Literatur und Sprache

Der Übersetzer "in Klammern"

Wolfgang Kubin bei der Übersetzungsarbeit © Mona Sun
Wolfgang Kubin © Mona Sun
Wolfgang Kubin © Mona Sun


Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Vortrag, den Prof. Dr. Wolfgang Kubin im April 2009 bei einem Übersetzer-Symposium in Dallas/USA in englischer Sprache gehalten hat.
 
Heute möchte ich einige Betrachtungen über die Übersetzung von Texten und meine Erfahrungen als Übersetzer von vorwiegend chinesischer Gegenwartsliteratur anstellen. In der ersten Zeit meiner Übersetzertätigkeit habe ich mich trotz vieler Übersetzungen zunächst nicht als Übersetzer betrachtet. Es gibt zwei Gründe für diese ungewöhnliche Einstellung.

Erstens hasse ich es, andere zu übersetzen, die keine Ahnung davon haben, wie viel ich in Texte investiere, die ich manchmal für sehr zweifelhaft halte. Da ich selbst Gedichte, Erzählungen und Essays verfasse, bin ich häufig versucht, ein Werk zu verbessern, das ich nicht so gut finde. Weniger weil ich die Autoren bemitleide, sondern weil ich mich sorge, als schlechter Übersetzer kritisiert zu werden. Schlecht geschriebene Literatur, die in schwaches Deutsch übersetzt ist, fällt nicht negativ auf den Autor zurück.

Zweitens wird Übersetzungsarbeit selten als eigenständiger Beruf anerkannt. Für eine erfolgreiche Übersetzung gibt es mindestens zwei Voraussetzungen: Der Übersetzer muss seine Muttersprache beherrschen und ein tiefes Wissen über Sprachen, Literatur, Geschichte usw. besitzen. Es ist z.B. unmöglich, Bei Dao (北岛, geb. 1949) zu übersetzen, wenn man den spanischen Hintergrund seiner Poesie nicht kennt. Dasselbe gilt für Yang Lian (杨炼, geb. 1955). Ohne ausreichendes Wissen über die philosophischen Gedankengänge in seinen Werken entsteht nur unverständliches Geschreibsel in einer fremden Sprache.

Der chinesische Dichter Bei Dao, Foto: privat
Der chinesische Dichter Bei Dao

Bevor ich mich wirklich als leidenschaftlicher Übersetzer verstand, musste ich erst von anderen als solcher anerkannt werden, meistens von deutschen Autoren und Übersetzern, die Übersetzungen als wichtiges Mittel des Kulturaustauschs ansehen. Aber warum will ich als Übersetzer von Leuten anerkannt werden, die gar kein Chinesisch verstehen? Ich bin ein Mann voller Zweifel. Wer mit Sprache arbeitet, ist sich bewusst, dass Sprache an sich kein Ende kennt. Alles kann auf diese oder jene Weise gesagt werden, aber wie ist es richtig? Nachdem ich zwei Bände mit Yang Lians Gedichten veröffentlicht hatte, hatte ich kürzlich einen dritten Band vorbereitet. Der Suhrkamp Verlag bat mich, eine Auswahl seiner alten Gedichte und einige neue Übersetzungen zusammenzustellen. Ich übersetzte alle alten Gedichte neu. Warum? Nachdem ich die alten Übersetzungen, die mich einst stolz gemacht hatten, gelesen hatte, wurde ich immer unzufriedener mit mir selbst - auch mit dem Dichter. Ich verstand weder mich noch ihn. Bin ich überhaupt ein guter Übersetzer? Ist er wirklich so ein großer Poet, gelobt von deutschen Intellektuellen und Schriftstellern? Aus diesem Grund brauche ich manchmal die Bestätigung, die mir andere geben, als ob sie den Aufruhr in meinem Herzen bemerkt hätten.

