Veggie Day: Wie man aus alten Fleischabfällen der »Bild«-Zeitung Nachrichten macht

Seit mehr als drei Jahren unterstützen die Grünen Vorstöße zur Einführung eines »Veggie Days« — einen Tag in der Woche, in dem es in Kantinen kein Fleisch gibt. Es gibt dazu diverse Fraktionsentscheidungen und Positionspapiere, Beschlüsse der Bundesdelegiertenkonferenzen 2010 und 2013. Der Wunsch findet sich im Wahlprogramm der Grünen, das im April beschlossen wurde:

Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein »Veggie Day« sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label für vegetarische und vegane Produkte.

Gestern hat die »Bild«-Zeitung das bemerkt. Und daraus eine typische, eine typisch falsche Überschrift gemacht:

Na gut. So macht die »Bild«-Zeitung halt Schlagzeilen und Politik.

Die »Nachrichten«-Agentur dpa bringt eilig eine Meldung zum Thema. Darin heißt es erstaunlicherweise nicht: »›Bild‹-Zeitung skandalisiert mit Jahren Verspätung längst bekannte Position der Grünen zum fleischlosen Tag in deutschen Kantinen«, was eine treffende Beschreibung der Neuigkeit wäre.

Stattdessen meldet dpa schon um kurz nach Mitternacht:

Künast will Veggie-Tag in Kantinen

Berlin (dpa) — Die Grünen wollen nach der Bundestagswahl einen fleischlosen Tag in Kantinen einführen. Wie die »Bild«-Zeitung (Montag) berichtet, soll an dem sogenannten Veggie Day einmal in der Woche ausschließlich vegetarisch und vegan gekocht werden.

Mit sieben Stunden (bzw. drei Jahren) Verspätung zieht AFP nach und meldet um 7:11 Uhr:

Grüne wollen fleischlosen Tag in deutschen Kantinen einführen

Die Nachricht beruht vollständig auf dem Inhalt des »Bild«-Zeitungs-Artikels.

Um 12:21 Uhr kann AFP etwas Neues vermelden: Den Inhalt der »Bild«-Zeitung von morgen.

Berlin, 5. August (AFP) — Der Grünen-Vorschlag zur Einführung eines »Veggie Days« in öffentlichen Kantinen kommt in der FDP nicht gut an: »Was kommt als nächstes: Jute-Day, Bike-Day, Green-Shirt-Day?«, kritisierte FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle in der »Bild«-Zeitung (Dienstagsausgabe).

Eine Dreiviertelstunde später liefert AFP einen Hintergrund samt Infografik: »Der Verzicht auf Fleisch hat verschiedene Spielarten — Flexitarier und Vegetarier in Deutschland auf dem Vormarsch«.

13:10 Uhr. dpa fasst die Berichte der »Bild«-Zeitung von heute und morgen sowie weitere Wortmeldungen von Politikern zusammen:

Bundesregierung und FDP warfen den Grünen Bevormundung der Bürger vor. Damit ist das Reizthema Ernährung im Bundestagswahlkampf angekommen.

(Die Frage, wo es vorher war und was es aufgehalten hat, beantwortet dpa nicht.)

Bis 15:54 Uhr dauert es, bis es der Agentur gelingt, ihren Kunden Fragen & Antworten unter der Überschrift »Es geht um die Wurst« anzubieten.

Andere Online-Medien sind inzwischen auch selbst in die »Bild«-Berichterstattung-Berichterstattung eingestiegen und halten sich dabei überwiegend an die alte »Der Preis ist heiß«-Regel: »Aber nicht überbieten!«

Der »Münchner Merkur« hat einige relevante Wortmeldungen seiner Kommentatoren zum Thema ausgewählt und zusammengestellt. Einer spricht von »Zwangsernährung«. Ein anderer, der sich »Gesetzloser« nennt, schreibt vom »Dogmatismus der Ernährungsreligiösen und selbsternannten Bessermenschen« und meint: »Was du freiwillig isst oder nicht isst, ist deine Privatangelegenheit.«

Die »WAZ« diskutiert gleich selbst in einem Pro & Contra ungefähr auf diesem Niveau.

n-tv.de stellt der Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke treudoof die Frage, ob der »Vorstoß von Renate Künast abgesprochen« gewesen sei. (Der Vorstoß, der, wie gesagt, im Wahlprogramm steht und jahrealten Beschlüssen der Partei entspricht.)

