur auf einem anderen Felde, wir a waren von der Mehrzahl der Menschen nicht durch Grenzen getrennt, sondern nur durch eine andere Art des Sehens. Unsere Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ank¨ndigung einer u anderen M¨glichkeit zu leben. Ich lernte, ich lang Vereinsamter, die Gemeino schaft kennen, die zwischen Menschen m¨glich ist, welche das v¨llige Alleinsein o o gekostet haben. Nie mehr begehrte ich zu den Tafeln der Gl¨cklichen, zu den u Festen der Fr¨hlichen zur¨ck, nie mehr flog mich Neid oder Heimweh an, wenn o u

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ich die Gemeinsamkeiten der andern sah. Und langsam wurde ich eingeweiht in das Geheimnis derer, welche das Zeichen“ an sich trugen. ” Wir, die mit dem Zeichen, mochten mit Recht der Welt f¨r seltsam, ja u f¨r verr¨ckt und gef¨hrlich gelten. Wir waren Erwachte, oder Erwachende, u u a und unser Streben ging auf ein immer vollkommeneres Wachsein, w¨hrend a das Streben und Gl¨cksuchen der anderen darauf ging, ihre Meinungen, ihre u Ideale und Pflichten, ihr Leben und Gl¨ck immer enger an das der Herde u zu binden. Auch dort war Streben, auch dort war Kraft und Gr¨ße. Aber o w¨hrend, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur a zum Neuen, zum Vereinzelten und Zuk¨nftigen darstellten, lebten die andern u in einem Willen des Beharrens. F¨r sie war die Menschheit – welche sie liebten u wie wir – etwas Fertiges, das erhalten und gesch¨tzt werden mußte. F¨r uns u u war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen. Außer Frau Eva, Max und mir geh¨rten zu unsrem Kreise, n¨her oder fero a ner, noch manche Suchende von sehr verschiedener Art. Manche von ihnen gingen besondere Pfade, hatten sich abgesonderte Ziele gesteckt und hingen an besonderen Meinungen und Pflichten, unter ihnen waren Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anh¨nger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, a ¨ verwundbare Menschen, Anh¨nger neuer Sekten, Pfleger indischer Ubungen, a Pflanzenesser und andre. Mit diesen allen hatten wir eigentlich nichts Geistiges gemein als die Achtung, die ein jeder dem geheimen Lebenstraum des andern g¨nnte. Andre standen uns n¨her, welche das Suchen der Menschheit nach o a G¨ttern und neuen Wunschbildern in der Vergangenheit verfolgten und deren o Studien mich oft an die meines Pistorius erinnerten. Sie brachten B¨cher mit, u ubersetzten uns Texte alter Sprachen, zeigten uns Abbildungen alter Symbole ¨ und Riten und lehrten uns sehen, wie der ganze Besitz der bisherigen Menschheit an Idealen aus Tr¨umen der unbewußten Seele bestand, aus Tr¨umen, in a a welchen die Menschheit tastend den Ahnungen ihrer Zukunftsm¨glichkeiten o nachging. So durchliefen wir den wunderbaren, tausendk¨pfigen G¨tterkn¨uel o o a der alten Welt bis zum Herand¨mmern der christlichen Umkehr. Die Bekennta nisse der einsamen Frommen wurden uns bekannt, und die Wandlungen der Religionen von Volk zu Volk. Und aus allem, was wir sammelten, ergab sich uns die Kritik unserer Zeit und des jetzigen Europa, das in ungeheuren Bestrebungen m¨chtige neue Waffen der Menschheit erschaffen hatte, endlich aber a in eine tiefe und zuletzt schreiende Ver¨dung des Geistes geraten war. Denn o es hatte die ganze Welt gewonnen, um seine Seele dar¨ber zu verlieren. u Auch hier gab es Gl¨ubige und Bekenner bestimmter Hoffnungen und Heilsa lehren. Es gab Buddhisten, die Europa bekehren wollten, und Tolstoij¨nger, u und andre Bekenntnisse. Wir im engern Kreise h¨rten zu und nahmen keio ne dieser Lehren anders an denn als Sinnbilder. Uns Gezeichneten lag keine

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Sorge um die Gestaltung der Zukunft ob. Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen m¨chte. o Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gef¨hl deutlich, daß eiu ne Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon sp¨rbar u sei. Demian sagte mir manchmal: Was kommen wird, ist unausdenklich. Die ” Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt, die man seit so langem immer und immer wieder wegl¨gt und bet¨ubt. Dann u a wird unser Tag sein, dann wird man uns brauchen, nicht als F¨hrer oder neue u Gesetzgeber – die neuen Gesetze erleben wir nicht mehr –, eher als Willige, als solche, die bereit sind, mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft. Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gef¨hrliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die a wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet – wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gef¨hrliche Weiten zu treiben. a Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied waren nur darum f¨hig und wirksam, weil sie schicksalbereit waren. a Das paßt auf Moses und Buddha, es paßt auf Napoleon und auf Bismarck. Welcher Welle einer dient, von welchem Pol aus er regiert wird, das liegt nicht in seiner Wahl. Wenn Bismarck die Sozialdemokraten verstanden und sich auf sie eingestellt h¨tte, so w¨re er ein kluger Herr gewesen, aber kein Mann des a a Schicksals. So war es mit Napoleon, mit C¨sar, mit Loyola, mit allen! Man a muß sich das immer biologisch und entwicklungsgeschichtlich denken! Als die Umw¨lzungen auf der Erdoberfl¨che die Wassertiere ans Land, Landtiere ins a a Wasser warf, da waren es die schicksalbereiten Exemplare, die das Neue und Unerh¨rte vollziehen und ihre Art durch neue Anpassungen retten konnten. o Ob es dieselben Exemplare waren, welche vorher in ihrer Art als Konservative und Erhaltende hervorragten, oder eher die Sonderlinge und Revolution¨re, a das wissen wir nicht. Sie waren bereit, und darum konnten sie ihre Art in neue Entwicklungen hin¨ber retten. Das wissen wir. Darum wollen wir bereit sein.“ u Bei solchen Gespr¨chen war Frau Eva oft dabei, doch sprach sie selbst nicht a in dieser Weise mit. Sie war f¨r jeden von uns, der seine Gedanken außerte, u ¨ ein Zuh¨rer und Echo, voll von Vertrauen, voll von Verst¨ndnis, es schien, als o a k¨men die Gedanken alle aus ihr und kehrten zu ihr zur¨ck. In ihrer N¨he a u a