1. Häufige Missverständnisse

Sogar unter etablierten Übersetzern gibt es viele Missverständnisse über ihre Arbeit. Peter Urban, der deutsche Übersetzer von Anton Tschechow (1860-1904), hat behauptet, dass nicht eine Zeile seiner Übersetzungen seine eigene sei. Wie das? Hat Tschechow denn perfektes Deutsch geschrieben oder half er etwa nach seinem Tod als Ghostwriter bei der Übersetzung seiner Arbeiten? Nein, natürlich ist jedes Wort der deutschen Übersetzung ein Ergebnis der Anstrengungen des Übersetzers und nicht des Autors. Urbans Wiedergabe ist notwendigerweise Interpretation, auch wenn er dies nicht so sieht. Eine Übersetzung ohne Interpretation ist einfach nicht möglich.

Howard Goldblatt, der wohl berühmteste und sehr einflussreiche Übersetzer chinesischer Gegenwartsliteratur behauptet, die chinesischen Texte „texttreu“ zu übersetzen. Übernimmt er die genaue chinesische Satzstruktur und Zeichensetzung? Natürlich nicht! Wenn er das täte, würde er seinen flüssigen Stil verderben. Doch vielleicht ist er in einem weiteren Sinne texttreu? Übersetzt er alle Wörter des gegebenen Texts und überträgt die Sätze dann vollständig in sein großartiges Englisch? Nein, auch das nicht. Er hängt nicht der veralteten Idee an, einen Text wortweise zu übersetzen. Wir beide wollen eine Übersetzung, die kreativ und ausdrucksvoll ist, so wie es Ezra Pound vor langer Zeit gefordert hat, dessen Credo „mach es neu“ lautete. Folglich erfindet Howard Goldblatt den chinesischen Autor und sein großes Werk neu, auch wenn er das nicht öffentlich zugeben will.

In einem E-Mail-Interview Goldblatts mit der China Daily vom 12.3.2008 gibt es einen enthüllenden und zugleich rätselhaften Satz: „Was die redaktionellen Entscheidungen des Verlegers betrifft, kann ich mir keinen Autor vorstellen, der über eine Beschneidung seines Werks in der Übersetzung glücklich wäre.“ Was meint er damit? Betrachten wir seine Übersetzung (2007) von Jiang Rongs (姜戎, geb. 1946) Wolf Totem (Im Deutschen erschienen unter dem Titel Der Zorn der Wölfe, Anm. d. Red.). In der englischen Version wird der Leser die Auslassung des wortreichen Epilogs, der aus deutscher Sicht faschistoid erscheint, nicht bemerken, und auch nicht die langatmigen Ausführungen zum Charakter des Han-Volks. Der informierte und demokratische Leser wird dieses schwerfällige Gedankengut nicht vermissen. War es der amerikanische Lektor, der einige Teile von Howards kompletter Übersetzung ausließ, so wie der deutsche Lektor, der ähnlich große Abschnitte aus der deutschen Übersetzung entfernte, ohne die Übersetzer zu fragen? Ich habe meine Zweifel.

Howard braucht keinen Lektor, um ihm zu sagen, was wichtig für eine Romanübersetzung ist, die auf dem Weltmarkt erfolgreich sein soll. Er nutzt vermutlich nur ein Paar Scheren in seinem Kopf. Seine „geheime Mission“ nennt sich Demokratie, Literatur und amerikanische Moral.

Anstatt wortweise zu übersetzen, fasst Goldblatt Textabschnitte zusammen. Dabei mag er daran denken, wie das chinesische Werk geworden wäre, wenn es nicht pro Zeile bezahlt würde (je mehr man in China schreibt, desto mehr Geld bekommt man), oder wenn es nicht in kürzester Zeit für den wenig anspruchsvollen chinesischen Buchmarkt zusammengeschrieben worden wäre. In dieser Hinsicht ist er sowohl Übersetzer als auch Lektor eines Autors, im Grunde also ein Co-Autor. Seine Texttreue ist dann eine Art Loyalität gegenüber der dem Text innewohnenden Idee. Was er durch seine Übersetzung mitteilt, sind nicht die Ideen des chinesischen Autors, sondern seine eigene Version dieser Ideen mit ihren Stärken und Schwächen.