Die »Neue Westfälische« informiert die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung darüber, dass in ihrer morgigen Ausgabe stehen werde, dass CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe die Grünen-Forderung überraschend doof findet und sich mit den Worten zitieren lässt: »Der abstruse Vorschlag von Frau Künast ist ein weiterer Baustein für die grüne Bundes-Verbots-Republik: Jetzt wollen uns Trittin, Roth & Co. auch noch vorschreiben, was wir wann essen dürfen. Die CDU lehnt diese Bevormundungspolitik entschieden ab.«

Und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« schäumt in einem Kommentar: »Ein Veggie Day wäre unverschämt« — und spricht, ganz im Sinne der »Bild«-Schlagzeile, mit der alles begann, von einem »staatlichen Fleischverbot«.

Und ich frage mich:

Wenn die Anregung der Grünen, fleischfreie Tage in Kantinen einzuführen, so ein Aufregerthema ist — warum hat es dann niemand vorher in den Beschlüssen von Partei und Bundestagsfraktion entdeckt?

Kann ich davon ausgehen, dass in den Redaktionen der Nachrichtenmedien die Wahlprogramme der Parteien nicht gelesen werden?

Oder, wenn sie doch gelesen werden und die Redaktionen den Grünen-Vorschlag nur nicht so spektakulär und skandalös fanden: Warum ändern die Medien dann plötzlich ihre Einschätzung, nur weil die »Bild«-Zeitung anderer Meinung ist?

Für die »Nachrichten«-Agentur dpa ist eine Meldung, was die »Bild«-Zeitung zur Meldung macht. Die Redaktionen des Landes haben die Entscheidung über das, was eine Neuigkeit darstellt und was einen Nachrichtenwert hat, weitgehend an die »Bild«-Redaktion outgesourct. Sie trotten treuherzig hinterher und versuchen bestenfalls die Wellen zu reiten, die »Bild« produziert.

Im Ergebnis bestimmt das Blatt nicht nur, worüber »ganz Deutschland« diskutiert, sondern auch auf welchem Niveau. Konkret auf dem Die-Grünen-wollen-uns-das-Fleisch-verbieten-Niveau.

Ich weiß, dass nichts daran neu ist. Das macht es nur kein Stück erträglicher.

Nachtrag, 18:45 Uhr. Auch »Zeit Online« hat die Geschichte hinter der Hysterie aufgeschrieben.

Post von Wagner

– von Jens Oliver Haas, z. Zt. Australien* –

Berlin, 16.15 Uhr: Franz Josef Wagner wirkt erfrischt, nach fünf Stunden komatösem Schlaf. Das Sodbrennen ist heute mal erträglich, und die Stimmen im Kopf schweigen noch. Er lächelt. Sein Arzt hat ihm gesagt, dass er wohl bald eine neue Niere braucht — aber bis dahin funktioniert der Aquarien-Feinfilter von OBI sehr gut.

Beschwingt öffnet sich Wagner eine gute Flasche französischen Landwein. Ein feines Tröpfchen von 2011, gute Lage, nicht zu viel Tannin. Vorsichtig gießt er das Weißbierglas voll und setzt sich an die Schreibmaschine.

Liebe Annette Schavan! Es ist mir peinlich, Sie wegen des angeblichen Doktorklaus anzusprechen. Es ist, wie wenn man eine liebe, nette, ältere Dame an der Kasse bei Lidl verdächtigt.

Na, das ist ihm doch schon mal gut gelungen. Grinsend greift Wagner nach rechts und ins Leere. Nanu? Wann hat er denn das Weißbierglas zerschlagen. Und wo ist der gute Landwein? Und warum ist er nackt und riecht so komisch? Und warum ist es schon dunkel?

Fahrig greift Wagner nach dem Tetrapak mit billigem, italienischen Traubenurin und lässt sich die Plörre in den Hals laufen. Er hat schon mit 17 gelernt, den Schluckreflex zu unterdrücken — das kommt ihm jetzt zugute. Beim Absetzen schneidet er sich leicht an den zerbissenen Kanten des Tetrapaks. Irgendwann muss er sich eine neue Schere kaufen — auch wenn sie sie ihm sowieso sofort wieder weg nehmen. Da war doch was? Ach, richtig: Der Brief!

