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ARBEITSMARKT

Jung, gut und unerwünscht

Von Sontheimer, Michael

Hochqualifizierte türkischstämmige Akademiker wandern aus, weil sie sich in Deutschland missachtet fühlen - in anderen Ländern werden die Talente umworben.

Für das Bewerbungsgespräch bei einer großen Möbelfirma in der Nähe von Mönchengladbach hatte sich Oguz-Han Yavuz ordentlich in Schale geworfen: feiner Anzug, weißes Hemd, silberfarbene Krawatte. Als dem Betriebswirt der Bus vor der Nase wegfuhr, beschloss er, ein Stück zu Fuß zu gehen. Doch er kam nicht weit.

"Was lungern Sie hier herum?", sagt Yavuz, habe ihn ein Polizist angeherrscht, der seinen Streifenwagen neben ihm zum Stehen gebracht hatte. Obwohl Yavuz keineswegs wie ein Stadtstreicher aussah, bestand der Beamte darauf, dessen Personalien zu überprüfen. Nachdem er seinen Ausweis zurückbekommen hatte, sagte Yavuz "Tschüs". Der Polizist sagte nichts.

Das war der Moment, so erzählt es Yavuz, 30, in dem er genug hatte. Genug von diesem Land, genauer gesagt: genug davon, in diesem Land Türke zu sein. Er ist in Neuss geboren und besitzt seit 13 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber er hat eine dunklere Haut als die meisten Deutschen. Deshalb wird er beim Einkaufen oder in der Bank immer wieder gefragt: "Verstehen Sie Deutsch?"

Der Betriebswirt will nun das Land, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, verlassen. Er plant, in die Türkei auszuwandern. Sein älterer Bruder ist Pilot bei der Fluglinie Emirates und wohnt in Dubai. "Aber ich würde auch nach China gehen", sagt Yavuz. "Ob ich am Ende in Deutschland oder im Ausland Ausländer bin, spielt keine große Rolle."

Yavuz ist Teil einer Bewegung, die türkischstämmige Akademiker in Deutschland erfasst hat. Viele der klügsten Köpfe der rund 2,7 Millionen Menschen starken türkischen Community werden, wie einst ihre Eltern, zu Migranten - allerdings in entgegengesetzter Richtung: Sie kehren Deutschland den Rücken, weil sie sich hier unerwünscht fühlen und anderswo bessere Chancen sehen. Aus Kindern von Einwanderern werden Auswanderer.

Migration sei "wie ein Barometer für den Standort Deutschland", sagt der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet (CDU): "Attraktive Länder haben Einwanderer, weniger attraktive haben Auswanderer."

Das Krefelder Institut futureorg hat gerade 250 türkische und türkischstämmige Akademiker befragt, von denen knapp drei Viertel in der Bundesrepublik geboren wurden. Laut einer Zwischenauswertung erklärten 38 Prozent, sie wollten in die Türkei auswandern. Als Begründung gaben 42 Prozent an, in Deutschland fehle ihnen das "Heimatgefühl". Fast vier Fünftel bezweifelten, "dass in Deutschland eine glaubwürdige Integrationspolitik betrieben wird".

Ein "Armutszeugnis für Deutschland" nennt der Sozialwissenschaftler Kamuran Sezer, der die Umfrage leitete, die Ergebnisse, auch angesichts der Probleme auf dem Arbeitsmarkt: Erstmals seit vielen Jahren werde es dieses Jahr ein Überangebot an Lehrstellen geben, warnte Anfang vergangener Woche der Deutsche Industrie- und Handelskammertag.

Im globalen Wettlauf brauchen die westlichen Länder in Zeiten zurückgehender Geburtenraten junge, leistungswillige Migranten. Im Silicon Valley in den USA stammt mittlerweile bei jeder zweiten Technologiefirma ein Gründer aus einer Einwandererfamilie. "Wenn solche Leute das Land verlassen", so der amerikanische Publizist Fareed Zakaria, "dann geht die Innovation mit ihnen."

In Deutschland liegt die Zahl der Studierenden mit türkischem Hintergrund bei über 20 000. Dass mehr als ein Drittel der von dem Krefelder Institut befragten jungen Deutschtürken in die Türkei auswandern wollten, obwohl die meisten das Land nur von Urlaubsreisen oder Verwandtenbesuchen kennen, war für den Sozialwissenschaftler Sezer "eine große Überraschung". In jedem Fall zeigt die Untersuchung: Die meisten türkisch-deutschen Akademiker erleben sich als Fremde in ihrem Geburtsland. Wenn sie dann noch feststellen, dass bilinguale Akademiker in der Türkei, aber auch in anderen Ländern umworben werden, hält sie nicht mehr viel.

Solchen Emigranten den Weg zu einem attraktiven Job im Ausland zu ebnen, das hat Ediz Bökli, 34, zu seinem Beruf gemacht. Es ist ein florierendes Gewerbe. Der Diplompsychologe ist mit den beiden Angestellten seiner Personalberatung gerade in ein neues Büro in der Hauptgeschäftsstraße von Osnabrück gezogen. Bökli hat die Daten von rund 4000 in Deutschland sozialisierten türkischen Akademikern in seinen Computern.

