Beitrag aus dem Elbhang-Kurier 10/1996

Mutter Unger – Erinnerungen an vergangene Loschwitzer Gastlichkeit

Das Elbhangfest 1996 brachte Begegnungen mit Schulfreundinnen und -freunden – den Nesthockern und mit denen, die es jetzt wieder in die Heimat, unser geliebtes Dresden, zieht. Nach der Freude des Wiedersehens wurden Erinnerungen wach an unsere gemeinsame Schulzeit, die Tanzstunde, einige haben auch ihre Studienzeit in Dresden verbracht.

Wißt Ihr noch damals die Tanzstunde?

Oh ja! Ein Teil der Klasse fuhr mit der Standseilbahn hoch zum Luisenhof, um dort in die Tanzkünste eingeweiht zu werden. Die anderen „schwebten“ zur Loschwitzhöhe in gleicher Absicht. Schulbälle fanden im Hotel Demnitz statt und für Klassenfeten wurde der Ratskeller genutzt, der schon damals nicht mehr sehr einladend war.
Im „Grünen Baum“ oben an der Schillerstraße trafen sich die Jungs zum Skatspielen. Weitere beliebte Studenten- und Schülertreffs waren „Der Kamerad“ in der Grundstraße, das „Bauernstübl“ - Demnitz’ alte Gaststube -, der „Körnergarten“ unten an der Elbe und „Mutter Unger“ gleich hinterm Joseph Herrmann-Denkmal, das respektlos aber liebevoll vertraut Senf-Büchse genannt wird.
So zieht das Loschwitz der Nachkriegsjahre an uns vorüber, in der Erinnerung für uns ein Stück heile Welt - eine Idylle mit kleinen Wunden - in unserer zerbombten, geschundenen Heimatstadt.
Allmählich verschwanden in den folgenden Jahren so nach und nach fast all diese Lokalitäten, verkamen, wurden geschlossen und einige fielen unwiederbringlich dem Abriß zum Opfer.
Etwas Wehmut kommt auf, als wir vor dem 1735 erbauten Haus der Mutter Unger stehen, das noch ganz gut erhalten und auch bewohnt ist, doch seinen Charme und seine bunte Bemalung eingebüßt hat und wie ein grau-braunes Mäuschen hinter der großen Kastanie hockt.
Was haben wir hinter diesen kleinen Fensterchen, die wenig Licht in die kleine niedrige Gaststube ließen, an den blankgescheuerten Tischen gehockt und stundenlang geklönt. Manch einer der hochgeschossenen Schüler mußte sich beim Eintreten bücken und konnte in der Stube dann gerade mal so stehen. Einfach und spartanisch war die Einrichtung, aber es war gemütlich. Noch einfacher war so kurz nach dem Krieg das Angebot - Apfelsaft und Flaschenbier. Die oft zitierte und verspöttelte „Speisenkarte“ der Mutter Unger, die lediglich Butterbrot und Ziegenkäse bot, wäre zu dieser Zeit von allen knurrenden Mägen widerspruchslos akzeptiert worden.
Und wie sah es mit Wein aus? Nein, Wein gab es auch keinen und Loschwitzer „Weißen“ und „Roten“ schon gar nicht.
Die Weinernten gingen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts stark zurück und anstelle der Rebstöcke wurden immer mehr Obstbäume angepflanzt.

