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Quo vadis, Strahlenschutz? von Prof. Dr. Klaus Becker, Berlin, 2006 09
Einleitende Zusammenfassung
Die Bewertung möglicher Gesundheitsrisiken durch Strahlenexpositionen im Bereich von weniger als etwa 100 mSv ist nicht zuletzt für eine breitere Akzeptanz der Kernenergie (einschließlich Entsorgung und möglicher Unfallfolgen) von erheblicher Bedeutung. Hier hat sich auf Grund der Entwürfe neuer Berichte und Empfehlungen durch renommierte Institutionen wie die Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP, das BEIR-Komitee der amerikanischen Akademie der Wissenschaften, Stellungnahmen dazu seitens der Französischen Akademien der Wissenschaften etc. eine grundsätzliche Diskussion um einen erforderlichen Paradigmenwechsel weg von der linearen Dosis-Wirkungshypothese ohne Schwellenwert (LNT) und der daraus abgeleiteten sog. Kollektivdosis und hin zu einem strahlenbiologisch sinnvolleren Konzept. Erkenntnisse über grundsätzliche Unterschiede in der biologischen Wirkung niedriger und höherer Dosen, aber auch die abschließende Beurteilung der radiologischen Folgen des Tschernobyl-Unfalles vermitteln dabei wichtige Einsichten.
Der Strahlenschutz in kerntechnischen Einrichtungen war bisher oft eher eine Routine-Serviceaufgabe zwecks strikter Einhaltung behördlicher Vorgaben mit dem Ziel, restriktiv festgelegte Grenzwerte noch möglichst weit zu unterbieten. Für das Verfolgen der wissenschaftlichen Entwicklung auf dem Gebiet der Wirkung kleiner und kleinster Strahlendosen blieb da nur wenig Zeit und eine kritische Hinterfragung der sachlichen Grundlage fand kaum statt. Deshalb scheint es angemessen, angesichts eines sich deutlich abzeichnenden Paradigmenwechsels in der Strahlenrisiko-Bewertung und in Ergänzung früherer Berichte an dieser Stelle (1,14) einen kurzen Überblick über einige neue Entwicklungen zu geben.
Wahrnehmung und Kosten des Niedrigdosis-Risikos
Zur Definition niedriger und niedrigster Strahlendosen gibt es noch keinen formellen internationalen Konsens. Die meisten Autoren sprechen bei weniger als 100-200 mSv, d.h. unterhalb der Schwelle nachweisbarer negativer Gesundheitseffekte, von niedrigen und unterhalb 10-12 mSv von niedrigsten Dosen. So werden in einer grundsätzlichen neuen Schrift der französischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie für Medizin zur Bewertung von Niedrigdosen (2) konservativ 100 mSv angenommen.
Leider ist eine rein sachliche Risikodefinition, etwa als Produkt aus Schadensgröße und Eintrittswahrscheinlichkeit, infolge einer Vielzahl komplizierender Faktoren hier nur bedingt anwendbar. Es gibt deshalb Modelle zur Quantifizierung des “gefühlten Risikos“ (3) unter Berücksichtung von
- Risikokontrolle (durch den Einzelnen kontrollierbar oder nicht),
- Nutzen (Risiko verursacht Nutzen für den Einzelnen oder nicht),
- Freiwilligkeit (Risiko freiwillig oder unfreiwillig),
- Schweregrad (von kleineren bekannten Risiken bis zu katastrophalen Ereignissen),
- Manifestierung (sofortige oder verzögerte Wirkung),
- Ursache (natürliche oder “künstliche“ Risikoquelle), etc.
U.a. stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Möglichkeit einer monetären Bewertung von Gesundheitsschäden. Selbst wenn man die umstrittene lineare Dosis-Wirkungsbeziehung (LNT), auf die noch zurückzukommen ist, als korrekt annimmt, bleibt das Risiko niedriger Dosen für die Volksgesundheit nach allen vorliegenden strahlenbiologischen zu vernachlässigbar, das Risiko für die Volkswirtschaft hingegen nicht. So errechnet sich ohne natürliche und medizinische Strahlenquellen für den Aufwand zur Vermeidung eines hypothetischen “Strahlentoden“ in der Nuklearindustrie ein monetärer Wert zwischen etwa 2 und 10 Mill. US$ (bis zu 40 Mill. US$), mit einem Mittelwert in England um 4 Mill. US$ (4).
