»Mit Blau kann man nichts falsch machen«

Der Presserat ist ein komischer Verein.

Vor ein paar Tagen gab er bekannt, die »Rheinische Post« wegen Schleichwerbung gerügt zu haben. Es geht um einen Artikel, der am 9. April 2011 unter der Überschrift »Urlaub im Luxusbus« erschienen ist:

Reisen mit komfortablen Bussen boomen. Die Touristen schätzen die Rundum-Betreuung und die vielfältige Auswahl. Meinhold Hafermann berichtet aus Erfahrung.

Er gehört zu den zehn größten Unternehmen dieser Branche in Deutschland, befördert jährlich rund 50 000 Urlauber, die an in ganz Nordrhein-Westfalen verteilten Haltestationen zu– und aussteigen, und machte 2010 satte 19 Millionen Euro Umsatz. Die Rede ist vom renommierten Busreiseveranstalter »Hafermann Reisen«. Von der Zentrale in Witten aus steuern Meinhold Hafermann (59) und seine Schwestern Christel und Monika den Familienbetrieb, der als Transportunternehmen mit einer Pferdedroschke Fahrt aufnahm und jüngst 100-jähriges Bestehen feierte.

Über zehn eigene Reisebusse, sechs davon gleichsam nagelneu, unterhält Hafermann, rund 1000 Busse chartert er jährlich hinzu. Jede Woche sind 50 bis 80 Busse im Auftrag des Witteners unterwegs zu touristischen Zielen.

Es folgen einige Informationen, die das Reisen mit modernen Bussen allgemein als angesagte und angenehme Urlaubsform darstellen, und der Hinweis auf die Telefonnummer und Internetadresse des Busunternehmens.

In derselben Ausgabe der »Rheinischen Post« habe das Busunternehmen eine Werbeanzeige geschaltet, auf die sich zudem ein Verlags-Gewinnspiel bezog, notiert der Presserat. Er beklagt »Schleichwerbung« und greift zum schärfsten aller stumpfen Schwerter, die ihm zur Verfügung stehen: die öffentliche Rüge.

Nicht nur das Wittener Busunternehmen Hafermann feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Auch »Nivea« wird 100.

Im April 2011 erscheint in der Zeitschrift »Brigitte Woman« unter der Überschrift »Ein Blau geht um die Welt« eine achtseitige Fotostrecke, die wie folgt anmoderiert wird:

Die Welt ist bunt. Aber es gibt da ein blaues Kosmetikprodukt, das findet man in nahezu jedem Land der Erde — und an den merkwürdigsten Plätzen. Eine Geschichte in Bildern.

Die Fotos, die teilweise direkt vom Hersteller der Creme stammen, zeigen »Nivea«-Werbung an verschiedenen Orten, zum Beispiel:

USA

Silvester 2010. In wenigen Stunden werden sich tausende von Menschen am New Yorker Times Square küssen — das Billboard empfiehlt dazu eine blaue Lippenpflege [von »Nivea«]

ÄTHIOPIEN

Fußball ist eine der populärsten Sportarten, Kopfschutz für die Zuschauer wichtig. Ein schwarzer Regenschirm? Nicht praktikabel. Besser: ein weißes Tuch Aber der Renner scheinen blaue Schirmmützen [von »Nivea«] zu sein

KENIA

Ein gutes Gefühl, wenn die Haut nicht mehr so trocken ist, weiß diese Reklameschönheit: eine Werbetafel [für »Nivea«] in Nairobi

Passend zu den plump-verdrucksten Bildtexten formuliert die Autorin im Text eine Ode scheinbar nicht auf die Creme, sondern auf die Farbe Blau:

Man muss sich mal vorstellen, die Welt wäre irgendwann einmal ausschließlich schwarz und weiß gewesen, vielleicht auch noch rot, gelb und braun. Und in diese Welt wäre dann einfach das Blau spaziert. Einfach, weil es Lust dazu hatte. Mensch, wäre das Blau erfolgreich mit seiner Welteroberung gewesen! (…)

In jeder Umfrage wird es von den meisten Menschen als Lieblingsfarbe genannt: Denn Blau steht für Freiheit, Ferne, Klarheit, Harmonie, aber auch bittersüße Sehnsucht. Mit Blau kann man nichts falsch machen (…).