Diesem Umstand verdanken wir die Existenz von „Mutter Unger“,

denn den in der Ratsgemeinde Loschwitz ansässigen Böttcher Unger, der für die Winzer entlang des Elbhanges die Fässer fertigte und dabei gute Einnahmen hatte, traf der Rückgang der Weinernten ebenso hart, wie die Winzer selbst. Es wurde allmählich üblich, den Meister nicht mit Bargeld, sondern mit einem Faß „Roten“ und „Weißen“ zu entlohnen. Die rührige und findige Frau des Böttchers, eben Mutter Unger, erwarb 1835 das Schankrecht und besserte den Haushaltsetat dadurch auf, daß sie diesen Wein gläserweise im Garten vor dem Haus und in ihrer Wohnstube ausschenkte. Zu dem Zunftzeichen des Böttchers – dem Faß – kam nun das Schankzeichen – ein Glas im Reifen – über die Gartentür.
Zum hundertjährigen Bestehen von „Mutter Unger“ 1935 schilderte der Architekt Martin Pietzsch, der in der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu einem jüngeren Kreis von Kunstakademie-Studenten, Bildhauern und Architekten gehörte, die bei „Mutter Unger“ ihren Stammtisch hatten, anschaulich das Milieu:
„In der Stube stand rechts an der Tür ein alter Gläserschrank, worauf ein Zigarrenkasten mit 3- und 5-Pfennigzigarren plaziert war. Daneben lag eine Kleiderbürste, mit welcher die ,Mutter‘ liebevoll und mit landläufigen Redensarten die Rücken der Gäste bearbeitete, um das Mitnachhausenehmen der frisch geweißten Wand zu ver-hüten.
Neben dem Kachelofen tickte mit ewigem Hin und Her die alte immer nachgehende Wanduhr mit blanken Messinggewichten, buntbemaltem Zifferblatt und einem Schlagwerk mit durchdringender Tönung. In der Ecke der Nachbarwand fristete ein hochbeiniges Sofagestell mit aufgelegten harten Kissen – die sogenannte ,Flohbucht‘ – ein kümmerliches Dasein. Die vier Tische, einige gelbe Rohrstühle und eine Ofenbank hatten einen etwas unsicheren Stand auf dem weißgesandelten, um die Brettäste herum ausgetretenen Fußboden. Die Oberteile der Stubentürfüllungen waren herunterklappbar und dienten als Ventilationsöffnungen. Der Zigarrenrauch zog dann den schmalen Treppenlauf hinauf in die oberen Schlafräume der Familie. Um den ,geheimen Ort‘ zu erreichen, mußte eine kleine Wanderung über den Hof unternommen werden.
Nachdem der Loschwitzer Kirchner vom Bähr’schen Kirchturm aus Sonnenuntergang geläutet hatte, zog die Mutter die mit herrlich-bunten, phantastisch-südlichen Landschaften, mit Ritterburgen und glutenden Alpenbergen bemalten Rouleaus hinter den Pelargonien und dickblättrigen Meerzwiebelstöcken - der sogenannten ,Orangerie‘ - über die vier kleinen zweiflügeligen Fenster.
Die Petroleumschirmlampe am Fensterpfeiler wurde, nach vorausgegangener höchsteigenständiger Dochtreinigung durch den mutter-ungerlichen Zeigefinger, angezündet und entsprechend niedrig geschraubt, damit die alljährlich zum Pfingstsonnabend frischgekalkte niedrige Decke möglichst vor Verrußung verschont wurde. Bei der wohltuenden Schummerbeleuchtung war der ‘Rote’ vom ‘Weißen’ und die 3-Pfennig- von der 5-Pfennigzigarre, auch kaum die Butter vom Kümmelkäse zu unterscheiden.“

So war es zu Zeiten, als die „Mutter“ noch selbst die kleine Wirtschaft führte. Später übernahm deren Tochter den immer mehr zunehmenden Betrieb, die wiederum von ihren drei Kindern - zwei Töchter und ein Sohn - unterstützt wurde. Mit ihrem zweiten Ehemann, M. Bierstädt, führte die Tochter von Mutter Unger die Weinstuben weiter, wobei die Böttcherwerkstatt als zweiter Gastraum hinzukam. Hinzugekauft wurde auch das südlich angrenzende Grundstück und der Garten hinter dem Haus wurde für die Gäste geöffnet.
Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb die verwitwete Frau Hempel die Weinstuben. Sie erweiterte das Anwesen durch Kauf des benachbarten nördlichen Grundstückes an der König Albert-Allee.
„Ab 1934 war Herr A. Lange Pächter von „Mutter Unger“ und hat aus dem Weinausschank ein ausgezeichnet bewirtschaftetes Weinrestaurant gemacht“, schreibt Martin Pietzsch. „Man ißt wirklich nach der Karte, trinkt Bowle, ‘Kalte Ente’, Sekt, In- und Auslandsweine. Die Zeiten sind längst vorbei, wo es neben dem ‘Roten’ und ‘Weißen’ nur Butterbrot und Kümmelkäse gab.“
Letzte Wirtin nach 1945 war Anna Zöllner, der Grabstein auf dem Loschwitzer Friedhof nennt ihre Lebensdaten mit: 1890 bis 1981. Endgültig geschlossen allerdings wurden „Mutter Unger’s Weinstuben“ schon am 16. Januar 1970. Wenig bekannt ist darüber, welche prominenten Loschwitzer in diesen letzten Jahren bei „Mutter Unger“ verkehrten.
Vielleicht erinnern sich aber ältere Loschwitzer.