Mo Yan (geb. 1956) ist ein schneller Schreiber. Er schrieb sein Life and Death Are Wearing Me Out (englische Ausgabe 2008) in 43 Tagen. Die deutsche Ausgabe (Der Überdruss, 2009) umfasst 960 Seiten. Ein guter deutscher Autor würde mindestens drei Jahre brauchen, um einen Roman dieser Länge zu schreiben, einfach um formale Schwächen, die so typisch für chinesische Gegenwartsliteratur sind, zu vermeiden: falsche Daten, Vermischung von Charakteren, unlogische Abläufe. Jeder Übersetzer wird für diese Fälle Lösungen finden müssen, sonst werden ihn die Verleger oder die Leser für inkompetent halten. Er muss das Werk in seinen Händen besser kennen als der Autor selbst.

Kann die englische Version von Wolf Totem daher als Originalversion bezeichnet werden? Nein. Sie stellt eine positive Abweichung für die westliche Leserschaft dar. Der Roman selbst ist eine schlechte Kopie von Jack London (1876-1916), dessen Bücher Jiang Rong (eigentlich Lü Jiamin 吕嘉民) während der Kulturrevolution vor der Verbrennung rettete. Seine Ideologie spiegelt den Sozialdarwinismus von Romanen wie White Fang (1905, deutsch: Wolfsblut), wider - eine Ideologie, die in einer globalisierten Welt, die Zusammenarbeit und nicht das Überleben des Stärkeren betont, völlig veraltet erscheint.

II Die Ausgabe als Übersetzung

Wolf Totem gibt uns eine gute Gelegenheit, über die Rolle und Zusammenarbeit von Übersetzern, Autoren und Verlegern zu diskutieren. Als Übersetzer sind wir nicht vom Autor abhängig, sondern er ist von uns abhängig. Autoren können uns nicht durch ihre Veröffentlichungen zerstören, doch wir können sie in der Öffentlichkeit zerstören, weniger durch falsche Übersetzungen, die nicht ganz vermieden werden können, sondern durch mangelnde Sprachkompetenz und eine Unkenntnis der Übersetzungstheorien. Übersetzungen „reizen und zwicken“ nicht, wie es der große Übersetzer und Kenner des chinesischen Theaters, Cyril Birch, fordert. Übersetzungen sind ein bewusstes Unterfangen mit einem ernsthaften Ziel. Goldblatts Ziel ist eine Art von Literatur, die eine Wirkung auf die Leser hat. In diesem Zusammenhang spricht er von der Befriedigung, die ein Übersetzer anstrebt. Hierzu ein weiteres Zitat aus der China Daily:

„Die Befriedigung zu wissen, dass ich zwei „Kunden“ treu gedient habe, lässt mich weiterhin chinesische Prosa in lesbare, zugängliche und ja sogar vermarktbare englische Bücher verwandeln.“

Er geht sogar so weit, in der China Daily den Prozess der Übersetzung trotz der „Spannung zwischen Kreativität und Genauigkeit“ zu einer überlebenswichtigen Notwendigkeit zu erklären:

„Ab und an finde ich ein Werk so spannend, dass ich von dem Drang besessen bin, es ins Englische zu übersetzen. Anders gesagt, ich übersetze, um zu überleben.“

Wir verstehen nun, warum die Übersetzungen Goldblatts so erfolgreich sind. Zwischenzeitlich sind sie zur Messlatte für deutsche Lektoren geworden, die etwas über chinesische Gegenwartsliteratur verstehen wollen. Wenn ein Verleger sich entscheidet, chinesische Literatur in Deutsch herauszugeben, wird er manchmal nicht einmal einen deutschen Sinologen mit einer Übersetzung beauftragen, sondern einen Übersetzer aus dem Englischen bitten, die englische Ausgabe in eine lesbare deutsche Version umzuwandeln. Das hat zwei Folgen:

Seit Anfang 2009 wird Der Zorn der Wölfe vom Verlag in Deutschlands Zeitungen als „globaler Bestseller“ beworben. Obwohl der Roman eben erst erschienen ist, gibt es ihn bereits als Hörbuch! Klappentext und Vorwort behaupten, dass der Roman das „meist gelesene Buch aller Zeiten“ sei. Deutschland blickt auf eine lange Tradition der Buchkritik zurück und in einer Ankündigung wie dieser wird der Roman normalerweise von einem bekannten deutschen Autor oder Intellektuellen empfohlen. Hier stammt das Lob jedoch von drei Buchverkäufern - sämtlich Frauen, da deutsche Leser meist Frauen sind und Meinungen anderer Frauen lesen wollen.