In der Werbung steht ein dunkles Blau übrigens für Seriosität und für Vertrauen. Das sind überall geschätzte Werte — und vielleicht mit ein Grund, weswegen das sehr charakteristische Blau einer bekannten Kosmetikmarke in vielen Ländern der Erde so präsent ist, dass es ständig unvermutet auf irgendwelchen Reiseschnappschüssen auftaucht (…). Die Marke feiert übrigens in diesem Jahr 100-jähriges Jubiläum. Blau steht ja auch für Treue.

Am Ende der Fotostrecke steht ein Hinweis:

Noch mehr blaue Infos …
und viele Tipps zur Hautpflege gibt es unter
www.brigitte.de/pflegecoach

Die Seite, auf die der Link führt, ist »powered by NIVEA«.

In derselben Ausgabe von »Brigitte Woman« hat »Nivea« fast dreieinhalb Seiten Werbeanzeigen geschaltet.

Brigitte.de hat außerdem ein Gewinnspiel mit »Nivea« veranstaltet und »die schönsten NIVEA-Geschichten gesucht«. Die drei Gewinnerinnen durften auf einem Schiff die »NIVEA Skin Journey« mitmachen und bei der Gelegenheit der Kosmetik-Chefin von »Brigitte« und dem Leiter der Forschungsabteilung bei Beiersdorf, dem Konzern hinter »Nivea«, Fragen stellen, die wiederum im vermeintlich redaktionellen Teil auf brigitte.de veröffentlicht wurden.

Der Presserat sieht in der »Nivea«-Geschichte in »Brigitte Woman« keine Schleichwerbung; Redaktion und Werbung seien klar getrennt:

Wir sind der Meinung, dass es sich bei der Veröffentlichung um eine zulässige Markenstory handelt. Im Zuge des 100-jährigen Jubiläums von Nivea stellt die Redaktion dar, wie weit die Marke verbreitet ist. Dadurch wird die Internationalität der Marke dokumentiert. Unter diesem Gesichtspunkt konnten auch Bilder des Herstellers verwendet werden. (…) Gerade bei einer Marke wie Nivea ist es durchaus publizistisch zu begründen, wenn in einem redaktionellen Beitrag die weltweite Verbreitung aufgezeigt und dokumentiert wird.

Der Presserat hat nicht nur keine Rüge gegen »Brigitte Woman« ausgesprochen. Er befand die Beschwerde als so »offensichtlich unbegründet«, dass er sie schon bei der Vorprüfung aussortierte.

Observationen am offenen Herzen

Manches ethische Dilemma löst sich in der praktischen journalistischen Arbeit wie von selbst. Als der »Stern« im Juni vergangenen Jahres die über 200 Opfer des abgestürzten Airbus 447 im Bild zeigte, konnte das Blatt nach den Worten von Chefredakteur Andreas Petzold schon deshalb nicht die Genehmigung von Angehörigen oder Urhebern einholen, weil die Zeit dafür bis zum Redaktionsschluss viel zu knapp war. Und zeigen musste der »Stern« die ganzen Opfer im Bild, weil er seinen Lesern laut Petzold nur so das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich machen konnte.

Es ist vermutlich ein Fortschritt, dass der »Stern«-Chefredakteur sich überhaupt zu solchen Themen äußert. Im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winnenden hatte das Magazin Fragen nach der Herkunft der gezeigten Opferbilder und dem Einverständnis der Angehörigen noch mit dem Hinweis abgebügelt: »Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.«

Aber seit der »Stern« im Frühjahr berichtet hat, mit welchen Methoden eine Agentur für die »Bunte« das Privatleben von Politikern ausgespäht hat, ist das Magazin in der unwahrscheinlichen Rolle des Verteidigers journalistischer Standards. Und so ritt Petzold auf einem sehr hohen Ross in eine Diskussion über »Grenzen der Recherche im People-Journalismus — Anforderungen an eine ›lautere‹ Recherche«, zu der der Deutsche Presserat am Mittwoch in Berlin geladen hatte.