Das Interesse an Jobs in der Türkei sei "sehr groß", berichtet er: Die Gehälter für Führungspositionen haben sich in der Türkei dem deutschen Niveau angenähert. Gleichzeitig ist das Leben dort billiger. Besonders Betriebswirte und Ingenieure werden gesucht. Die Firmen wollen Deutschtürken, die beide Kulturen kennen, beide Sprachen perfekt beherrschen - und die eine Arbeitsmoral haben, wie sie gemeinhin den Deutschen zugeschrieben wird. "Die Nachfrage nach diesem Personenprofil ist deutlich gestiegen", so die für Vermittlung in die Türkei zuständige Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit.

In Deutschland sei ein ausländischer Name bei Bewerbungen gewöhnlich ein Nachteil, sagt Bökli. Vor vier Jahren hatte er ein Vorstellungsgespräch bei einem sehr großen deutschen Unternehmen. Es lief gut, und deshalb war der Psychologe ziemlich erstaunt, als ihm der Personalchef absagte. Er habe zu den drei Besten gehört, erfuhr Bökli, "aber die Einheit besteht nur aus Deutschen, und da könnte es interkulturelle Probleme geben".

Bökli fördert nun als Personalberater einen Exodus, von dem er selbst sagt, es handle sich um "einen Braindrain, der für die türkische Community in Deutschland fatal ist". Eine "Katastrophe" nennt Integrationsminister Laschet den Aderlass: "Auch die türkische Gemeinschaft in Deutschland braucht Eliten und Vorbilder."

Denn die, die hier bleiben, das seien auf jeden Fall die Ungebildeten, die weder richtig Deutsch können noch richtig Türkisch. "Die bleiben schon deshalb", meint Bökli, "weil nirgendwo sonst ein vergleichbares Sozialsystem verfügbar ist."

Wissenschaftler des Essener Zentrums für Türkeistudien gehen davon aus, dass im Schuljahr 2004/05 viermal mehr Schüler mit türkischem Hintergrund Hauptschulen besuchten als Gymnasien. "Die Hartz-IV-Empfänger wandern nicht aus", sagt die Kölner SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün. Für sie ist die Abwanderung der Akademiker "ein Horrorszenario". Es verschwänden genau diejenigen, die Brücken zur deutschen Mehrheitsgesellschaft schlagen könnten.

Neben der Türkei stehen als Auswanderungsziele vor allem der Persische Golf und englischsprachige Länder hoch im Kurs. "Die Briten sind toleranter", sagt ein türkischstämmiger Unternehmensberater aus Mannheim. In Deutschland hat ihm sein Ex-Chef in einem großen Unternehmen einmal erklärt: "Sie können drei deutsche Pässe haben, für mich bleiben Sie ein Türke."

"Bildung hin oder her, man fühlt sich ausgegrenzt und nicht akzeptiert", sagt Eda Gökçen Yücel, 28, aus Bremen, die demnächst ihr Studium in Medizintechnik beenden wird und schon mehrere Angebote von türkischen Firmen hat.

Ein Betriebswirt aus Düsseldorf sah sich unlängst in New York nach Jobs um. "Nach einer Woche", erzählt er, "fühlte ich mich wie ein Amerikaner." In Deutschland fühlt er sich auch nach 26 Jahren nicht ganz heimisch. Hier suchte er auch, obwohl er sein Diplom mit 1,0 machte, wesentlich länger nach einem Job als deutsche Kommilitonen - die deutlich schlechtere Noten hatten.

Eine Erfahrung, die alle türkischstämmigen Akademiker verbindet - irgendwann fordern Deutsche sie mehr oder weniger unfreundlich auf: Geh doch wieder dahin, wo du herkommst.

Dilsad Budak, 27, die mit anderthalb Jahren aus Istanbul nach Deutschland kam, antwortet dann manchmal pampig: "Nein, ich hole alle meine Verwandten aus der Türkei hierher und bekomme noch dazu zehn Kinder."

Im vergangenen Jahr arbeitete die Rechtsreferendarin aus Düsseldorf vier Monate in einer Anwaltskanzlei in Istanbul. Sie bekam sofort mehrere gute Jobangebote. "In der Türkei wird deine Bikulturalität geschätzt", sagt sie.

Anfang kommenden Jahres, nach ihrem zweiten Staatsexamen, wird die Juristin höchstwahrscheinlich nach Istanbul gehen. Am Bosporus fühlt sie sich zwar auch als Ausländerin, "aber erwünscht". In Deutschland sei sie juristisch gesehen zwar Inländerin, "aber wenig erwünscht".

"Ich habe nicht die Absicht", sagt Cihan Batman, 40, "aus Istanbul wieder wegzugehen."

Er arbeitet seit anderthalb Jahren in Istanbul für Vodafone. Der in Stuttgart geborene Diplomkaufmann ist Deutscher, fühlt sich aber als europäischer Türke und genießt das Leben in der Metropole. Gelegentlich besucht Batman einen Stammtisch von nach Istanbul ausgewanderten Deutschtürken. Einmal im Monat treffen sich bis zu 50 Zuwanderer im Café einer Emigrantin aus Bochum.

Ein paar Dinge, haben die jungen Leute dabei festgestellt, vermissen sie in der Bosporus-Metropole dann doch. Eine Bratwurst zum Beispiel. Und natürlich deutschen Fußball, die Bundesliga.

MICHAEL SONTHEIMER


DER SPIEGEL 21/2008
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