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zu sitzen, zuweilen ihre Stimme zu h¨ren und teilzuhaben an der Atmosph¨re o a von Reife und Seele, die sie umgab, war f¨r mich Gl¨ck. u u Sie empfand es sogleich, wenn in mir irgendeine Ver¨nderung, eine Tr¨bung a u oder Erneuerung im Gange war. Es schien mir, als seien die Tr¨ume, die ich a im Schlaf hatte, Eingebungen von ihr. Ich erz¨hlte sie ihr oft, und sie waren a ihr verst¨ndlich und nat¨rlich, es gab keine Sonderbarkeiten, denen sie nicht a u mit klarem F¨hlen folgen konnte. Eine Zeitlang hatte ich Tr¨ume, die wie u a Nachbildungen unsrer Tagesgespr¨che waren. Ich tr¨umte, daß die ganze Welt a a in Aufruhr sei und daß ich, allein oder mit Demian, angespannt auf das große Schicksal warte. Das Schicksal blieb verh¨llt, trug aber irgendwie die Z¨ge der u u Frau Eva – von ihr erw¨hlt oder verworfen zu werden, das war das Schicksal. a Manchmal sagte sie mit L¨cheln: Ihr Traum ist nicht ganz, Sinclair, Sie a ” haben das Beste vergessen –“, und es konnte geschehen, daß es mir dann wieder einfiel und ich nicht begreifen konnte, wie ich das hatte vergessen k¨nnen. o Zuzeiten wurde ich unzufrieden und von Begehren gequ¨lt. Ich meinte, es a nicht mehr ertragen zu k¨nnen, sie neben mir zu sehen, ohne sie in die Arme zu o schließen. Auch das bemerkte sie sofort. Als ich einst mehrere Tage wegblieb und dann verst¨rt wiederkam, nahm sie mich beiseite und sagte: Sie sollen o ” sich nicht an W¨nsche hingeben, an die Sie nicht glauben. Ich weiß, was Sie u w¨nschen. Sie m¨ssen diese W¨nsche aufgeben k¨nnen, oder sie ganz und richu u u o tig w¨nschen. Wenn Sie einmal so zu bitten verm¨gen, daß Sie der Erf¨llung u o u in sich ganz gewiß sind, dann ist auch die Erf¨llung da. Sie w¨nschen aber, u u und bereuen es wieder, und haben Angst dabei. Das muß alles uberwunden ¨ werden. Ich will Ihnen ein M¨rchen erz¨hlen.“ a a Und sie erz¨hlte mir von einem J¨ngling, der in einen Stern verliebt war. Am a u Meere stand er, streckte die H¨nde aus und betete den Stern an, er tr¨umte von a a ihm und richtete seine Gedanken an ihn. Aber er wußte, oder meinte zu wissen, daß ein Stern nicht von einem Menschen umarmt werden k¨nne. Er hielt es o f¨r sein Schicksal, ohne Hoffnung auf Erf¨llung ein Gestirn zu lieben, und u u er baute aus diesem Gedanken eine ganze Lebensdichtung von Verzicht und stummem, treuem Leiden, das ihn bessern und l¨utern sollte. Seine Tr¨ume a a gingen aber alle auf den Stern. Einmal stand er wieder bei Nacht am Meere, auf der hohen Klippe, und blickte in den Stern und brannte vor Liebe zu ihm. Und in einem Augenblick gr¨ßter Sehnsucht tat er den Sprung und st¨rzte o u sich ins Leere, dem Stern entgegen. Aber im Augenblick des Springens noch dachte er blitzschnell: es ist ja doch unm¨glich! Da lag er unten am Strand und o war zerschmettert. Er verstand nicht zu lieben. H¨tte er im Augenblick, wo er a sprang, die Seelenkraft gehabt, fest und sicher an die Erf¨llung zu glauben, er u w¨re nach oben geflogen und mit dem Stern vereinigt worden. a Liebe muß nicht bitten“, sagte sie, auch nicht fordern. Liebe muß die ” ” Kraft haben, in sich selbst zur Gewißheit zu kommen. Dann wird sie nicht

