NZZ Folio 08/08 - Thema: Was wäre wenn . . .   Inhaltsverzeichnis

Das Experiment - Der perfekte Psychotest

© Tom & Dee Ann McCarthy/Corbis/...
Kann er widerstehen? – Von der Antwort hängt seine Zukunft ab. Linktext
Im Jahr 1968 stellte der Psychologe Walter Mischel Kinder vor die Wahl: eine kleine Belohnung jetzt eine grosse Belohnung später. Wie genial dieser Test war, entdeckte er erst Jahre danach.

Von Reto U. Schneider

Angenommen, Sie müssten die Zukunft eines vierjährigen Kindes voraussagen. Ob es später gute Schulleistungen zeigt, viele Freunde hat, keine Drogen nimmt, eine harmonische Partnerschaft führt. Kurz: ob es sich zu einer stabilen, zufriedenen Persönlichkeit entwickelt. Was würden Sie tun?

Das Kind von Experten beobachten lassen? Es einem Intelligenztest unterziehen? Sein Gehirn scannen? Die Antwort ist viel einfacher: Machen Sie mit ihm den Marshmallow-Test: Lassen Sie ihm die Wahl zwischen einem Marshmallow sofort oder zwei Marshmallows später (falls es Mäusespeck nicht mag, nehmen Sie Schokolade). Je länger es bereit ist, auf die zwei Marshmallows zu warten, desto besser wird es sein Leben meistern.

Dass ein derart einfacher Test so viel leistet, war auch für seinen Erfinder Walter Mischel eine Überraschung. Die erstaunliche Voraussagegenauigkeit entdeckte der Psychologe fast zufällig und erst zwanzig Jahre nachdem er die ersten Experimente zum Thema Belohnungsaufschub gemacht hatte.

Mischel war 25 Jahre alt, als er im Sommer 1955 zum ersten Mal auf die Karibikinsel Trinidad reiste, wo er auch die ­folgenden drei Sommer verbrachte. Er ­begleitete seine damalige Frau, die Riten und Zeremonien der Einheimischen erforschte. Doch bald suchte er nach einer eigenen Beschäftigung.

Bei Gesprächen erfuhr er, wie die Inselbewohner übereinander dachten. In den Augen der Einwanderer aus Indien waren die afrikanischstämmigen Trinidader «dem Vergnügen zugetan, vor allem bestrebt, im Moment zu leben und nicht über die Zukunft nachzudenken». Umgekehrt hielten die Afrikaner die Inder für Arbeitstiere, die «das Geld unter der Matratze verstecken, ohne je den Tag zu geniessen».

Dass ihn die Frage interessierte, ob es besser sei, seinen Bedürfnissen sofort nachzugeben oder sie für ein höheres Ziel aufzuschieben, war kein Zufall. Nachdem er 1938 mit acht Jahren mit seiner Familie vor den Nazis aus Wien in die USA geflüchtet war, musste er viele seiner Bedürfnisse zurückstellen. «Aus einer mittelständischen Familie kommend, fand ich mich in den USA in extremer Armut wieder. Die Frage, wie man sich aus schwierigen Umständen hocharbeitet, wurde zu meinem Lebensthema.»

Dass die Fähigkeit zum selbstauferleg­ten Aufschub einer Belohnung ein wichtiger Teil der Reifung eines Menschen war, war schon lange postuliert worden. Geld sparen, eine Diät befolgen, eine Sprache lernen: Überall war diese Gabe gefragt. Wissenschaftliche Versuche dazu hatte jedoch noch niemand angestellt.

Also liess Mischel Schüler in Trinidad Fragebogen ausfüllen und sagte ihnen dann: «Ich möchte euch allen Süssigkeiten geben, habe aber nicht genug von den grossen Süssigkeiten mit dabei. Ihr könnt also heute die kleinere Süssigkeit bekommen oder bis nächsten Freitag warten, dann bringe ich euch die grosse.»

Dabei fand er zum Beispiel heraus, dass Kinder, die ohne Vater aufwuchsen, was bei den Afrikanern häufig war, oft nicht auf die grössere Belohnung warten mochten. Viele der afrikanischstämmigen Kinder zweifelten auch grundsätzlich daran, dass der weisse Experimentator tatsächlich mit den grossen Süssigkeiten auftauchen würde, und entschieden sich deshalb für die sofortige Belohnung.

1962 zog Mischel mit seiner zweiten Frau an die Westküste. Die Stanford University hatte ihm eine Stelle angeboten. Es waren seine drei kleinen Töchter, die ihm dort zu seiner grössten Entdeckung verhalfen.

Während des Versuchs eingeschlafen

1966 gründete die Universität Stanford auf ihrem Campus die Bing Nursery School, eine Kinderkrippe, die der Forschung diente. Dort führte Mischel zwischen 1968 und 1974 seine bekanntesten Experimente über die Mechanik des Belohnungsaufschubs durch.

Seine Versuchspersonen waren jünger als jene in Trinidad. Kinder zwischen vier und sechs Jahren sassen alleine vor einem Tisch im sogenannten Überraschungszimmer der Kinderkrippe, einem Raum, der durch einen Einwegspiegel einsehbar ist. Mischel hatte zuvor zwei unterschiedliche Belohnungen und eine Glocke auf den Tisch gelegt und den Kindern die Anweisung gegeben, er werde den Raum jetzt verlassen und lange nicht zurückkehren. Wenn sie bis zu seiner Rückkehr warteten, bekämen sie die grosse Belohnung. Wenn ihnen das zu lange dauere, könnten sie mit der Glocke klingeln. Er würde dann sofort zurückkommen. Dann allerdings würden sie nur die kleine Belohnung bekommen.