Mühsam fokussiert Wagner auf das Blatt… Wer hat denn den Mist geschrieben? Wer ist Schavan? Und wer ist dieser Doktor Klaus? Der Pfuscher, der ihm den Aquarienfilter eingesetzt hat? Die Schmerzen sind mörderisch. Konzentrier dich! Du kannt es doch, Hans-Jürgen! Ähhh… Franz Josef…

Sie haben ein wunderbares, unverheiratetes Lehrerinnengesicht. Ihre Frisur ist bubihaft. So kämmten sich Frauen vor 30 Jahren. Sie sind wie eine Cousine, die keinen Mann bekommen hat.

Wagner bricht weinend über der Maschine zusammen und staucht sich eine Rippe an der leeren Scharlachberg-Flasche. Er wirft sie zu den anderen. Alles kommt wieder hoch… die Familienfeier vor 30 Jahren… die unverheiratete Cousine mit dem Bubi-Kopf… der Apfelkorn… das Kind mit seinem Gesicht… die Schande.

Er schickt den Nachbarsjungen zu Lidl, zwei neue Flaschen Queen-Margot-Whisky kaufen. Warum kann er sich nur diesen Namen merken? Es gibt so gute Sachen da… zum Beispiel diesen einen Cognac… oder den mit dem Wildschwein… aber er kommt nur auf Queen Margot.

Endlich kommt der Junge wieder. Die Tür ist blockiert… Wo kommt dieses Fässchen her? Wirf das Ding doch einfach durch die Scheibe! Wagner schneidet sich an einer Scherbe — aber Queen Margot streichelt ihm sanft die Schmerzen weg.

Um 23 Uhr kommt die korsische Putzfrau. Sie wischt die Kotze weg und bringt die Flaschen zum Container. Es ist nicht weit, Wagner hat ja seit 2003 einen eigenen im Hof.

Sie rollt Wagner ins Badezimmer und kärchert ihn ab, bevor sie den Notarzt ruft. Dann schreibt sie, wie immer, schnell die Kolumne zu Ende. Sie kann nur wenig Deutsch, aber dafür reicht es immer.

Ein paar Kolumnen hat sie ja auch schon komplett selbst geschrieben und es hat keiner gemerkt. Man muss nur einfach das aufschreiben, was man beim Einkaufen zuletzt gehört hat. Und vielleicht noch ein paar Sätze aus der Zeitung auf der Treppe. Wenn es zu lang wird, streicht der Drucker einfach was weg.

Wahrscheinlich essen Sie gerne Ziegenkäse.

Ich glaube nicht, dass Sie eine Betrügerin sind.

Wissenschaftler müssten untersuchen, ob ein Doktortitel ein Ersatz für Liebe ist.

Fuchs auf Schwanenjagd in Kanal erfroren.

Melanie mag ihren Popo.

Herzlichst, Ihr F. J. Wagner

*) Jens Oliver Haas ist einer der beiden Moderations-Autoren der RTL-Show »Ich bin ein Star — holt mich hier raus«, was offenbar kein tagesfüllender Job ist. Der Text stammt von seiner Facebookseite. Veröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

50 60 Jahre »Bild«

Zentrales Leitmotiv der Feierlichkeiten zum sechzigsten Geburtstag der »Bild«-Zeitung ist die Behauptung, das Blatt sei nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und die vielleicht am häufigsten diskutierte Frage ist die, wie sehr sich das Blatt verändert hat.

Entscheiden Sie selbst. Dies ist ein Artikel von mir aus der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, erschienen heute vor zehn Jahren.

· · ·

Nichts zu danken. Die »Bild«-Zeitung wird fünfzig Jahre alt — und alle, alle gratulieren. Doch gibt es was zu feiern?

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß einem Familienmitglieder wegsterben in einem furchtbaren Unfall und man am nächsten Tag nicht die paar Schritte von der Haustür zum Auto gehen kann, weil Fotografen und Reporter von der »Bild«-Zeitung am Grundstück lauern und einen verfolgen und fotografieren und wenig später anrufen und fragen, ob man sich wirklich ganz sicher sei, daß man nicht in einem Interview über die eigene Trauer reden wolle, weil man die Fotos von einem selbst und seinen Angehörigen veröffentlichen werde, so oder so, aber so wäre es vielleicht besser.