Es war ein Gipfel der Heuchler.

Patricia Riekel erklärte noch einmal, warum es ein öffentliches Interesse daran gegeben habe, Franz Müntefering auszuspionieren. (Das Wort »ausspionieren«, das Petzold benutzt hatte, verbat sich Riekel empört. Sie hätten »recherchiert«.) Dass der SPD-Politiker mit einer vierzig Jahre jüngeren Frau zusammen sei, mache »veränderte Akzeptanzen über Partnerschaften deutlich«, das seien Fragen, die »gesellschaftspolitisch relevant« seien. Außerdem erinnerte sie daran, dass Müntefering sich zuvor aus der Politik zurückgezogen hatte, um seine schwer kranke Frau zu pflegen. »Wenn ein Spitzenpolitiker mit einer so emotionalen Entscheidung an die Öffentlichkeit geht, öffnet er auch sein Herz, und das Publikum schaut hinein«, sagte Riekel. »Und dieses Interesse bleibt bestehen.«

Riekel forderte zu unterscheiden zwischen dem, was man recherchieren darf, und dem, was man veröffentlich darf. Sie betonte, dass die »Bunte« die bereits vorher ausgekundschaftete Beziehung von Müntefering erst öffentlich gemacht habe, als er selbst mit der Frau öffentlich aufgetreten sei. »Es darf keine Vorzensur geben, wenn einer Redaktion ein Verdacht oder ein Gerücht bekannt wird.«

Die Richtlinien zur Ziffer 4 des Pressekodex, auf die sich Riekel berief, erlaubt die »verdeckte Recherche« nur im Einzelfall, »wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind«. Aber was sind Informationen von besonderem öffentlichen Interesse? Hans Leyendecker von der »Süddeutschen Zeitung« nannte als Beispiel das Thema Tiertransporte, bei dem anders als durch Undercover-Recherche die wichtigen Informationen nicht beschafft werden könnten. Riekel erwiderte, sie persönlich interessiere sich auch sehr für Tiertransporte, »aber es gibt Menschen, die interessieren sich nun mal für andere Menschen. Das sei eine Frage des Standpunktes.«

Sie blieb dabei: Eine »Vorrecherche« bei Gerüchten müsse in jedem Fall möglich sein. (Auf spätere Nachfrage stellte sich heraus, dass sich eine »Vorrecherche« von einer »Recherche« dadurch unterscheidet, dass sie bei der »Bunten« so genannt wird.)

Nicolaus Fest aus der »Bild«-Chefredaktion überraschte Riekel und Publikum mit der Aussage, sein Blatt wäre Müntefering nicht wegen seiner neuen Liebe nachgestiegen. »Ich weiß nicht, was die politische Dimension dieser Geschichte sein soll. Es gab keine Protektion, es ist reine Privatsache.« Die Rede kam auch auf den Fall des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer: Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass es erlaubt war, seine Verhältnis zu einer Freundin, die auch ein Kind von ihm erwartete, öffentlich zu machen, weil Seehofer mit seinem intakten Familienleben Wahlkampf gemacht hatte und der Lebenswandel den Ansprüchen einer christlichen Partei widersprach. »Würden wir das auch bei einem Politiker machen, der freie Liebe propagiert«, fragte Fest und antwortete mit Nein.

Ein besonders bizarrer Nebenstrang der Diskussion beschäftigte sich mit freien Mitarbeitern. Die Diskussion um die Frage, welche Grenzen bei der Recherche des Privatlebens von Politikern im Auftrag von »Bunte« überschritten wurden, wird nämlich dadurch erschwert, dass die Illustrierte die Recherche (oder, wie sie sagen würde: »Vorrecherche«) an eine dubiose Agentur outgesourct hatte. Deshalb ist umstritten: Was die »Bunte« genau gewusst hat über das Vorgehen der Agenturleute, inwieweit sie dafür verantwortlich ist, aber auch, inwiefern schon die Auslagerung der Recherche ein Problem ist.