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mehr gezogen, sondern zieht. Sinclair, Ihre Liebe wird von mir gezogen. Wenn sie mich einmal zieht, so komme ich. Ich will keine Geschenke geben, ich will gewonnen werden.“ Ein anderes Mal aber erz¨hlte sie mir ein anderes M¨rchen. Es war ein a a Liebender, der ohne Hoffnung liebte. Er zog sich ganz in seine Seele zur¨ck u und meinte vor Liebe zu verbrennen. Die Welt ging ihm verloren, er sah den blauen Himmel und den gr¨nen Wald nicht mehr, der Bach rauschte ihm u nicht, die Harfe klang ihm nicht, alles war versunken, und er war arm und elend geworden. Seine Liebe aber wuchs, und er wollte viel lieber sterben und verkommen, als auf den Besitz der sch¨nen Frau verzichten, die er liebte. Da o sp¨rte er, wie seine Liebe alles andre in ihm verbrannt hatte, und sie wurde u m¨chtig und zog und zog, und die sch¨ne Frau mußte folgen, sie kam, er stand a o mit ausgebreiteten Armen, um sie an sich zu ziehen. Wie sie aber vor ihm stand, da war sie ganz verwandelt, und mit Schauern f¨hlte und sah er, daß u er die ganze verlorene Welt zu sich her gezogen hatte. Sie stand vor ihm und ergab sich ihm, Himmel und Wald und Bach, alles kam in neuen Farben frisch und herrlich ihm entgegen, geh¨rte ihm, sprach seine Sprache. Und statt bloß o ein Weib zu gewinnen, hatte er die ganze Welt am Herzen, und jeder Stern am Himmel gl¨hte in ihm und funkelte Lust durch seine Seele. – Er hatte u geliebt und dabei sich selbst gefunden. Die meisten aber lieben, um sich dabei zu verlieren. Meine Liebe zu Frau Eva schien mir der einzige Inhalt meines Lebens zu sein. Aber jeden Tag sah sie anders aus. Manchmal glaubte ich bestimmt zu f¨hlen, daß es nicht ihre Person sei, nach der mein Wesen hingezogen strebte, u sondern sie sei nur ein Sinnbild meines Innern und wolle mich nur tiefer in mich selbst hinein f¨hren. Oft h¨rte ich Worte von ihr, die mir klangen wie Antworu o ten meines Unterbewußten auf brennende Fragen, die mich bewegten. Dann wieder gab es Augenblicke, in denen ich neben ihr vor sinnlichem Verlangen brannte und Gegenst¨nde k¨ßte, die sie ber¨hrt hatte. Und allm¨hlich schoben a u u a sich sinnliche und unsinnliche Liebe, Wirklichkeit und Symbol ubereinander. ¨ Dann geschah es, daß ich daheim in meinem Zimmer an sie dachte, in ruhiger Innigkeit, und dabei ihre Hand in meiner und ihre Lippen auf meinen zu f¨hlen u meinte. Oder ich war bei ihr, sah ihr ins Gesicht, sprach mit ihr und h¨rte o ihre Stimme und wußte doch nicht, ob sie wirklich und nicht ein Traum sei. Ich begann zu ahnen, wie man eine Liebe dauernd und unsterblich besitzen kann. Ich hatte beim Lesen eines Buches eine neue Erkenntnis, und es war dasselbe Gef¨hl wie ein Kuß von Frau Eva. Sie streichelte mir das Haar und u l¨chelte mir ihre reife, duftende W¨rme zu, und ich hatte dasselbe Gef¨hl, a a u wie wenn ich in mir selbst einen Fortschritt gemacht hatte. Alles, was wichtig und Schicksal f¨r mich war, konnte ihre Gestalt annehmen. Sie konnte sich in u jeden meiner Gedanken verwandeln und jeder sich in sie.

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Auf die Weihnachtsfeiertage, in denen ich bei meinen Eltern war, hatte ich mich gef¨rchtet, weil ich meinte, es m¨sse eine Qual sein, zwei Wochen lang u u entfernt von Frau Eva zu leben. Aber es war keine Qual, es war herrlich, zu Hause zu sein und an sie zu denken. Als ich nach H. zur¨ckgekommen u war, blieb ich noch zwei Tage ihrem Hause fern, um diese Sicherheit und Unabh¨ngigkeit von ihrer sinnlichen Gegenwart zu genießen. Auch hatte ich a Tr¨ume, in denen meine Vereinigung mit ihr sich auf neue gleichnishafte Arten a vollzog. Sie war ein Meer, in das ich str¨mend m¨ndete. Sie war ein Stern, o u und ich selbst war als ein Stern zu ihr unterwegs, und wir trafen uns und f¨hlten uns zueinander gezogen, blieben beisammen und drehten uns selig f¨r u u alle Zeiten in nahen, t¨nenden Kreisen umeinander. o Diesen Traum erz¨hlte ich ihr, als ich sie zuerst wieder besuchte. a Der Traum ist sch¨n“, sagte sie still. Machen Sie ihn wahr!“ o ” ” In der Vorfr¨hlingszeit kam ein Tag, den ich nie vergessen habe. Ich trat in u die Halle, ein Fenster stand offen und ein lauer Luftstrom w¨lzte den schweren a Geruch der Hyazinthen durch den Raum. Da niemand zu sehen war, ging ich die Treppe hinauf in Max Demians Studierzimmer. Ich pochte leicht an die T¨r und trat ein, ohne auf einen Ruf zu warten, wie ich es gewohnt war. u Das Zimmer war dunkel, die Vorh¨nge alle zugezogen. Die T¨re zu einem a u kleinen Nebenraum stand offen, wo Max ein chemisches Laboratorium eingerichtet hatte. Von dorther kam das helle, weiße Licht der Fr¨hlingssonne, die u durch Regenwolken schien. Ich glaubte, es sei niemand da, und schlug einen der Vorh¨nge zur¨ck. a u Da sah ich auf einem Schemel nahe beim verh¨ngten Fenster Max Demian a sitzen, zusammengekauert und seltsam ver¨ndert, und wie ein Blitz durcha fuhr mich ein Gef¨hl: das hast du schon einmal erlebt! Er hatte die Arme u regungslos h¨ngen, die H¨nde im Schoß, sein etwas vorgeneigtes Gesicht mit a a offenen Augen war blicklos und erstorben, im Augenstern blinkte tot ein kleiner, greller Lichtreflex, wie in einem St¨ck Glas. Das bleiche Gesicht war in u sich versunken und ohne anderen Ausdruck als den einer ungeheuren Starrheit, es sah aus wie eine uralte Tiermaske am Portal eines Tempels. Er schien nicht zu atmen. Erinnerung uberschauerte mich – so, genau so hatte ich ihn schon einmal ¨ gesehen, vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war. So hatten die Augen nach innen gestarrt, so waren die H¨nde leblos nebeneinander gelegen, a eine Fliege war ihm ubers Gesicht gewandert. Und er hatte damals, vor viel¨ leicht sechs Jahren, gerade so alt und so zeitlos ausgesehen, keine Falte im Gesicht war heute anders. Von einer Furcht uberfallen ging ich leise aus dem Zimmer und die Treppe ¨ hinab. In der Halle traf ich Frau Eva. Sie war bleich und schien erm¨det, u was ich an ihr nicht kannte, ein Schatten flog durchs Fenster, die grelle, weiße