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man mit seinem Laster einen tragischen Unfall verursacht, der zwei Menschen das Leben kostet, um festzustellen, daß damit der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, sondern erst am nächsten Tag, als die »Bild«-Zeitung ein riesiges Foto von einem abdruckt und einen Pfeil und daneben die Schlagzeile: »Er hat gerade zwei Berliner totgefahren.«

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man vor Gericht steht, weil man möglicherweise als Handwerker einen Fehler gemacht hat und durch eine unglückliche Verkettung von Umständen ein Kind einen Stromstoß erleidet, der bleibende Schäden bei ihm auslöst, und am nächsten Tag sein eigenes Gesicht in der »Bild«-Zeitung sehen und daneben die Frage: »Hat der Elektriker Timmi auf dem Gewissen?«

Vielleicht würde es schon reichen, wenn man einmal erlebt hätte, wie das ist, als halbwegs prominenter Mensch von der Klatsch-Kolumnistin der »Bild«-Zeitung angerufen zu werden und sinngemäß gesagt zu bekommen: »Sag mir, mit wem du vögelst. Wenn du es mir nicht sagst, schreiben wir morgen, du vögelst mit XY.«

Wahrscheinlich wüßte man dann, daß die »Bild«-Zeitung lügt, wenn sie, wie gestern, schreibt: »,Bild‹ feiert Geburtstag. Ganz Deutschland freut sich, ganz Deutschland feiert mit.« Wahrscheinlich würde man dann versuchen, die Jubiläumsfeierlichkeiten in der »Bild«-Zeitung weiträumig zu umfahren. Und wahrscheinlich würde man dann verzweifeln, weil man feststellen müßte, daß »Bild« in diesen Tagen nicht nur Geburtstag hat, sondern heiliggesprochen wird, nicht nur von den angeschlossenen Springer-Blättern, nicht nur von den Konservativen und Staatstragenden, sondern auch von der halben liberalen Presse. Vor ein paar Jahren war es noch so, daß »Bild« bäh war; alle lasen sie, aber wer sich bekannte, es gerne und interessiert zu tun, war in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter. Heute ist es so, daß »Bild« cool ist; alle lesen sie, und wer sich bekennt, sie für ein entsetzliches menschenverachtendes Blatt zu halten, ist in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter.

Sie hat sich diese schillernde Oberfläche aus Nebensächlichem, Harmlosigkeiten und Selbstironie zugelegt, die Medienprofis und Intellektuellen gefällt. Die freuen sich über den Einfall, zum Fußball-Spiel am frühen Morgen die »Bild«-Zeitung mit zwei Titelseiten erscheinen zu lassen — je nach Sieg oder Niederlage. Sie interpretieren öffentlich, wie man das zu werten habe, daß die »Bild«-Zeitung, im kalkulierten Schein-Tabubruch, vor dem USA-Spiel schreibt: »Ami go home«, höhö. Sie sind süchtig nach dem täglichen Brief von Franz-Josef Wagner und neidisch auf seine Fähigkeit, den Wirrwarr in seinem Kopf ohne Umweg über Filter im Gehirn auf die Seiten fließen zu lassen. Sie schauen mit ein bißchen Abscheu und viel Faszination auf die Abgründe, die sich jeden Tag auf Seite eins auftun, auf die x-te Wendung im Uschi-Glas-Drama, staunen, wie »Bild« es an guten Tagen schafft, wenn man glaubt, nun könnte ihnen dazu unmöglich noch etwas einfallen, sogar mehrere Dauer-Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen und die Schicksale von Klaus-Jürgen Wussow, Uschi Glas und Ireen Sheer unendlich kunstvoll ineinander zu verweben.

Sie lesen die »Bild«-Zeitung, kurz gesagt, als Fiktion. Und die »Bild«-Zeitung fördert das, indem sie — selbstbewußt und selbstreflexiv, fest verankert im postmodernen und postideologischen Zeitalter — ihre eigene Rolle im Blatt zum Thema macht und zum Beispiel das endlos weitergedrehte Wussow-Scheidungsdrama selbst zur Soap erklärt und mit eigenem Logo »Die Wussows« samt Angabe der »Folge« versieht.