Riekel betonte, auf Outsourcing könne heute generell nicht verzichtet werden, aber die Freien müssten sorgfältig ausgesucht und kontrolliert werden. Die »Bunte« erarbeite gerade eine Art Verhaltenskodex, in dem sich die Freien zu »korrekten Recherchemethoden« verpflichten. Riekel hielt schon in ihrem Einführungsstatement ein ebenso flammendes wie rätselhaftes Plädoyer für die »30.000 Freelancer«, die »nicht besser oder schlechter« arbeiteten als festangestellte Journalisten. »Der Status entscheidet nicht über die Qualität eines Journalisten«.

Beim »Stern« sieht man das anders. »Das Kerngeschäft darf man nicht outsourcen«, forderte Petzold. In Bezug auf investigative Recherchen sagte er: »Jeder freie Mitarbeiter, den ich beschäftige, erhöht das Risiko.«

Nicolaus Fest hatte in der Diskussion neben Riekel und Petzold lange Zeit fast vernünftig und seriös gewirkt (er wies Petzold darauf hin, dass Freie vor allem bei Spezialthemen oft über Kontakte verfügten, die die Redaktion nicht habe, und formulierte in Bezug auf Recherchemethoden: »Der Zweck heiligt das Mittel, aber der Zweck muss stimmen«). Sein seinem Wesen eher entsprechende Einsatz kam erst, als es um Nicht-Prominente ging, um Menschen, deren Fotos Medien veröffentlichen, weil sie Opfer von Unglücken oder Verbrechen geworden sind. Zur »Love Parade« sagte er: »Die Leute, die dahin gingen, sind zu einem hohen Teil von Exhibitionismus oder Voyeurismus getrieben.« Er verstehe nicht das »merkwürdige Missverhältnis«, dass Menschen, die kein Problem haben, fotografiert zu werden, wenn sie dort ihre Brüste entblößen, andererseits nicht gezeigt werden wollen, wenn der Anlass ein »journalistischer« ist, weil sie nämlich zum Opfer des Unglücks wurden. Er beklagte hier eine »Instrumentalisierung des Persönlichkeitsrechtes wie bei Prominenten«: Man sei mit der Veröffentlichung von Fotos einverstanden, »solange es schöne Fotos sind«.

Den Leitfaden, den der Presserat gerade zur Berichterstattung über Amokläufe vorgelegt hat [pdf], nannte Fest »außerordentlich problematisch«. Er stößt sich schon am ersten Satz in der ersten Empfehlung, wonach die Redaktion »sorgfältig zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Geschehen und den Persönlichkeitsrechten des Täters abwägen« müsse. Fest hält eine solche Abwägung für absurd: Der Amoklauf bringe ein öffentliches Interesse mit sich wie kein anderes Verbrechen. Über den Täter soll man teilweise nur anonymisiert berichten dürfen, auf die Nennung von persönlichen Details über die Opfer soll ganz verzichtet werden: »Das ist ein massiver Eingriff in das Berichterstattungsrecht«, sagte Fest.

Bei allen Meinungsunteschieden — die Argumentationsmuster von Riekel, Fest und Petzold ähnelten sich frappierend: Wenn ihre spezielle Form der Sensationsberichterstattung nicht erlaubt sei, könne man gar nicht berichten und der Journalismus sei insgesamt bedroht. Natürlich konnte sich auch keiner von ihnen zu einem klaren Bekenntnis dazu durchringen, auf die ungenehmigte Verwendung von Privatfotos aus sozialen Netzwerken zu verzichten. Nach zwei Stunden Diskussion blieb der Eindruck: Journalistische Ethik ist für sie nicht mehr als der nachträgliche Versuch, Entscheidungen zu rechtfertigen, die man unter dem Druck von Zeit und Konkurrenz und nach dem Kalkül der Steigerung von Auflage und Aufmerksamkeit trifft.