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Sonne war pl¨tzlich verschwunden. o Ich war bei Max“, fl¨sterte ich rasch. Ist etwas geschehen? Er schl¨ft, u a ” ” oder ist versunken, ich weiß nicht, ich sah ihn fr¨her schon einmal so.“ u Sie haben ihn doch nicht geweckt?“ fragte sie rasch. ” Nein. Er hat mich nicht geh¨rt. Ich ging gleich wieder hinaus. Frau Eva, o ” sagen Sie mir, was ist mit ihm?“ Sie fuhr sich mit dem R¨cken der Hand uber die Stirn. u ¨ Seien Sie ruhig, Sinclair, es geschieht ihm nichts. Er hat sich zur¨ckgezogen. u ” Es wird nicht lange dauern.“ Sie stand auf und ging in den Garten hinaus, obwohl es eben zu regnen anfing. Ich sp¨rte, daß ich nicht mitkommen sollte. So ging ich in der Halle u auf und ab, roch an den bet¨ubend duftenden Hyazinthen, starrte mein Vogela bild uber der T¨re an und atmete mit Beklemmung den seltsamen Schatten, u ¨ von dem das Haus an diesem Morgen erf¨llt war. Was war dies? Was war u geschehen? Frau Eva kam bald zur¨ck. Regentropfen hingen ihr im dunkeln Haar. Sie u setzte sich in ihren Lehnstuhl. M¨digkeit lag uber ihr. Ich trat neben sie, u ¨ beugte mich uber sie und k¨ßte die Tropfen aus ihrem Haar. Ihre Augen u ¨ waren hell und still, aber die Tropfen schmeckten mir wie Tr¨nen. a Soll ich nach ihm sehen?“ fragte ich fl¨sternd. u ” Sie l¨chelte schwach. a Seien Sie kein kleiner Junge, Sinclair!“ ermahnte sie laut, wie um in sich ” selber einen Bann zu brechen. Gehen Sie jetzt, und kommen Sie sp¨ter wieder, a ” ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden.“ Ich ging und lief von Haus und Stadt hinweg gegen die Berge, der schr¨ge a d¨nne Regen kam mir entgegen, die Wolken trieben niedrig unter schwerem u Druck wie in Angst vor¨ber. Unten ging kaum ein Wind, in der H¨he schien u o es zu st¨rmen, mehrmals brach f¨r Augenblicke die Sonne bleich und grell aus u u dem st¨hlernen Wolkengrau. a Da kam uber den Himmel weg eine lockere gelbe Wolke getrieben, sie staute ¨ sich gegen die graue Wand, und der Wind formte in wenigen Sekunden aus dem Gelben und dem Blauen ein Bild, einen riesengroßen Vogel, der sich aus blauem Wirrwarr losriß und mit weiten Fl¨gelschl¨gen in den Himmel hinein u a verschwand. Dann wurde der Sturm h¨rbar, und Regen prasselte mit Hagel o vermischt herab. Ein kurzer, unwahrscheinlich und schreckhaft t¨nender Dono ner krachte uber der gepeitschten Landschaft, gleich darauf brach wieder ein ¨ Sonnenblick durch, und auf den nahen Bergen uberm braunen Wald leuchtete ¨ fahl und unwirklich der bleiche Schnee. Als ich naß und verblasen nach Stunden wiederkehrte, offnete Demian mir ¨ selbst die Haust¨r. u

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Er nahm mich mit sich in sein Zimmer hinauf, im Laboratorium brannte eine Gasflamme, Papier lag umher, er schien gearbeitet zu haben. Setz dich“, lud er ein, du wirst m¨de sein, es war ein scheußliches Wetter, u ” ” man sieht, daß du t¨chtig draußen warst. Tee kommt gleich.“ u Es ist heute etwas los“, begann ich z¨gernd, es kann nicht nur das bißchen o ” ” Gewitter sein.“ Er sah mich forschend an. Hast du etwas gesehen?“ ” Ja. Ich sah in den Wolken einen Augenblick deutlich ein Bild.“ ” Was f¨r ein Bild?“ u ” Es war ein Vogel.“ ” Der Sperber? War er’s? Dein Traumvogel?“ ” Ja, es war mein Sperber. Er war gelb und riesengroß und flog in den ” blauschwarzen Himmel hinein.“ Demian atmete tief auf. Es klopfte. Die alte Dienerin brachte Tee. Nimm dir, Sinclair, bitte. – Ich glaube, du hast den Vogel nicht zuf¨llig a ” gesehen?“ Zuf¨llig? Sieht man solche Sachen zuf¨llig?“ a a ” Gut, nein. Er bedeutet etwas. Weißt du was?“ ” Nein. Ich sp¨re nur, daß es eine Ersch¨tterung bedeutet, einen Schritt im u u ” Schicksal. Ich glaube, es geht uns alle an.“ Er ging heftig auf und ab. Einen Schritt im Schicksal!“ rief er laut. Dasselbe habe ich heute nacht ” ” getr¨umt, und meine Mutter hatte gestern eine Ahnung, die sagte das gleiche. a – Mir hat getr¨umt, ich stieg eine Leiter hinauf, an einem Baumstamm oder a Turm. Als ich oben war, sah ich das ganze Land, es war eine große Ebene, mit St¨dten und D¨rfern brennen. Ich kann noch nicht alles erz¨hlen, es ist mir a o a noch nicht alles klar.“ Deutest du den Traum auf dich?“ fragte ich. ” Auf mich? Nat¨rlich. Niemand tr¨umt, was ihn nicht angeht. Aber es geht u a ” mich nicht allein an, da hast du recht. Ich unterscheide ziemlich genau die Tr¨ume, die mir Bewegungen in der eigenen Seele anzeigen, und die anderen, a sehr seltenen, in denen das ganze Menschenschicksal sich andeutet. Ich habe selten solche Tr¨ume gehabt, und nie einen, von dem ich sagen k¨nnte, er sei a o eine Prophezeiung gewesen und in Erf¨llung gegangen. Die Deutungen sind u zu ungewiß. Aber das weiß ich bestimmt, ich habe etwas getr¨umt, was nicht a mich allein angeht. Der Traum geh¨rt n¨mlich zu anderen, fr¨heren, die ich o a u hatte und die er fortsetzt. Diese Tr¨ume sind es, Sinclair, aus denen ich die a Ahnungen habe, von denen ich dir schon sprach. Daß unsere Welt recht faul ist, wissen wir, das w¨re noch kein Grund, ihren Untergang oder dergleichen a