Stammtisch bei der „Mutter“

Überliefert ist, daß in den Jahren 1865 bis 1875 mehrere Schüler Ludwig Richters wie Hoff, Müller und Venus sowie Herren der bei Demnitz tagenden „Loschwitzklamm“ einkehrten. Die von dem Maler Professor Hermann Vogel ins Leben gerufene „Loschwitzer Kunstgenossenschaft“ traf sich in den Jahren 1878 bis 1883 allwöchentlich bei der „Mutter“. Zu ihr gehörten Maler, Bildhauer und Kunstfreunde. Man findet Namen wie Frank-Kirchbach, Albert Richter, Georg Estler jun., Emil Rieck, Max Thiele, Eduard Leonhardi, Ludwig Sturm aus Meißen, der Schriftsteller Wofgang Kirchbach sowie die Bildhauer Robert Ockelmann, Prof. Hölbe und Martin Engelke, die in dieser Zeit im Atelier von Johannes Schilling die Großplastiken für das Niederwalddenkmal schufen.
Martin Engelke war der Nestor eines neuen jungen Stammtisches, dem der Bildhauer Hannig, die Architekten Paul Latzig und Martin Pietzsch sowie die Maler Fortersreuter-Langendorst und Sander angehörten. Ebenso ge-hörte zu den Gästen die „rechte Hand“ von Gotthardt Kuehl, der Münchner Hofrat Paulus. Er bereitete die Kuehl’schen Kunstausstellungen vor und betreute sie.
Die Maler Max Pietschmann, Georg Jahn, Georg Müller-Breslau, R. Besig, von Hugo, Otto Tischer, Anton Pepino, Hermann Prell, die Bildhauer Martin Engelke, Peter Pöppelmann, Georg Gröne, P. Fabricius, Bruno Fischer und die Architekten Curt Diestel, Julius Graebner und Martin Pietzsch bildeten von 1894 bis 1898 einen neuen Künstlerkreis, der sich wöchentlich zum Stammtische in der Ungerschen Schankstube traf.
Viele Dresden und Loschwitz bewegenden Begebenheiten und Neuerungen wurden in der schummrigen Stube heiß diskutiert. So bezeichnet Martin Pietzsch diesen letzten Künstlerkreis und die „Unger-Kneipstube“ als Keimzelle der Planung des Künstlerhauses in der Pillnitzer Landstraße.
„Mutter Unger“ war in Loschwitz eine Instanz! Schade, daß sie uns nicht erhalten blieb.

Helga Oelker

Bild: Der Gastraum mit den zwei Fenstern zur „Bachseite“ (Friedrich-Wieck-Straße), um[]1920  Alle Fotos: Archiv M.[]Griebel, Archiv D.[]Fischer
Der Gastraum mit den zwei Fenstern zur „Bachseite“ (Friedrich-Wieck-Straße), um 1920

Alle Fotos: Archiv M. Griebel, Archiv D. Fischer
Bild: Die mit Malereien versehenen zwei Gebäude der Weinstuben mit dem Gästegarten in einem Aquarell von Arthur[]Funke aus dem Jahre[]1929 (auf einer Ansichtskarte)
Die mit Malereien versehenen zwei Gebäude der Weinstuben mit dem Gästegarten in einem Aquarell von Arthur Funke aus dem Jahre 1929 (auf einer Ansichtskarte)
Bild: Blick vom Dorfplatz auf „Mutter[]Unger’s[]Weinstuben“, um[]1941
Blick vom Dorfplatz auf „Mutter Unger’s Weinstuben“, um 1941