Es sprechen Gründe dafür (5), dass dieser Wert mit steigendem Lebensalter sinkt. Nach einer Umfrage in Ontario liegt die “Willingness to Pay“ beispielsweise bei 70jährigen um 0.6 Mill. US$ (6)). Solche Summen sind recht hoch für die Hälfte der Menschheit mit weniger als 700 US$ Jahreseinkommen. Dort entsprechen 4 Mill. US$ mehr als 5.700 Jahreseinkommen, woraus sich interessante ethische Fragen ergeben. Solche Fragen stellen sich auch, wenn man die tatsächlich durch Strahlung in der Kerntechnik verursachten Todesfälle mit denen in anderen Arten der Stromerzeugung, z. B. im Bergbau, vergleicht.
Die LNT-Kontroverse
Mehrere Expertengremien, vor allem die International Commission for Radiological Protection (ICRP) mit einem SC-Bericht und das Committee for the Biological Effects of Ionizing Radiation (BEIR) der amerikanischen National Academy of Sciences mit dem Entwurf ihres BEIR VII-Berichtes haben sich kürzlich zur kanzerogenen Wirkung niedriger Dosen geäußert. Besondere Beachtung fand der Dokument-Entwurf ICRP 2005, der die letzten umfassenden Empfehlungen ICRP 60 aus dem Jahre 1990 ersetzen soll.
Es finden sich in diesen Entwürfen zwar vorsichtige Einschränkungen hinsichtlich der wissenschaftlichen Belastbarkeit der LNT-Hypothese und der daraus durch Multiplikation niedrigster Dosiswerte mit großen Bevölkerungszahlen abgeleiteten Risiken. So heißt es in dem Entwurf ICRP 2005, dass die “Kollektivdosis nicht als solche benutzt werden sollte, um Entscheidungen zu treffen. Für Entscheidungen ist eine hohe Dosis für wenige Personen nicht äquivalent mit einer niedrigen Dosis für viele Personen...“ und „eine zu betrachtende Dosismatrix sollte die Zahl der exponierten Individuen, Dosisverteilung hinsichtlich Zeit, Alter und Geschlecht berücksichtigen“ sowie die vage Bemerkung, dass “die Beziehung zwischen Dosis und gesundheitlicher Wirkung komplex ist“. Trotzdem wird aber letztlich entschieden, dass die Mittelung der absorbierten Dosis nur unter der Annahme von LNT möglich ist, da alle Einheiten im Strahlenschutz auf dieser Hypothese basieren. Zu ähnlichen Schlüssen kommen auch die anderen Berichte.
In ICRP wird eingestanden, dass diese Empfehlungen “nicht allein auf der Basis wissenschaftlicher Konzepte“ beruhen, sondern auf “weltweiten Entscheidungen von Regierungen, Gerichten und Volksbefragungen“ (7). Hier mischen sich eindeutig wissenschaftlich begründbare Sachfragen mit den fluktuierenden Stimmungslagen der “political correctness“ (8). Dies wird auch besonders deutlich in der zunehmenden Tendenz, hinausgehend über die bisher übliche Praxis künftig auch alle anderen tierischen und pflanzlichen Spezies in Strahlenschutzbetrachtungen einzubeziehen (ICRP 2005: “Es besteht ein Bedürfnis, die Natur von Risiken für andere Spezies zu erforschen“). Dieser modische Trend wird besonders von skandinavischer Seite gefördert, die ICRP gründete ein neues Komitee für solche und andere “ethische“ Fragen, und bei einschlägigen Konferenzen findet man immer häufiger Beiträge zur Strahlenempfindlichkeit von Regenwürmern und vielen anderen Tieren und Pflanzen, die bislang nicht als Gegenstand von Strahlenschutzbemühungen galten.