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zu prophezeien. Aber ich habe seit mehreren Jahren Tr¨ume gehabt, aus dea nen ich schließe, oder f¨hle, oder wie du willst – aus denen ich also f¨hle, u u daß der Zusammenbruch einer alten Welt n¨her r¨ckt. Es waren zuerst ganz a u schwache, entfernte Ahnungen, aber sie sind immer deutlicher und st¨rker gea worden. Noch weiß ich nichts andres, als daß etwas Großes und Furchtbares im Anzug ist, das mich mit betrifft. Sinclair, wir werden das erleben, wovon wir manchmal gesprochen haben! Die Welt will sich erneuern. Es riecht nach Tod. Nichts Neues kommt ohne Tod. – Es ist schrecklicher, als ich gedacht hatte.“ Erschrocken starrte ich ihn an. Kannst du mir den Rest deines Traumes nicht erz¨hlen?“ bat ich sch¨cha u ” tern. Er sch¨ttelte den Kopf. u Nein.“ Die T¨re ging auf und Frau Eva kam herein. u Da sitzet ihr beieinander! Kinder, ihr werdet doch nicht traurig sein?“ ” Sie sah frisch und gar nicht mehr m¨de aus. Demian l¨chelte ihr zu, sie kam u a zu uns wie die Mutter zu ver¨ngstigten Kindern. a Traurig sind wir nicht, Mutter, wir haben bloß ein wenig an diesen neuen Zeichen ger¨tselt. Aber es liegt ja nichts daran. Pl¨tzlich wird das, was a o kommen will, da sein, und dann werden wir das, was wir zu wissen brauchen, schon erfahren.“ Mir aber war schlecht zumut, und als ich Abschied nahm und allein durch die Halle ging, empfand ich den Hyazinthenduft welk, fad und leichenhaft. Es war ein Schatten uber uns gefallen. ¨

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Anfang vom Ende
Ich hatte es durchgesetzt, noch das Sommersemester in H. bleiben zu k¨nnen. o Statt im Hause, waren wir nun fast immer im Garten am Fluß. Der Japaner, der ubrigens im Ringkampf richtig verloren hatte, war fort, auch der Tolstoi¨ mann fehlte. Demian hielt sich ein Pferd und ritt Tag f¨r Tag mit Ausdauer. u Ich war oft mit seiner Mutter allein. Zuweilen wunderte ich mich uber die Friedlichkeit meines Lebens. Ich war ¨ so lang gewohnt, allein zu sein, Verzicht zu uben, mich m¨hsam mit meinen u ¨ Qualen herumzuschlagen, daß diese Monate in H. mir wie eine Trauminsel vorkamen, auf der ich bequem und verzaubert nur in sch¨nen, angenehmen o Dingen und Gef¨hlen leben durfte. Ich ahnte, daß dies der Vorklang jener u neuen, h¨heren Gemeinschaft sei, an die wir dachten. Und je und je ergriff o mich uber dies Gl¨ck eine tiefe Trauer, denn ich wußte wohl, es konnte nicht u ¨ von Dauer sein. Mir war nicht beschieden, in F¨lle und Behagen zu atmen, u ich brauchte Qual und Hetze. Ich sp¨rte: eines Tages w¨rde ich aus diesen u u sch¨nen Liebesbildern erwachen und wieder allein stehen, ganz allein, in der o kalten Welt der anderen, wo f¨r mich nur Einsamkeit oder Kampf war, kein u Friede, kein Mitleben. Dann schmiegte ich mich mit doppelter Z¨rtlichkeit in die N¨he der Frau a a Eva, froh dar¨ber, daß mein Schicksal noch immer diese sch¨nen, stillen Z¨ge u o u trug. Die Sommerwochen vergingen schnell und leicht, das Semester war schon im Ausklingen. Der Abschied stand bald bevor, ich durfte nicht daran denken, und tat es auch nicht, sondern hing an den sch¨nen Tagen wie ein Falter an o der Honigblume. Das war nun meine Gl¨ckszeit gewesen, die erste Erf¨llung u u meines Lebens und meine Aufnahme in den Bund – was w¨rde dann kommen? u Ich w¨rde wieder mich durchk¨mpfen, Sehnsucht leiden, Tr¨ume haben, allein u a a sein. An einem dieser Tage uberkam mich dies Vorgef¨hl so stark, daß meine u ¨ Liebe zu Frau Eva pl¨tzlich schmerzlich aufflammte. Mein Gott, wie bald, o dann sah ich sie nicht mehr, h¨rte nicht mehr ihren festen, guten Schritt o durchs Haus, fand nicht mehr ihre Blumen auf meinem Tisch! Und was hatte ich erreicht? Ich hatte getr¨umt und mich in Behagen gewiegt, statt sie zu a gewinnen, statt um sie zu k¨mpfen und sie f¨r immer an mich zu reißen! a u