Das Verfahren scheint recht einfach zu sein, doch gab es viele Unwägbarkeiten. Wie lange sollte der Versuchsleiter maximal warten, wenn das Kind der Versuchung nicht erlag? In Vorstudien warteten einige Kinder eine ganze Stunde allein im Zimmer. Mischel beschränkte die Wartezeit schliesslich auf 20 Minuten.

Wie lange die Kinder bereit waren zu warten, hing natürlich auch von den Belohnungen ab. «Einmal legten wir ein M & M neben einen Beutel M & M, was dazu führte, dass die meisten Kinder ewig auf den Beutel warteten», erinnert sich Mischel. Waren sich Belohnungen aber zu ähnlich, nahmen die Kinder natürlich sofort die kleinere. In Vorversuchen wurde der Wert der Belohnungen so austariert, dass sie zu ungefähren Wartezeiten zwischen 0 und 20 Minuten führten. Weil Mischel dabei auch Marshmallows einsetzte, wurden die Versuche unter dem Namen Marshmallow-Test bekannt.

Durch den Einwegspiegel beobachtete Mischel, welche Strategien die Kinder anwendeten, um der Versuchung zu widerstehen. Einige hielten die Hände vors Gesicht, damit sie die Belohnung nicht anschauen mussten. Andere redeten sich zu: «Wenn ich noch ein bisschen länger warte, kriege ich es – er kommt jetzt sicher bald zurück – ich bin ganz sicher, er muss.» Wieder andere begannen zu singen oder erfanden Spiele mit ihren Händen und Füssen. Es gab sogar Kinder, die versuchten einzuschlafen – was einem tatsächlich gelang.

Mischel versuchte herauszufinden, was in den Köpfen der Kinder vorging, erforschte die Bedingungen, die das Warten erleichterten oder erschwerten. Weil auch seine Töchter die Bing Nursery School besuchten, waren auch sie unter den Versuchspersonen. Das war sein grosses Glück, denn von ihnen erfuhr er noch Jahre nach den Experimenten, wie es den anderen Kindern ging. «Hin und wieder fragte ich, wie geht es eigentlich Susie, oder, was macht George. Ich schrieb mir die Antworten auf und entdeckte einen verblüffenden Zusammenhang zwischen den Testresultaten und den Kommentaren meiner Töchter.» Wer beim Marshmallow-Test lange hatte warten können, war offenbar besser in der Schule und hatte auch sonst weniger Probleme.

Teil der emotionalen Intelligenz

Das brachte ihn auf die Idee, die Kinder dreizehn Jahre nach den ersten Experimenten noch einmal unter die Lupe zu nehmen.

Das Resultat war eine Sensation: Der im Alter zwischen vier und sechs Jahren absolvierte Marshmallow-Test sagte viele Eigenschaften der Kinder zehn Jahre später mit unerwarteter Genauigkeit voraus. Aus einem einzigen Messwert – Anzahl Sekunden, die ein Kind warten konnte – liess sich lesen, ob ein Kind später ausgeglichen und kooperativ war, ob es Initiative zeigte und welche Schulnoten es nach Hause brachte. Selbst als die Kinder längst erwachsen waren, liessen sich aus ihren frühen Testresultaten Selbstbewusstsein und Stressresistenz lesen.

Die Welt ausserhalb der Psychologie erfuhr von Mischels Marshmallow-Test aus Daniel Golemans 1995 erschienenem Bestseller «Emotional Intelligence». Goleman erhob die Fähigkeit, kurzfristigen Verlockungen für langfristige Ziele zu entsagen, zu einer der wichtigsten in der Lebensbewältigung. «Diese Fähigkeit ist wertneutral», sagt Mischel, «man braucht sie, ob man nun Mafiaboss werden will oder Gandhi.»

Erstaunlicherweise dauerte es fast vierzig Jahre, bis jemand der offensichtlichen Frage nachging, die Mischels Erkenntnis beinhaltete: Wenn Kinder, die im Test gut abschneiden, generell besser durchs Leben kommen, könnte man diese Fähigkeit dann nicht trainieren? Und wenn ja, auf welche Weise? Und würde sich dieses Training dann wirklich positiv auf das spätere Leben auswirken? Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub könnte auch genetisch bedingt sein.

Entsprechende Studien laufen im Moment an. Ihre Resultate werden wohl zu den wichtigsten gehören, die die Psychologie in Zukunft über die Erziehung gewinnen wird.

Bevor Sie nun mit drei Marshmallows und einer Stopuhr Ihrem Vierjährigen die Zukunft prophezeien, hier noch eine Warnung: Es gibt keine Tabelle, die Ihnen sagt, welche Zeit Ihrem Kind ein gutes Leben garantiert. Die hängt von der Versuchsanordnung und der Art der Belohnung ab und wäre überdies ohnehin nur als statistische Tendenz zu verstehen, die über den Einzelfall wenig aussagt.

Darüber bin auch ich froh, denn mein Vierjähriger würde ohne zu zögern die kleine Belohnung ergreifen und dann seine Mutter anflehen, bis sie ihm auch die grosse gäbe.

Reto U. Schneider ist stellvertretender Redaktionsleiter von NZZ Folio.



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