Die Meinung der Fachwelt
Wie voraussehbar, gab und gibt es zunehmend Bedenken gegen die Annahme von LNT und der daraus abgeleiteten Kollektivdosis in den Grenzwertfestlegungen der Regelsetzer, die sich u.a. in einer Serie von zweijährlichen internationalen Kongressen zum Thema „Wirkung niedriger und sehr niedriger Dosen ionisierender Strahlung auf die menschliche Gesundheit“ (Versailles 1999, Dublin 2001, Teheran 2003, Hamilton/Kanada 2005) und in speziellen Fachzeitschriften wie “Internat. J. Nonlinearity“ und „Internat. J. Low Dose“ artikulieren. Dabei konzentrieren sich die Bemühungen der Strahlenbiologen besonders auf interessante Effekte wie Apoptose, Bystander-Effekte, genomische Instabilität, strahleninduzierte Reparaturmechanismen etc. nicht nur auf zellulärer Ebene, sondern auch größere Strukturen wie Organe und Gesamtorganismus umfassend.
Als Ursachen dafür, dass trotz der Bemühungen einflussreicher Persönlichkeiten wie des letzten ICRP-Präsidenten Roger Clarke keine ernsthaften Verbesserung der alten Empfehlungen erfolgen, werden u.a. die bekannte behördliche Lethargie hinsichtlich der Änderung obsoleter Vorschriften, politische Interessen und Einflussnahmen in manchen Ländern, und ökonomische Interessen von Kreisen, die von der kunstvoll gezüchteten Radiophobie recht gut leben, vermutet. Dies hat auch innerhalb der ICRP zu erheblichen Kontroversen geführt, die bei der nächsten Sitzung im September 2005 in Genf zu einer Überarbeitung des Entwurfes führen sollen.
So waren im Internet bereits Ende 2004 über 200 überwiegend kritische Kommentare gegen den Entwurf ICRP 2005 zu finden. Der substantiellste ist der inzwischen auch in englischer Sprache vorliegende Bericht Nr. 2 der französischen Akademien (2), in dem auf der Basis von 306 vorwiegend neueren Literaturhinweisen die Gültigkeit der LNT-Hypothese in Frage gestellt, mit einer Darstellung der Auswirkung der Dosis-Effekt-Beziehung und daraus abgeleiteten Vorschlägen. Ein anderes Beispiel ist ein Brief des Direktors des Office of Science des U. S. Energieministeriums vom 15.07.05 an den Präsidenten der National Academy of Sciences, in dem es u.a. heißt: “Es ist bekannt, dass auf dem molekularen, zellulären und Gewebe- bzw. Gesamtorganismus-Level Reparaturmechanismen existieren, die geschädigte Zellen eliminieren und die Krebsentstehung unterdrücken. Neuere Studien belegen, dass die Wirkungsweise sehr niedriger Dosen grundsätzlich anders ist als die hoher Dosen.“
Als Hinweis auf die Meinung der Strahlenschutzfachleute in den USA kann auch eine (derzeit noch unvollständige) Meinungsumfrage eines Strahlenschutz-Informationssystems dienen (10). Von den Teilnehmern aus unterschiedlichen Bereichen des Strahlenschutzes sprachen sich nur 12 % für die Beibehaltung der LNT-Hypothese aus, jeweils etwa 40 % votierten für eine Schwellenbeziehung bzw. Hormesis, und 7 % für eine sublineare linear-quadratische Dosis-Wirkungsbeziehung. So fasste der Strahlenbiologe R. Mitchell die Situation kürzlich wie folgt zusammen: “LNT sollte durch LWT (= Linear with Threshold) ersetzt werden!“
Die Hormesis, die als Folge der Überlagerung von Schadens- und Defensivmechanismen im Organismus zu einer zunächst J-förmigen Dosis-Wirkungsbeziehung und einem Schwellenwert um 100-200 mGy führt, ist in letzter Zeit besonders durch die Arbeiten von L. Feinendegen et al. (11) strahlenbiologisch zwingend erklärt und von vielen Seiten experimentell bestätigt worden, nachdem sie zunächst in der Fachwelt unter dem Eindruck des primären DNA-Schadens mit einer gewissen Skepsis betrachtet worden war. Inzwischen hat sie jedoch auch in der Strahlenbiologie einen Platz gefunden, den sie auf vielen anderen Gebieten wie Pharmakologie und Toxikologie längst hat (so wurde kürzlich von E. L. Calabrese von der University of Massachusetts eine International Hormesis Society mit einer eigenen Fachzeitschrift gegründet). Es ist seit langem für alle erdenklichen Umweltnoxen bekannt, dass eine lineare Dosis-Wirkungsbeziehung eine seltene Ausnahme und keinesfalls die Regel darstellt, und kleine Dosen in den meisten Fällen zunächst biopositive Effekte auslösen (12). Schon Paracelsus wusste, dass es die Dosis ist, die das Gift macht. Warum sollte da die Strahlung eine Ausnahme und schon in unendlich kleinen Dosen schädlich sein?