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Alles, was sie mir je uber die echte Liebe gesagt hatte, fiel mir ein, hundert ¨ feine, mahnende Worte, hundert leise Lockungen, Versprechungen vielleicht – was hatte ich daraus gemacht? Nichts! Nichts! Ich stellte mich mitten in meinem Zimmer auf, faßte mein ganzes Bewußtsein zusammen und dachte an Eva. Ich wollte die Kr¨fte meiner Seele zua sammennehmen, um sie meine Liebe f¨hlen zu lassen, um sie zu mir her zu u ziehen. Sie mußte kommen und meine Umarmung ersehnen, mein Kuß mußte uners¨ttlich in ihren reifen Liebeslippen w¨hlen. a u Ich stand und spannte mich an, bis ich von den Fingern und F¨ßen her u kalt wurde. Ich f¨hlte, daß Kraft von mir ausging. F¨r einige Augenblicke zog u u sich etwas in mir fest und eng zusammen, etwas Helles und K¨hles; ich hatte u einen Augenblick die Empfindung, ich trage einen Kristall im Herzen, und ich wußte, das war mein Ich. Die K¨lte stieg mir bis zur Brust. a Als ich aus der furchtbaren Anspannung erwachte, f¨hlte ich, daß etwas u k¨me. Ich war zu Tode ersch¨pft, aber ich war bereit, Eva ins Zimmer treten a o zu sehen, brennend und entz¨ckt. u Hufgetrappel h¨mmerte jetzt die lange Straße heran, klang nah und hart, a hielt pl¨tzlich an. Ich sprang ans Fenster. Unten stieg Demian vom Pferde. o Ich lief hinab. Was ist los, Demian? Es ist doch deiner Mutter nichts passiert?“ ” Er h¨rte nicht auf meine Worte. Er war sehr bleich, und Schweiß rann zu o beiden Seiten von seiner Stirn uber die Wangen. Er band die Z¨gel seines u ¨ erhitzten Pferdes an den Gartenzaun, nahm meinen Arm und ging mit mir die Straße hinab. Weißt du schon etwas?“ ” Ich wußte nichts. Demian dr¨ckte meinen Arm und wandte mir das Gesicht zu, mit einem u dunklen, mitleidigen, sonderbaren Blick. Ja, mein Junge, es geht nun los. Du wußtest ja von der großen Spannung ” mit Rußland –“ Was? Gibt es Krieg? Ich habe nie daran geglaubt.“ ” Er sprach leise, obwohl kein Mensch in der N¨he war. a Er ist noch nicht erkl¨rt. Aber es gibt Krieg. Verlaß dich drauf. Ich habe a ” dich seither mit der Sache nicht mehr bel¨stigt, aber ich habe seit damals dreia mal neue Anzeichen gesehen. Es wird also kein Weltuntergang, kein Erdbeben, keine Revolution. Es wird Krieg. Du wirst sehen, wie das einschl¨gt! Es wird a den Leuten eine Wonne sein, schon jetzt freut sich jeder aufs Losschlagen. So fad ist ihnen das Leben geworden. – Aber du wirst sehen, Sinclair, das ist nur der Anfang. Es wird vielleicht ein großer Krieg werden, ein sehr großer Krieg. Aber auch das ist bloß der Anfang. Das Neue beginnt, und das Neue wird f¨r u die, die am Alten h¨ngen, entsetzlich sein. Was wirst du tun?“ a

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Ich war best¨rzt, es klang mir alles noch fremd und unwahrscheinlich. u Ich weiß nicht – und du?“ ” Er zuckte die Achseln. Sobald mobilisiert wird, r¨cke ich ein. Ich bin Leutnant.“ u ” Du? Davon wußte ich kein Wort.“ ” Ja, es war eine von meinen Anpassungen. Du weißt, ich bin nach außen nie ” gern aufgefallen und habe immer eher etwas zuviel getan, um korrekt zu sein. Ich stehe, glaube ich, in acht Tagen schon im Felde –“ Um Gottes willen –“ ” Na, Junge, sentimental mußt du das nicht auffassen. Es wird mir ja im ” Grund kein Vergn¨gen machen, Gewehrfeuer auf lebende Menschen zu komu mandieren, aber das wird nebens¨chlich sein. Es wird jetzt jeder von uns in a das große Rad hineinkommen. Du auch. Du wirst sicher ausgehoben werden.“ Und deine Mutter, Demian?“ ” Erst jetzt besann ich mich wieder auf das, was vor einer Viertelstunde gewesen war. Wie hatte sich die Welt verwandelt! Alle Kraft hatte ich zusammengerissen, um das s¨ßeste Bild zu beschw¨ren, und nun sah mich das Schicksal u o pl¨tzlich neu aus einer drohend grauenhaften Maske an. o Meine Mutter? Ach, um die brauchen wir keine Sorge zu haben. Sie ist sicher, sicherer als irgendjemand es heute auf der Welt ist. – Du liebst sie so sehr?“ Du wußtest es, Demian?“ Er lachte hell und ganz befreit. ” Kleiner Junge! Nat¨rlich wußte ich’s. Es hat noch niemand zu meiner Mutu ” ¨ ter Frau Eva gesagt, ohne sie zu lieben. Ubrigens, wie war das? Du hast sie oder mich heute gerufen, nicht?“ Ja, ich habe gerufen– Ich rief nach Frau Eva.“ ” Sie hat es gesp¨rt. Sie schickte mich pl¨tzlich weg, ich m¨sse zu dir. Ich u o u ” hatte ihr eben die Nachrichten uber Rußland erz¨hlt.“ a ¨ Wir kehrten um und sprachen wenig mehr, er machte sein Pferd los und stieg auf. In meinem Zimmer oben sp¨rte ich erst, wie ersch¨pft ich war, von Demians u o Botschaft und noch viel mehr von der vorherigen Anspannung. Aber Frau Eva hatte mich geh¨rt! Ich hatte sie mit meinen Gedanken im Herzen erreicht. Sie o w¨re selbst gekommen wenn nicht– Wie sonderbar war dies alles, und wie a sch¨n im Grunde! Nun sollte ein Krieg kommen. Nun sollte das zu geschehen o beginnen, was wir oft und oft geredet hatten. Und Demian hatte so viel davon voraus gewußt. Wie seltsam, daß jetzt der Strom der Welt nicht mehr irgendwo an uns vorbeilaufen sollte –, daß er jetzt pl¨tzlich mitten durch unsere Herzen o ging, daß Abenteuer und wilde Schicksale uns riefen und daß jetzt oder bald der Augenblick da war, wo die Welt uns brauchte, wo sie sich verwandeln wollte. Demian hatte recht, sentimental war das nicht zu nehmen. Merkw¨rdig u