»Kampagnen« hat man dem Chefredakteur Kai Diekmann kurz nach seinem Amtsantritt vorgeworfen, und er hat das empört von sich gewiesen. So ein Unfug: Seit Diekmann Chefredakteur ist, finden auf der Seite eins der »Bild«-Zeitung fast ausschließlich Kampagnen statt — nur daß man sie, angesichts der Themen, eher »Fortsetzungsromane« nennen müßte. Jedes Thema wird über Tage, Wochen, Monate gar weitergedreht, bis auch die letzte dramaturgische Wendung und irre Pointe herausgepreßt ist. Im Februar standen an vierzehn von vierundzwanzig Erscheinungstagen die privaten Sorgen von Uschi Glas und ihrer Familie auf der Titelseite der »Bild«. Ein Thema so ernst zu nehmen verlangt einen gewissen Unernst, ein Augenzwinkern. Das ist hohe Kunst. Da staunt die Branche. Und lacht.

Ob es auch dem durchschnittlichen Leser gefällt, ist eine andere Frage. Ausgerechnet im ersten Quartal, jenem mit den Uschi-Glas-Trennungs-Festspielen, sackte die Auflage der »Bild«-Zeitung um 200 000 Stück gegenüber dem Vorjahr ab, ein Rückgang um heftige fünf Prozent. Diekmann erklärt das damit, daß die Leser nicht mehr abgezählte Groschen rüberschieben konnten, sondern nach Cent kramen mußten. Frage: Würde die »Bild«-Zeitung einem Wirtschaftsboß oder Minister diese Erklärung durchgehen lassen?

In einer Lobhudelei attestierte die »Welt« ihrem Schwesterblatt in der vergangenen Woche, daß »das heutige Blatt erheblich jünger und sexier wirkt als die Protestierenden von damals« (was natürlich kein Kunststück ist, da es Menschen ein bißchen schwerer fällt als Zeitungen, den Alterungsprozeß durch den Austausch von Chefredakteuren aufzuhalten). Die »Welt« weiter: »Die Intellektuellen haben aufgehört, sich über ›Bild‹ aufzuregen.« Das Furchtbare an diesem Satz ist, daß er in doppelter Hinsicht stimmt. Er beinhaltet nämlich auch die Analyse, daß es nicht die »Bild«-Zeitung ist, die sich verändert hat, zahmer geworden sei etwa, sondern die Intellektuellen diejenigen sind, die sich geändert haben. Die Orientierungspunkte haben sich verschoben, die Medienwelt insgesamt, nur deshalb ist »Bild« plötzlich kein Schmuddelkind mehr. Heute erzählt der nette Herr Röbel, der bis vor eineinhalb Jahren »Bild«-Chefredakteur war, im »Tagesspiegel« ganz offen, wie das geht, dieses Witwenschütteln, das ihm sein Chef beigebracht hat, über den er »nichts Schlechtes sagen« kann: »Hatte man etwa bei einem Unglück die Adresse von Hinterbliebenen herausgefunden, ist man sofort hingefahren, klar. Beim Abschied aber hat man die Klingelschilder an der Tür heimlich ausgetauscht, um die Konkurrenz zu verwirren. Ich war damals oft mit demselben Fotografen unterwegs, wir hatten eine perfekte Rollenaufteilung. Er hatte eine Stimme wie ein Pastor und begrüßte die Leute mit einem doppelten Händedruck, herzliches Beileid, Herr … Ich mußte dann nur noch zuhören. So kamen wir an die besten Fotos aus den Familienalben.… Es war einfach geil.«