Die Berichte und Empfehlungen der Vertreter des Strahlenschutz-Establishments, welche seit Jahrzehnten die Grundlagen für gesetzliche Maßnahmen liefern, wurden auch aus anderen Gründen kritisiert. So wird auf die fehlende demokratische Legitimation dieser sich weitgehend aus sich selbst heraus regenerierenden Gruppen vorwiegend verdienstvoller älterer Fachleute mit vielen personellen Überschneidungen zwischen den nationalen (z.B. NCRP) und internationalen (EU, IAEA, usw.) Gremien hingewiesen. Die hochentwickelte Kunst des selektiven Zitierens stößt nicht überall auf Verständnis: Befunde und Autoren, die dem offiziösen LNT-Dogma widersprechen, werden oft gar nicht oder abwertend zitiert, und es gibt begründete Vorwürfe hinsichtlich des Umganges mit epidemiologischen und statistischen Ergebnissen durch Auslassungen, Modifikation und/oder zielführende Interpretation unsicherer Befunde, die dann als Beweis für die LNT-Hypothese betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise eine neuere Arbeit von E. Cardis et al. zum Krebsrisiko von Beschäftigten in der Nuklearindustrie in die Kritik geraten.
Erschwerend kommt hinzu, dass es nationalen Behörden freigestellt ist, die ohnehin recht restriktiven Empfehlungen der ICRP noch weiter zu verschärfen. Der Entwurf eines deutschen “Radonschutzgesetzes“ bietet dafür ein anschauliches Beispiel: Von der ICRP werden für das Radon in Gebäuden Richtwerte bis zu 600 Bq/m³ zugelassen. In Deutschland galten bisher 250, in Finnland (mit einem Landes-Mittelwert von 100 Bq/m³) 400 Bq/m³, und die EU empfiehlt 200 Bq/m³. In Deutschland soll nun, mit wahrscheinlichen Gesamtkosten im Milliardenbereich, ein Weltrekord-Grenzwert von 100 Bq/m³ gesetzlich eingeführt werden. Man kann vermuten, dass dabei eine zielführende Beunruhigung der Bevölkerung im Interesse einer antinuklearen Politik wohlwollend in Kauf genommen wird (13).
Tschernobylfolgen
Bekanntlich werden als Hauptgründe, die gegen der Kernenergienutzung sprechen, vor allem genannt: (a) Hypothetisch angenommene, jedoch nicht nachweisbare Schäden durch niedrige Strahlendosen; (b) unsere dank politischer Behinderung immer noch „ungelöste“ Entsorgungsfrage; und (c) der Tschernobyl-Unfall als bisher einzigem KKW-Unfall, bei dem tatsächlich Strahlentote zu beklagen waren. In allen Fällen handelt es sich letztlich um die Bewertung von Niedrigstdosen. Trotz der hinreichend bekannten Fakten (15, 16, 20) wurden als Zahl der Strahlenopfer von Tschernobyl den vergangen nahezu zwei Jahrzehnten nicht nur in den Medien, sondern auch in der Politik immer wieder die unsinnigsten Zahlen gehandelt. In letzter Zeit hatte man sich auf einen Wert um 20.000 eingependelt. Hinweise (auch des Verfassers) auf die tatsächlichen Zahlen wurden selbst im kerntechnischen Kollegenkreis oft als unangemessene Verharmlosung angezweifelt.
Zur abschließenden Klärung dieser Frage fand mit dem Thema “Chernobyl: Looking Back to Go Forward“ am 06./07.09.05 bei der IAEA in Wien eine interessante Tagung statt. Sie war veranstaltet von acht UN-Unterorganisationen (wobei IAEA, WHO und UNDP die dominierende Rolle zufielen) sowie den Ländern Russland, Ukraine und Weißrussland. Es nahmen etwa 280 Delegierte aus 50 Ländern sowie Vertreter von etwa 20 NGOs, Journalisten und Beobachter teil. Die Vorträge, in denen die Ergebnisse von nahezu zwei Jahrzehnten intensiver internationaler Studien der Tschernobyl-Folgen zusammengefasst waren, wie auch zahlreiche Diskussionsbeiträge werden demnächst von der IAEA publiziert. Schon jetzt ist dort eine überaus lesenswerte 51-seitige Zusammenfassung (17) erhältlich.