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war nur, daß ich nun die so einsame Angelegenheit Schicksal“ mit so vielen, ”” mit der ganzen Welt gemeinsam erleben sollte. Gut denn! Ich war bereit. Am Abend, als ich durch die Stadt ging, brausten alle Winkel ¨ von der großen Erregung. Uberall das Wort Krieg“! ” Ich kam in Frau Evas Haus, wir aßen im Gartenh¨uschen zu Abend. Ich war a der einzige Gast. Niemand sprach ein Wort von Krieg. Nur sp¨t, kurz ehe ich a wegging, sagte Frau Eva: Lieber Sinclair, Sie haben mich heut gerufen. Sie ” wissen, warum ich nicht selbst kam. Aber vergessen Sie nicht: Sie kennen jetzt den Ruf, und wann immer Sie jemand brauchen, der das Zeichen tr¨gt, dann a rufen Sie wieder!“ Sie erhob sich und ging durch die Gartend¨mmerung voraus. Groß und a f¨rstlich schritt die Geheimnisvolle zwischen den schweigenden B¨umen, und u a uber ihrem Haupt glommen klein und zart die vielen Sterne. ¨ Ich komme zum Ende. Die Dinge gingen ihren raschen Weg. Bald war Krieg, und Demian, wunderlich fremd in der Uniform mit dem silbergrauen Mantel, fuhr davon. Ich brachte seine Mutter nach Hause zur¨ck. Bald nahm auch u ich Abschied von ihr, sie k¨ßte mich auf den Mund und hielt mich einen u Augenblick an ihrer Brust, und ihre großen Augen brannten nah und fest in meine. Und alle Menschen waren wie verbr¨dert. Sie meinten das Vaterland und u die Ehre. Aber es war das Schicksal, dem sie alle einen Augenblick in das unverh¨llte Gesicht schauten. Junge M¨nner kamen aus Kasernen, stiegen in u a Bahnz¨ge, und auf vielen Gesichtern sah ich ein Zeichen – nicht das unsre – u ein sch¨nes und w¨rdevolles Zeichen, das Liebe und Tod bedeutete. Auch ich o u wurde von Menschen umarmt, die ich nie gesehen hatte, und ich verstand es und erwiderte es gerne. Es war ein Rausch, in dem sie es taten, kein Schicksalswille, aber der Rausch war heilig, er r¨hrte daher, daß sie alle diesen kurzen, u aufr¨ttelnden Blick in die Augen des Schicksals getan hatten. u Es war schon beinahe Winter, als ich ins Feld kam. Im Anfang war ich, trotz der Sensationen der Schießerei, von allem entt¨uscht. Fr¨her hatte ich viel dar¨ber nachgedacht, warum so ¨ußerst selten a u u a ein Mensch f¨r ein Ideal zu leben verm¨ge. Jetzt sah ich, daß viele, ja alle Menu o schen f¨hig sind, f¨r ein Ideal zu sterben. Nur durfte es kein pers¨nliches, kein a u o freies, kein gew¨hltes Ideal sein, es mußte ein gemeinsames und ubernommenes a ¨ sein. Mit der Zeit sah ich aber, daß ich die Menschen untersch¨tzt hatte. So a sehr der Dienst und die gemeinsame Gefahr sie uniformierte, ich sah doch viele, Lebende und Sterbende, sich dem Schicksalswillen prachtvoll n¨hern. a Viele, sehr viele hatten nicht nur beim Angriff, sondern zu jeder Zeit den festen, fernen, ein wenig wie besessenen Blick, der nichts von Zielen weiß und