Schwer zu sagen, ob all die Intellektuellen, die sich nicht mehr aufregen, all die liberalen Journalisten mit ihren Eigentlich-ist-sie-doch-gut-Artikeln zum Geburtstag, ob sie diese Methoden auch geil finden oder ob sich ihre »Bild«-Lektüre auf die witzigen, schrägen, spannenden ersten beiden Seiten, den Sport und den Klatsch am Schluß beschränkt. Dazwischen nämlich, vor allem in den Lokalteilen, läuft das Blut wie eh und je. Es vergeht kein Tag, ohne daß zum Beispiel »Bild Berlin« der Leserschaft die Beteiligten eines Unfalls, eines Prozesses, irgendeiner Tragödie mit großen Fotos zum Fraß vorwirft. Eine Viertelseite füllt das Foto von Christian S. neben der Schlagzeile: »Ich habe eine nette Oma totgefahren. Was ist mein Leben jetzt noch wert?« Verdächtige werden nicht dann zu Mördern, wenn sie verurteilt sind, sondern wenn »Bild« sie dazu erklärt: »Anna (7) in Schultoilette vergewaltigt. Er war’s« steht dann da und ein Pfeil und ein Bild, und im Text ist schon vom »Beweis seiner Schuld« die Rede.

Jeder Beteiligte wird abgebildet und trotz eines Alibi-Balkens über seinen Augen (den auch nicht alle bekommen) mit Vornamen, abgekürztem Nachnamen und Ortsangabe für sein Umfeld eindeutig identifizierbar. »Weil sie sich mit ihrem Freund amüsierte — diese Berliner Mutter ließ ihren Sohn verhungern«, »Dominik (15) erhängte sich auf dem Dachboden« — sie alle dürfen wir sehen. Es reicht schon, eine blinde Hündin ausgesetzt haben zu sollen, um mit Foto an den »Bild«-Pranger gestellt zu werden.

Das Blatt Axel C. Springers kämpft immer noch jeden Tag die alten Kämpfe. Wenn die PDS mitregiert in Berlin, schreibt »Bild«: »PDS krallt sich drei Senatoren-Posten«. Wenn Gregor Gysi Wirtschaftssenator wird, steht da an einem Tag die Frage: »Was wird jetzt aus Berlin« und an einem anderen Tag die Antwort: »Gute Nacht, Berlin« und nur ganz klein darunter in Klammern: « … sagt Edmund Stoiber«. »Neue Stasi-Akten über Gysi gefunden«, heißt die Überschrift neben einem Bild, auf dem man ihm den bösen Spitzel schon anzusehen glaubt, doch im Text sagt ein Sprecher der Gauck-Behörde nur: »Hier und da wurde noch ein Blatt über ihn gefunden« und der Autor ergänzt: »Ob brisant, dazu wurden keine Angaben gemacht«. Wenn es sein muß, wie vor einigen Monaten in Bremen, wird täglich neu gegen »Schein-Asylanten« gehetzt. Sexualstraftätern wird konsequent das Mensch-Sein abgesprochen; sie sind »Monster«, deren Leben »im Knast schöner« wird, »beinahe wie im Hotel«. Die Leser verstehen, ohne daß »Bild« es hinschreiben müßte: Ihre Zeitung kämpft täglich für die Todesstrafe für Kinderschänder und –mörder.

Nein, neu ist das alles nicht. Das ist es ja: Im Kern ist die »Bild«-Zeitung die alte. Ein entsetzliches, menschenverachtendes Blatt.

Bitter daran, daß dies von weiten Teilen der veröffentlichten Meinung nicht mehr so gesehen wird, ist auch, daß es Kai Diekmann ermuntert, ein Bild von seiner Arbeit und seiner Zeitung zu zeichnen, das höchstens in einem Springerschen Paralleluniversum Berührungspunkte zu dem hat, was täglich nachzulesen ist. Der Mann, dessen Zeitung vom Presserat immer wieder wegen der immer gleichen Verstöße gerügt wird, dieser Mann sagt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur: Die Grenzen des Boulevards seien dort, »wo Menschen verletzt werden könnten« — daher messe sich die Zeitung regelmäßig an den journalistischen Leitlinien des Deutschen Presserats. Messen schon, nur verfehlt sie sie regelmäßig.