Die Ergebnisse der umfassendsten Untersuchung eines technischen Unfalles, die je durchgeführt wurde (andere Bezeichnungen wie Katastrophe, Tragödie oder Desaster wurden von den Fachleuten aus naheliegenden Gründen nur selten benutzt), wurden im allgemeinem Konsens der anwesenden Fachleute vom Konferenzpräsidenten Burt Bennett (RERF Hiroshima) dahingehend zusammengefasst, dass es sich um ein Niedrigdosis-Ereignis handelte ohne weitreichende radiologische Folgen, d.h. ohne nachweisbare Erhöhungen der Leukämierate, von anderen Krebsformen außer der praktisch hundertprozentig heilbaren kindlichen Schilddrüsenkrebse, von genetischen Defekten usw. Belegt sind ca. 43 vermutlich hauptsächlich strahlungsbedingte Todesfälle, darunter 29 als Folge des akuten Strahlensyndroms und neun als Folge der erhöhten Schildrüsenkrebs-Inzidenz unter Kindern (wovon u.a. zwei der verstorbenen Kinder nicht behandelt und bei einem die Medikamente nicht verabreicht wurden).
Damit liegt die Todeszahl, um ein Beispiel aus einem anderen Bereich der Energiewirtschaft zu wählen, unter einem Durchschnittstag im globalen (60 Tote) (19) bzw. wenigen Tagen im chinesischen Steinkohlebergbau (2004 über 6.000 namentlich bekannte Tote). Andere Vergleiche, z. B. mit erheblichen und z. T. sachliche unbegründeten Strahlenexpositionen in der medizinischen Strahlendiagnostik, die in Deutschland im Jahr nach dem Unfall zehnfach höher lag als die kollektive Zusatzdosis durch Tschernobyl (18), sind bekannt. Selbst wenn man mögliche Sekundärkarzinome bei den Schilddrüsenfällen etc. berücksichtigt, dürfte sich die Gesamtzahl der “Strahlentoten“ bis zum Lebensende in der betroffenen Bevölkerungen im zweistelligen Bereich bewegen. Der Grund für eine deutlich verminderten Lebenserwartung unter den Männern und einer Vielzahl sozial-ökonomischer Probleme ist, und auch darüber bestand voller Konsens, an ganz anderer Stelle zu suchen: Vor allem sind es hoher Zigaretten- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Arbeitslosigkeit, sowie eine depressiv-initiativlose Einstellung etc. als Folgen sozialer Verwahrlosung.
Trotzdem fand sich in den Presseberichten über die Konferenz (z.B. in der FAZ am 6.9.05 unter dem Titel „Der geschrumpfte Atom-GAU“) noch die kaum nachvollziehbare Zahl von ca. 4000 “möglichen Todesopfern“. Auch andere Zahlen wurden mit dreistelliger Genauigkeit gehandelt von möglicherweise noch zu erwartenden, wenn auch grundsätzlichen nicht nachweisbaren “Strahlenopfern“ in einer Population mit Millionen normalerweise zu erwartenden Krebsfällen. Diese Zahlen, von E. Cardis und F. Mettler auf der Basis der umstrittenen LNT/Kollektivdosis-Hypothese errechnet, wurden bei den in Wien versammelten Fachleuten als “just politics“ bewertet. Stattdessen wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Hochdosis-Kurzzeitwerte von Hiroshima-Nagasaki-Überlebenden keinesfalls auf die Niedrigdosis-Langzeiteffekte im Tschernobyl-Umfeld übertragen lassen.