Zum Glück war dann da aber noch Jürgen Christ, ein freier Fotograf aus Köln und ein Mann, dem Sonntagsreden fremd zu sein scheinen. Er achte »peinlich genau« darauf, die Gesetze einzuhalten — »aber nur aus praktischen Gründen«, um keinen Ärger mit der Justiz zu bekommen. »Jemandem mit dem Auto zu verfolgen, ist doch nichts verwerfliches«, sagte er, und auch am Anmieten einer gegenüberliegenden Wohnung zur Observation konnte er nichts verwerfliches finden — ob der Pressekodex solche »verdeckte Recherche« nun in der Regel untersagt oder nicht. Dass die Beschatter von Müntefering einen Bewegungsmelder in die Fußmatte einbauen wollten, fände er hingegen »nicht gut«: Es gebe doch praktische Kameras mit Bewegungsmelder!

Fröhlich erzählte er, wie er versucht hatte, ein Foto von dem Chefs eines Spendenvereins mit dessen Luxuswagen zu bekommen. Als tagelanges Observieren nicht half, bat er einen Taxifahrer, ganz dicht am Wagen vorbeizufahren, dann an der Tür zu klingeln und zu sagen, er habe da vielleicht eine Schramme verursacht. Der Mann hat zwar nur seinen Assistenten nach unten geschickt. Aber er hat aus dem Fenster geguckt, und Christ hatte sein Foto.

»Für wen arbeiten Sie so«, fragte Patricia Riekel ihn und kannte die Antwort natürlich. »›Spiegel‹, ›Focus‹, ›Stern‹, ›Bunte‹…«

Die Rügen-Routine, journalismusfrei

Alle drei Monate gibt der Deutsche Presserat die Rügen bekannt, die seine Beschwerdeausschüsse ausgesprochen haben. In knapper Form nennt er die Medien, beschreibt die Fälle und zitiert die Richtlinien des Pressekodex, gegen die sie verstoßen haben. Aus der Pressemitteilung machen dpa, andere Nachrichtenagenturen und die Branchendienste dann durch Kürzen und Umstellen einzelner Sätze Meldungen. Eine Recherche findet nicht statt.

Am Donnerstag war es wieder so weit. Die Pressemitteilung trug diesmal den Titel »›Erstklassige‹ Schleichwerbung: Presserat rügt Zeitung für Luxusflug-Reportage«. Die Agentur dpa behielt die Überschrift gleich bei und meldete: »Presserat rügt Zeitung für Luxusflug-Reportage«. Die Kollegen der Katholischen Nachrichtenagentur KNA entschieden sich für: »Presserat erteilt sechs Rügen«.

»Kress Report«, »W&V«, »Horizont«, »Meedia«, »DWDL« — sie alle verwursteten die Pressemitteilung zu Online-Meldungen, nicht ohne gelegentlich kleine Fehler einzubauen. Bei kress.de wurde aus der öffentlichen Rüge für die »Thüringer Allgemeine« eine nicht-öffentliche; bei horizont.net aus einer Rüge wegen Diskriminierung von Sinti und Roma eine wegen Verletzung der Intimsphäre. Die Ab– und Umschreibespezialisten von »Meedia« übernahmen beim Copy & Paste ganze Absätze der Pressemitteilung inklusive Flüchtigkeitsfehler (»Persönlichkeitsreichte«), missverstanden eine zeitlose Richtlinie aus dem Pressekodex als aktuelle Anspielung auf den Fall Robert Enke und personalisierten auf fast perfide Weise die Rüge für die »Thüringer Allgemeine«, indem sie so taten, als sei der »von der WAZ freigestellte und in der Diskussion als Qualitätsjournalist etikettierte« Ex-Chefredakteur Sergej Lochthofen persönlich getadelt worden.

Mit Ausnahme von horizont.net, die immerhin den Link zu einem der gerügten Artikel heraussuchten (aber absurderweise zur Illustration irgendeine »Welt am Sonntag« zeigen und nicht die Seite mit dem gerügten Text), hat keines dieser Medien in irgendeiner Weise selbst recherchiert.