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volles Hingegebensein an das Ungeheure bedeutet. Mochten diese glauben und meinen, was immer sie wollten – sie waren bereit, sie waren brauchbar, aus ihnen w¨rde sich Zukunft formen lassen. Und je starrer die Welt auf Krieg u und Heldentum, auf Ehre und andre alte Ideale eingestellt schien, je ferner und unwahrscheinlicher jede Stimme scheinbarer Menschlichkeit klang, dies war alles nur die Oberfl¨che, ebenso wie die Frage nach den ¨ußeren und a a politischen Zielen des Krieges nur Oberfl¨che blieb. In der Tiefe war etwas im a Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher von ihnen starb an meiner Seite – denen war gef¨hlhaft die Einsicht u geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte gekn¨pft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele, waren ganz zuf¨llig. u a Die Urgef¨hle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk u war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und t¨ten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu k¨nnen. o o Es k¨mpfte sich ein Riesenvogel aus dem Ei, und das Ei war die Welt, und die a Welt mußte in Tr¨mmer gehen. u Vor dem Geh¨fte, das wir besetzt hatten, stand ich in einer Vorfr¨hlingso u nacht auf Wache. In launischen St¨ßen ging ein schlapper Wind, uber den o ¨ hohen, flandrischen Himmel ritten Wolkenheere, irgendwo dahinter eine Ahnung von Mond. Schon den ganzen Tag war ich in Unruhe gewesen, irgendeine Sorge st¨rte mich. Jetzt, auf meinem dunklen Posten, dachte ich mit Innigkeit o an die Bilder meines bisherigen Lebens, an Frau Eva, an Demian. Ich stand an eine Pappel gelehnt und starrte in den bewegten Himmel, dessen heimlich zuckende Helligkeiten bald zu großen, quellenden Bilderfolgen wurden. Ich sp¨rte an der seltsamen D¨nne meines Pulses, an der Unempfindlichkeit u u meiner Haut gegen Wind und Regen, an der funkelnden inneren Wachheit, daß ein F¨hrer um mich sei. u In den Wolken war eine große Stadt zu sehen, aus der str¨mten Millionen o von Menschen hervor, die verbreiteten sich in Schw¨rmen uber weite Landa ¨ schaften. Mitten unter sie trat eine m¨chtige G¨ttergestalt, funkelnde Sterne a o im Haar, groß wie ein Gebirge, mit den Z¨gen der Frau Eva. In sie hinein u verschwanden die Z¨ge der Menschen, wie in eine riesige H¨hle, und waren u o weg. Die G¨ttin kauerte sich am Boden nieder, hell schimmerte das Mal auf o ihrer Stirn. Ein Traum schien Gewalt uber sie zu haben, sie schloß die Augen, ¨ und ihr großes Antlitz verzog sich in Weh. Pl¨tzlich schrie sie hell auf, und aus o ihrer Stirn sprangen Sterne, viele tausend leuchtende Sterne, die schwangen sich in herrlichen Bogen und Halbkreisen uber den schwarzen Himmel. ¨ Einer von den Sternen brauste mit hellem Klang gerade zu mir her, schien mich zu suchen. – Da krachte er br¨llend in tausend Funken auseinander, es u riß mich empor und warf mich wieder zu Boden, donnernd brach die Welt uber mir zusammen. ¨

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Man fand mich nahe bei der Pappel, mit Erde bedeckt und mit vielen Wunden. Ich lag in einem Keller, Gesch¨tze brummten uber mir. Ich lag in einem u ¨ Wagen und holperte uber leere Felder. Meistens schlief ich oder war ohne ¨ Bewußtsein. Aber je tiefer ich schlief, desto heftiger empfand ich, daß etwas mich zog, daß ich einer Kraft folgte, die uber mich Herr war. ¨ Ich lag in einem Stall auf Stroh, es war dunkel, jemand war mir auf die Hand getreten. Aber mein Inneres wollte weiter, st¨rker zog es mich weg. Wieder lag a ich auf einem Wagen und sp¨ter auf einer Bahre oder Leiter, immer st¨rker a a f¨hlte ich mich irgendwohin befohlen, f¨hlte nichts als den Drang, endlich u u dahin zu kommen. Da war ich am Ziel. Es war Nacht, ich war bei vollem Bewußtsein, m¨chtig a hatte ich soeben noch den Zug und Drang in mir empfunden. Nun lag ich in einem Saal, am Boden gebettet, und f¨hlte, daß ich dort sei, wohin ich u gerufen war. Ich blickte um mich, dicht neben meiner Matratze lag eine andre und jemand auf ihr, der neigte sich vor und sah mich an. Er hatte das Zeichen auf der Stirn. Es war Max Demian. Ich konnte nicht sprechen, und auch er konnte oder wollte nicht. Er sah mich nur an. Auf seinem Gesicht lag der Schein einer Ampel, die uber ihm an ¨ der Wand hing. Er l¨chelte mir zu. a Eine unendlich lange Zeit sah er mir immerfort in die Augen. Langsam schob er sein Gesicht mir n¨her, bis wir uns fast ber¨hrten. a u Sinclair!“ sagte er fl¨sternd. u ” Ich gab ihm ein Zeichen mit den Augen, daß ich ihn verstehe. Er l¨chelte wieder, beinah wie in Mitleid. a Kleiner Junge!“ sagte er l¨chelnd. a ” Sein Mund lag nun ganz nahe an meinem. Leise fuhr er fort zu sprechen. Kannst du dich noch an Franz Kromer erinnern?“ fragte er. Ich zwinkerte ihm zu, und konnte auch l¨cheln. a Kleiner Sinclair, paß auf! Ich werde fortgehen m¨ssen. Du wirst mich vielu ” leicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. Wenn du mich dann rufst, dann komme ich nicht mehr so grob auf einem Pferd geritten oder mit der Eisenbahn. Du mußt dann in dich hinein h¨ren, dann merkst du, daß o ich in dir drinnen bin. Verstehst du? – Und noch etwas! Frau Eva hat gesagt, wenn es dir einmal schlecht gehe, dann solle ich dir den Kuß von ihr geben, den sie mir mitgegeben hat . . . Mach die Augen zu, Sinclair!“ Ich schloß gehorsam meine Augen zu, ich sp¨rte einen leichten Kuß auf u meinen Lippen, auf denen ich immer ein wenig Blut stehen hatte, das nie weniger werden wollte. Und dann schlief ich ein. Am Morgen wurde ich geweckt, ich sollte verbunden werden. Als ich endlich richtig wach war, wendete ich mich schnell nach der Nachbarmatratze hin. Es

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lag ein fremder Mensch darauf, den ich nie gesehen hatte. Das Verbinden tat weh. Alles, was seither mit mir geschah, tat weh. Aber wenn ich manchmal den Schl¨ssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, u da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur uber den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, ¨ das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und F¨hrer. u

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