Es blieb die Frage, weshalb die relativ geringen Strahlenwirkungen des Tschernobyl-Unfalles eine solche nachhaltige publizistische Breitenwirkung erzielen konnten. Es gibt nach wie vor in Ost- und Westeuropa eine “Tschernobyl-Industrie“, die von der wirtschaftlichen Auswertung des Unfalles gut lebt. Hinzu kommen politisch-ideologische Interessengruppen, die den Unfall als Anti-Kernenergieargument instrumentalisieren.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass auf der Basis der in diesem Beitrag nur verkürzt dargestellten neueren Entwicklungen
- die extremen Kosten zur Dosisreduzierung im kerntechnischen Niedrigdosis-Bereich selbst bei Annahme einer schwellenfreien linearen Dosis/Wirkungsbeziehung (LNT) in einem extremen Missverhältnis zu eventuellen hypothetischen marginalen Gesundheitsfolgen stehen;
- durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegt ist, dass sich Hochdosiseffekte nicht auf die biologische Wirkung niedriger und niedrigsten Dosen extrapolieren lassen; und
- die überaus konservative und umstrittene LNT-Hypothese vielfach zur Behinderung der Kernenergienutzung instrumentalisiert wurde.
Aus diesen und Gründen wissenschaftlicher Korrektheit und intellektueller Redlichkeit scheint ein baldiger Paradigmenwechsel im Strahlenschutz dringend erforderlich.
Literatur
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- Academie des Sciences – Academie Nationale de Medicine, Ed. M. Tubiana et al., Dose-effect relationships and estimation of the cancerogenic effects of low doses of ionizing radiation, Nucleon Paris 2005, ISBN 2-84332-018-6
- Sandquist GM, Quantifying the perceived risk associated with nuclear energy issues, Int. J. Nucl. Energy Science and Technology 1/1, 61-67, 2005
- Jackson D, et al., A risk related value of spend for saving a statistical life, Proceed. 7th Internal Symp. Of the Society for Radiolog. Protect., U.K. 2005, in press
- EU Recommended Interim Values for the Value of Preventing a Fatality, Environment Cost Benefit Analysis (http://europa.eu.int/environment/enveco, 2001).
- Krupnick A, et al., Age, Health and the Willingness to Pay for Mortality Risk Reduction: A Contingent Survey of Ontario Residents, Resources for the Future Discussion Paper 00-37, Washington 2000
- Becker, K., ICRP 2005 – Much ado about nothing? Strahlenschutzpraxis
- Becker, K., Regulatory Low Dose Limits: From Science to Political Correctness?, Intern. J. Low Dose, im Druck
- Becker, K., Niedrigdosiseffekte und kein Ende, Strahlenschutzpraxis 4/2005,
- Keram, A. persönliche Mitt. Aug. 2005
- Feinendegen, L.E., and Neumann, R.D., Physics Must Join With Biology in Better Assessing Risk from Low-dose Irradiation. Radiat. Protect. Dos., in press
- Calabrese E., and R. Cook, Hormesis: How it could affect the risk assessment process. Human and Experiment. Toxicology 24, 265-270, 2005
- Becker, K., Das Strahlenschutzgesetz – Ein neuer deutscher Weltrekord? Strahlenschutzpraxis 1/2005, 65-69
- Becker, K, und E. Roth, Zur Wirkung kleiner Strahlendosen, atw 43/10, 616-620, 1998
- Becker, K., Zehn Jahre danach: Das Erbe von Tschernobyl, Elektrizitätswirtschaft 95/3, 94-98 (1996)
- UNSCEAR 2000 Report to the General Assembly, Sources and Effects of Ionizing Radiation, Vol. II, Annex J: Exposures and Effects of the Chernobyl Accident, 453-566, United Nations 2000
- Chernobyl Legacy: Health, Environmental and Socioeconomic Aspects, and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine. The Chernobyl Forum, IAEA/PI/A.87/05-28601, erhältlich von info@iaea.org
- Regulla, D.F., und H. Eder, Patient Exposure in Medical X-ray Imaging in Europe, Radiat. Protect. Dos. 114/1-3, 11-25, 2005
- Nuclear Reactions, IAEA Bulletin 47/1, 57, 2005-10-16
- Der Reaktorunfall in Tschernobyl, Informationskreis Kernenergie 2004 (ISBN 3-926956-48-8)
Die vorstehende Arbeit wurde veröffentlicht in atw 51. Jg. (2006) Heft 1 Januar, Seite 41 – 45
Zwei eitere Arbeiten von Prof. Becker zum Strahlenschutz finden Sie unter:
Eine kritische Diskussion zu den Gefahren radioaktiver Strahlen von Dr.Lutz Niemann finden Sie unter
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