Dabei hätte es nur wenige Minuten gedauert, die gerügten Online-Artikel zu ergooglen oder aus den Archiven zu suchen. Die Kollegen hätten sich die Artikel selbst durchlesen und sie mit eigenen Worten beschreiben können, anstatt sich auf die Formulierungen des Presserates verlassen zu müssen. Sie hätten sich ein eigenes Bild machen und die Urteile des Presserates, der ja nicht unfehlbar ist, kritisch würdigen können. Sie hätten merken können, dass die eine Werbegeschichte aus der »Welt am Sonntag«, die der Presserat gerügt hat, von einem nicht unbekannten Schriftsteller verfasst wurde. Sie hätten bei Edda Fels, der Kommunikationschefin von Axel Springer, nachfragen können, ob die »Welt am Sonntag« für den Bericht über die First Class von Singapore Airlines tatsächlich die Kosten von rund 9000 Euro selbst bezahlt hat, wie es ihre ach so strengen journalistischen Leitlinien vorschrieben. Sie hätten darüber stolpern können, dass die gerügten Online-Medien nur die Artikel aus ihren Print-Müttern übernommen haben, und beim Presserat nachfragen, warum er in solchen Fällen nicht beide Versionen rügt.

Es hat mich 15 Minuten gekostet, herauszufinden, wer der Bürgermeister und ehemalige Bundestagsabgeordnete ist, über den sein früherer Pressesprecher eine Abrechnung in der »Thüringer Allgemeinen« schreiben durfte. Vermutlich wäre das mit einem Anruf beim Presserat auch in drei Minuten zu erfahren gewesen.

Je nach vorhandenem Interesse und verfügbarer Zeit hätten sich mit einer Investition von wenigen Minuten oder zwei Stunden auf Grundlage der Pressemitteilung des Presserates interessante, relevante, lesenswerte eigene Artikel produzieren lassen. Stattdessen haben sich alle Mediendienste sowie die Nachrichtenagenturen dafür entschieden, nichts weiter zu tun, als die Pressemitteilung umzuschreiben.

Das ist typisch ist für die Art, wie in vielen (Online-)Redaktionen gearbeitet und auf die Möglichkeit verzichtet wird, sich mit geringstem Aufwand ein eigenes Bild zu verschaffen, sich von der Konkurrenz zu unterscheiden und, herrje: journalistisch zu arbeiten. Und ich glaube, dass sich das nicht nur mit Geld-, Zeit– und Personalnot erklären lässt. Es ist eine Frage des Handwerks. Und der Haltung.

Wenn einem journalistischen Medium die Mittel fehlen, mit einer Pressemitteilung mehr zu tun als sie zu kürzen, dann fehlen ihm die Mittel, ein journalistisches Medium zu sein. Und warum sollte es ökonomisch sinnvoll sein, zuverlässig dasselbe zu produzieren wie die Konkurrenz? Worin besteht der Mehrwert für den Leser?

Journalismus ist in einem erstaunlichem Maße durch das routinierte, fast mechanische Reproduzieren von Inhalten ersetzt worden. Ein Teil der Belegschaft ist ganz für die Arbeit am Content-Produktions-Fließband abgestellt, wo selbst der Gedanke an eine Mini-Recherche, wie in diesem Fall ein Link auf die gerügten Artikel des Presserates, abwegig ist.

Es ist ein Journalismus, dem das Interesse an seinem Gegenstand abhanden gekommen ist. Wer braucht den?

(Nein, dieser Text hat nicht die versteckte Botschaft: Seht her, wie toll wir das im Vergleich bei BILDblog machen. Ich ärgere und wundere mich nur jedesmal über den Umgang mit den Presserats-Meldungen und halte sie für ein besondes anschauliches Beispiel dafür, wie Journalismus bloß simuliert wird.)