Der »Frankfurter Rundschau« erzählt Diekmann: »Ich bin ein Streiter für journalistische Sorgfalt, gegen die Verluderung der Sitten.« Jeder Reporter müsse selbst entscheiden, wo die Grenzen sind, aber er sage ihnen: »,Lieber haben wir dreimal das Bild nicht, als daß wir den Angehörigen der Opfer zu nahe treten.‹ Schließlich sind das Menschen, die ohne eigenes Zutun ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind.« Das ist ein Satz, der so atemberaubend ist, daß er in jedes Schulbuch gehört. Und daneben der »Bild«-Artikel samt Foto von dem Maurer, der in seinem Dachstuhl verbrannt ist. Oder der »Bild«-Artikel samt Foto von dem dreizehnjährigen Unfallopfer: »Tot, weil er eine Sekunde nicht aufgepaßt hat«. Oder der »Bild«-Artikel samt Foto von dem Vizebürgermeister, der sich »in Pfütze totgefahren« hat. Oder der »Bild«-Artikel samt Foto von dem Achtzehnjährigen, der nach einem Unfall auf regennasser Straße im Auto seines besten Freundes starb.

Dann sagt Kai Diekmann der »Frankfurter Rundschau« noch dies: »Ganz im Ernst: Wer wirklich privat sein will, kann das selbstverständlich sein. Es gibt Menschen, Politiker, die setzen bewußt ihre Familie ein. Und andere, wie Günther Jauch oder Harald Schmidt, tun’s nicht. Die haben unbedingten Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre.« Wirklich privat wollte, nach eigenen Angaben, Alfred Biolek mit seinem Partner sein. Kai Diekmanns »Bild«-Zeitung gewährte ihm diese Ehre nicht. Zwei Tage lang zelebrierte sie eine Home-Story, die auch noch den Eindruck erweckte, sie sei von Biolek selbst initiiert. Wirklich privat wollte auch Anke S. sein, die Geliebte des Ehemanns von Uschi Glas. Anders als die »Luder«-Fraktion wollte sie entschieden nicht in die Presse, ging gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder vor, doch im Februar gab es Zeiten, in denen sie Tag für Tag auf der ersten Seite der »Bild«-Zeitung nackt abgebildet war, einen schwarzen Balken nicht über den Augen, sondern ihrem Busen, als wäre der das Merkmal, an dem sie zu erkennen wäre. Biolek und Anke S. gehen juristisch gegen die »Bild«-Zeitung vor, wie Hunderte Prominente vor ihnen. Einige bekommen vor Gericht recht, die meisten einigen sich irgendwie mit der Zeitung, weil Recht eine Sache ist, die Feindschaft der »Bild«-Zeitung eine andere.

Selbst einige von jenen, denen die »Bild«-Zeitung übel mitgespielt hat, haben ihre Einwilligung gegeben, daß der Verlag ihr Foto für die Jubiläums-Kampagne benutzen darf, die auf geschickte Weise offenläßt, ob »Bild« ihnen dankt oder sie »Bild« danken. Öffentlich nicht mitfeiern wollen nur die Wallraffs dieser Welt, die man leicht als Ewiggestrige, Miesepeter, Spielverderber darstellen kann. Ach, und vielleicht der ein oder andere Mensch, dessen privates Unglück so ungleich unerträglicher dadurch wurde, daß die »Bild«-Zeitung davon lebt, es der ganzen Nation zu zeigen.

Im Internet ist jeder Freiwild für »Bild«

Die Kollegen von Radio Eins hatten heute morgen Nikolaus Blome im Gespräch, den stellvertretenden »Bild«-Chefredakteur. Sie sprachen ihn auf die Berichterstattung über den gewaltsamen Tod einer jungen Frau in Berlin an. »Bild« hatte den Fall versehentlich mit dem Foto einer ganz anderen jungen Frau illustriert. Dieses Foto hatte »Bild« einfach aus deren Blog genommen.

Blome sagte, dass sei ein »Missgriff« gewesen, aber er halte das nicht für das grundsätzliche »Funktionsprinzip« von »Bild«. Das Gespräch ging so weiter:

Moderator: Unabhängig davon, dass es die falsche Person war: Ist es denn gut, dann einfach Fotos von irgendwelchen Internetseiten runterzuziehen? Statt zu versuchen, sich die von Angehörigen zu besorgen?

