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Ungeklärte Mordfälle Der Tunnel ohne Licht

 ·  Zwei Wochen bevor Melanie Hickl ermordet wurde, hat sie ihrer Mutter gesagt, sie müsse vielleicht sterben. Es war Anfang April, bei einem Spaziergang am Frankfurter Berg. Kein Tag vergeht, an dem die Mutter nicht an jenen Spaziergang denken muss.

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Zwei Wochen bevor Melanie Hickl ermordet wurde, hat sie ihrer Mutter gesagt, sie müsse vielleicht sterben. Es war Anfang April, bei einem Spaziergang am Frankfurter Berg. Der Himmel war trüb an diesem Nachmittag, die Wolken hingen tief. Karin Hickl erinnert sich, dass sie fror. Sie hatte ihre Tochter angeschaut, in ihr mageres Gesicht gesehen, das in den vergangenen Wochen immer schmaler geworden war. Als sie ihre Tochter fragte, warum sie das glaube, hat die Zweiundzwanzigjährige mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Nur so.“ Dann hatte sie geschwiegen, war nach Hause gegangen und wollte allein sein. Nie wieder hat sie mit ihrer Mutter darüber gesprochen.

Im Wohnzimmer hängt ein Bild von Melanie Hickl. Eine Schwarzweißaufnahme in Großformat. Es zeigt ein lächelndes Mädchen, das seine langen blonden Haare über die Schultern fallen lässt und schüchtern in die Kamera blickt. „Genauso war sie“, sagt ihre Mutter, „sehr ruhig, aber meistens fröhlich.“ Karin Hickl sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer und raucht Mentholzigaretten. Auch sie ist dünn, weil sie nicht mehr schlafen kann, wie sie sagt. Kein Tag vergeht, an dem die Vierundfünfzigjährige nicht an jenen Spaziergang denken muss und an die Worte ihrer Tochter, die sie nicht deuten konnte – jedenfalls damals nicht.

Tabletten, um zu verdrängen

„Vielleicht“, sagt sie, „hätte ich ihr helfen können. Ich hätte sie immer wieder fragen sollen, warum sie glaube, dass sie sterben wird. Vielleicht hätte ich eine Antwort bekommen. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann.“ Karin Hickl raucht hastig. Ihre Augen sind gerötet, ihr Haar ein wenig zerzaust. Zwei Jahre lang hat sie Tabletten genommen, um zu verdrängen, was mit ihrer Tochter geschehen war. Dann hat sie einen Therapeuten aufgesucht und ihm die Geschichte von ihrer Tochter erzählt; dass sie in ihrer Wohnung erwürgt wurde – und dass sie, als Mutter, nicht ruhen kann, bevor der Täter bestraft worden ist.

Karin Hickl erfuhr gegen Mitternacht, was geschehen war. „Kommen Sie schnell her“, hatte der Freund ihrer Tochter in den Hörer gebrüllt, „es ist etwas mit Melli passiert.“ Schon von weitem sah Karin Hickl die Polizeiwagen vor dem Wohnhaus ihrer Tochter stehen. Weil die Beamten sie nicht in die Wohnung ließen, hockte sie sich auf den kalten Bordstein und starrte vor sich hin. „Was ist mit meiner Melli passiert?“, hörte sie den Freund ihrer Tochter schreien. „Was ist mit ihr passiert?“ Irgendwann in dieser Nacht ging Karin Hickl zu ihm: „Sag du es mir.“

Der Freund kam aus Afghanistan. Seit etwa sieben Monaten kannte Melanie ihn. „Eigentlich ein netter Junge“, sagt Karin Hickl. „Ruhig, freundlich, meine Tochter behandelte er gut.“ Dennoch habe ihre Tochter Angst gehabt, „vor irgendjemandem, der ihr schaden will“. Irgendwann habe Melanie sogar von Drohungen aus der Familie ihres Freundes erzählt, die sie als „Schlampe“ beschimpft und gewollt habe, dass die Beziehung zerbreche. Zudem habe es „entfernte Bekannte“ gegeben, die ihre Tochter zwar erwähnt habe, „aber mit einem seltsamen Unterton“.

Das Leben der Tochter rekonstruiert

Die Polizei hat damals unzählige Zeugen verhört. Menschen, die die junge Frau gut kannten oder sie an jenem 20. April 2004 noch gesehen haben auf dem Weg zum Tiercenter, wo sie am späten Nachmittag Futter für ihr Kaninchen gekauft haben soll. Eine Spur jedoch gab es nicht. Kriminalhauptkommissar Uwe Fey sagt, er habe selten so einen rätselhaften Fall gehabt wie diesen. Fey betreut die Akte Hickl und hat in dem Fall von Anfang an ermittelt. Sicherlich habe es Verdächtige gegeben, sagt er, aber die hätten ein Alibi gehabt. Irgendwann gingen ihm die letzten Hinweise aus, und dann stehe man in einem „Tunnel ohne Licht“.

Auch Karin Hickl kennt den Polizisten Fey. Oft hat sie ihn aufgesucht, in den ersten Wochen nach dem Tod ihrer Tochter sogar täglich. Zunächst, sagt sie, sei es nur der Zwang gewesen, Neuigkeiten zu erfahren; zu hören, ob es schon einen Hinweis gebe, wer ihre Tochter umgebracht haben könnte. Später suchte sie Fey im Polizeipräsidium auf, um selbst zu berichten, was sie herausgefunden habe. Sie habe nicht ruhen können, also habe sie das Leben ihrer Tochter rekonstruiert.

„Dann habe ich meine Ruhe“

Sie traf sich mit ehemaligen Freundinnen, durchforstete Briefe und durchsuchte Melanies Wohnung. Als sie etwa vier Monate nach dem Mord die Zimmer ihrer Tochter ausräumte, entdeckte sie, dass die Zweiundzwanzigjährige Schulden hatte und deswegen in einer Beratungsstelle war. „Es gab so vieles, das ich nicht wusste“, sagt Karin Hickl heute. „Und so vieles, das vielleicht noch herausgefunden werden muss.“ Fest steht für sie, dass ihre Tochter bedroht worden ist, „von irgendjemandem, der ihr Angst machte und sie unter Druck setzte – mit was auch immer“. Karin Hickl will diese Person finden. Dann, sagt sie, habe man vielleicht auch den Mörder.

Die Polizei hofft unterdessen auf neue Techniken, mit denen sich vielleicht jene Spuren finden lassen, die heute noch verborgen sind. Vielleicht werde der Täter auch eines Tage Reue zeigen und sich bei der Polizei melden, sagt Fey. Oder es gebe einen Mitwisser, der eines Tages verrate, wer das Leben des Mädchens beendet habe. Karin Hickl will sich nicht mit dieser vagen Hoffnung begnügen. „Ich weiß, die Polizei gibt nicht auf. Aber ich werde es auch nicht.“ Sie werde weiter suchen, bis sie das Leben ihrer Tochter mit all seinen Geheimnissen kenne. Und eines Tages werde jemand bestraft für diese Tat. „Dann habe ich meine Ruhe.“

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