Wer andern eine Grube gräbt, ist Journalist

Christoph Keese, Außenminister der Axel-Springer-AG und früher selbst Journalist, hat endlich eine langgesuchte Definition gefunden:

Wer Blogger ist und wer Journalist, ergibt sich aus dem Verhalten. Ein freier Blogger sollte »Journalist« genannt werden, wenn er objektiv, wahr, fair, ausgewogen und korrekt berichtet. Umgekehrt müsste ein meinungsstarker, aber rechercheschwacher Redakteur »Blogger« heißen, wenn er subjektive Eindrücke ohne Recherche verbreitet.

Keese hat einen Aufsatz für das Jahrbuch 2008 des Deutschen Presserates geschrieben, in dem er anregt, eine Grube für den Qualitätsjournalismus zu graben:

Genau dort, wo die Netzpessimisten durch das Seichte waten und am Internet verzweifeln, sollten sie mit dem Graben beginnen und einen tiefen See anlegen. Das Publikum kommt dann von allein. Handeln wird aber nur, wer genau weiß, was ihn von den Laien unterscheidet.

Man könnte Keeses Essay als ein Plädoyer für guten Journalismus und zum Beispiel für »die sorgfältige Redigatur über mehrere Stufen« durchaus sympathisch, konstruktiv und notwendig finden. Leider hat er sich allerdings dafür entschieden, als Gegensatz zu »gutem Journalismus« nicht »schlechten Journalismus«, sondern »Blogger« zu wählen. Wenn Keese dagegen von »Journalisten« spricht, meint er offenkundig nicht die real existierende Berufsgruppe, deren Ansehen ungefähr so schlecht ist wie das von Politikern, sondern ein fernes, golddurchwirktes Journalisten-Ideal:

Blogger blicken in sich hinein, Journalisten aus sich heraus. Blogger unterwerfen sich keiner Instanz, Journalisten bilden eine Instanz, die Wahres von Unwahrem unterscheiden will. Blogger akzeptieren keine fremden Regeln, Journalisten arbeiten nach Standards. (…)

Bloggern steht es frei, aufgeschnappte Gerüchte weiter zu verbreiten und damit Hysteriekaskaden in Gang zu setzen. Journalisten aber sollten keine Nachricht verbreiten, die sie nicht selbst geprüft haben. Journalismus ist die Schwelle, über die eine Hysteriewelle nicht springen kann.

Sogar Keese selbst scheint an dieser Stelle aufgefallen zu sein, wie wirklichkeitsfern diese Beschreibung ist, und so fügt er ein »Zugegeben« hinzu:

Zugegeben, in der Praxis sieht das manchmal anders aus. Aus der Unsitte, das Vermelden einer Nachricht durch ein anderes Blatt als das eigentliche Nachrichtenereignis anzusehen und ohne Prüfung der Urnachricht an die eigene Leserschaft weiter zu melden, ist mancherorts eine Sitte geworden. Trotzdem halten zahlreiche Redaktionen den Standard ein.

Beispiele dafür nennt Keese nicht.

Wehret den Anfängen!

Pressesprecher bei Springer ist vermutlich auch kein Traumjob. Die meiste Zeit verbringt man damit, auf Presseanfragen zu antworten, dass man zu laufenden Verfahren / Personalspekulationen / Interna / diesem Thema grundsätzlich nicht Stellung nehme.

So gesehen war »Bild«-Sprecher Tobias Fröhlich sicher froh, dass er gestern endlich einmal etwas Originelles sagen durfte:

»›Bildblog‹ handelt wie ein Abmahnverein und instrumentalisiert den Presserat für eigene kommerzielle Interessen«, sagte Verlagssprecher Tobias Fröhlich am 19. Februar dem epd. (…)

Fröhlich erklärte, es gehe dem Verlag nicht um die Anzahl der bisher von »Bildblog« eingereichten Beschwerden, sondern »um das Prinzip«. Durch das Aufkommen von Blogs sei eine ganz neue mediale Situation entstanden. Man müsse hier auch den Anfängen wehren, bevor sich Nachahmer fänden, die den Presserat missbräuchlich in Anspruch nähmen.

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