Blome: Na gut, dann hätten Sie uns vorgeworfen, wir würden irgendwelche Witwen schütteln, wie es früher hieß. Da sind wir in einer sehr grundsätzlichen Frage. Wenn Leute, Menschen — viele, viele Menschen offenkundig — ihr ganzes Privatleben im Internet ausbreiten, und das ist nun mal frei zugänglich, dann sind solche Folgen leider mit einzupreisen. Das heißt, dann müssen sich Menschen auch bewusst sein, dass sie sich öffentlich gemacht haben. Und das kann dann auch dazu führen, dass Zeitungen von diesen öffentlich zugänglichen Recherchefeldern, also zum Beispiel Facebook, also zum Beispiel Internet insgesamt, Gebrauch machen.

So ist das bei der Axel-Springer-AG. Der Konzern möchte kleinste Schnipsel, die er produzieren lässt, im Internet durch ein eigenes Recht schützen lassen, während sein wichtigstes Blatt Persönlichkeits– und Urheberrechte im selben Medium konsequent ignoriert.

(Man kann sich allerdings, wenn »Bild« vom Internet entsprechend »Gebrauch gemacht« hat, persönlich bei Dietrich von Klaeden von der Axel-Springer-AG beschweren, der sich dann nicht darum kümmert.)

Wo Kai Diekmann arbeitet, werden Fehler gemacht

»Bild«-Chefredakteur Kai Diekmann beherrscht eine Art Zaubertrick. Sein Standard-Vortrag, mit dem er vor einigen Jahren vor ihm gewogeneren Zuschauern auftrat, war in weiten Teilen ein Appell zur Selbstkritik. Er sagte darin Sätze wie: »Beim Boulevard ist Haltung und der Mut, Fehler einzugestehen, besonders wichtig.« Er zählte dann viele, viele Fehler auf. Kein einziger war von ihm.

Und wer nicht genau aufgepasst hat, ging mit dem Gefühl nach Hause, dass dieser Diekmann ein wirklich vorbildlich selbstkritischer Journalist ist, ohne dass er es tatsächlich sein musste.

Das habe ich vor zweieinhalb Jahren geschrieben, aber das kann man ja immer wieder schreiben. Man kann alles immer wieder schreiben.

Der Branchendienst turi2 stellt heute ein aktuelles Zitat von Diekmann heraus:

»Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Das heißt aber nicht, dass da, wo mit großen Buchstaben gearbeitet wird, zwangsläufig die Fehler größer sind.«

Es stammt aus einem Interview mit dem MDR und war Diekmanns Schein-Antwort auf die Frage: »Gibt es Entscheidungen, die Sie am Ende bereut haben? Wo Sie gesagt haben, okay, das hätte in unserer Zeitung so nicht stehen dürfen?«

Er nannte natürlich kein Beispiel. Die alte Masche funktioniert also immer noch. Er muss sie nicht einmal variieren.

»Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Das heißt aber nicht: Wer mit besonders großen Buchstaben arbeitet, macht deshalb auch größere Fehler als andere. Wenn Fehler gemacht werden, muss man dazu aber auch stehen.«

(Kai Diekmann, Juni 2012, im Interview mit dpa.)

»Dort, wo gearbeitet wird, werden auch Fehler gemacht. Das gilt für ›Bild‹ genauso wie für alle anderen Zeitungen und Medien. Fehler bei ›Bild‹ sind allerdings oft besonders auffällig, weil wir mit so großen Buchstaben arbeiten.«

(Kai Diekmann, März 2012, im Interview mit »Die Presse«.)

»Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Macht ›Bild‹ mal einen Fehler, ist es gleich eine bösartige Kampagne, wenn nicht gleich eine Fälschung. Fehler passieren allen.«

(Kai Diekmann, 2006, in einem Vortrag über den »Erfolg der Marke ›Bild‹«.)

»Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht, leider. Große Buchstaben bedeuten aber nicht große Fehler.«

(Kai Diekmann, 2005, im Interview mit Maria Ellebracht und Katrin Zeug für das »Trendbuch Journalismus«.)

Wo gearbeitet wird, da werden Fehler gemacht. Das heißt nicht, daß wo mit besonders großen Buchstaben gearbeitet wird, deshalb auch besonders große Fehler gemacht würden.

(Kai Diekmann, 2004, in einem Brief an seine Mitarbeiter.)

»Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht.«

(Kai Diekmann, 2001, im Interview mit dem »Spiegel«.)

Ich kann verstehen, wenn Kai Diekmann sich langweilt.

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