Wurde irgendein anderes Werk chinesischer Literatur seit 1979 so beworben? Nein, nicht einmal meine Ausgabe Lu Xun: Werke in sechs Bänden (1994) wurde in so einer Weise angepriesen, obwohl Der Zorn der Wölfe das Thema des Wolfes und des Schafs wie auch die Frage des nationalen Charakters von Lu Xun (鲁迅,1881-1936) entliehen hat.

Applaus von Lu Xun © Unionsverlag Zürich
Applaus von Lu Xun © Unionsverlag

Wenden wir uns nun dem Thema der Übersetzungen und Ausgaben und ihrer Gemeinsamkeiten zu. In Deutschland sind Verleger, Übersetzer und Buchillustrator untrennbar. Siebzig Prozent der in Deutschland veröffentlichen Bücher sind Übersetzungen. Deutsche lesen gerne Geschichten, doch deutsche Autoren erzählen kaum noch Geschichten. Stattdessen schreiben sie anspruchsvolle Literatur, die sich auf eine Person, ein Detail, eine Zeitperiode konzentriert. Wenn es noch einen deutschen Autor gäbe, der „epische Romane“ schriebe, würde sein Buch als „Schinken“ bezeichnet werden. Ein typischer deutscher Leser möchte während seiner Reisen einen dicken, schweren Schmöker lesen, der ihn lange unterhält. So muss er kein zweites Buch mitschleppen.

Goldmann, der Verlag von Der Zorn der Wölfe, ist auf dicke „Schinken“ spezialisiert. Deshalb ist die deutsche Ausgabe von Jiang Rongs Buch so schwer und groß. Die Schrift ist so groß, dass man sie ohne Brille lesen kann. Welche Bedeutung hat das Umschlagdesign mit den Wolfsaugen für den Durchschnittsleser? Es signalisiert: Hier gibt es ein Unterhaltungsbuch, nicht zu anspruchsvoll, aber aufregend und vor allem recht vertraut. Inwiefern vertraut? Der deutsche Titel erinnert an schöne Leseerlebnisse vergangener Jahre. Meine Generation wuchs mit Jack Londons Romanen auf und wir waren von der TV-Serie in den 70ern begeistert. Darum erhielt das Buch den Titel Der Zorn der Wölfe, der nach Jack London-Romanen klingt.

In China ist es heutzutage üblich, die gleiche Geschichte immer wieder leicht verändert zu erzählen. Und anscheinend gibt es dafür einen weltweiten Markt. Mir wurde gesagt, dass es 42 Nachfolger von Jiang Rong in China gibt, die ihre eigene Version von Wolf Totem herausgebracht haben. Diese Praxis wird „shanzhai wenhua“ (山寨文化) genannt, ein Begriff, der die Kultur des Fälschens oder Imitierens von Produkten bezeichnet.

In diesem Zusammenhang spielt Goldblatt eine wichtige Rolle, da er durch seine exzellente Übersetzung aus Wolf Totem einen Bestseller gemacht hat. Er hat diesen globalen Bestseller quasi erschaffen, indem er dem Leser einen Eindruck davon verschaffte, was der chinesische Autor hätte kreieren können, wenn er nur sicherer im Stil, tiefer in Gedanken, weniger vereinfachend und moralisierend geschrieben hätte. Natürlich sind internationale Bestseller nicht notwendigerweise dasselbe wie gute Literatur.

III Sprache als Kunst oder als Mittel zur Zerstörung

Übersetzer sind abhängig von ihren Lektoren und Verlegern. Weniger wegen des Honorars, sondern wegen der Veröffentlichung. Howard Goldblatt setzt mit seinen vielen Übersetzungen chinesischer Gegenwartsliteratur einen hohen Standard für deutsche Übersetzer. Es gibt ein „Howard Goldblatt-Phänomen“ in Deutschland. Was immer der amerikanische Professor übersetzt, wird bald darauf auch in Deutschland erscheinen. Es wird entweder vom Englischen aus übersetzt und der Vorgang wird durch den Ausdruck „Übersetzt ins Deutsche von…“ verschleiert, oder aber vom deutschen Verleger als Leitfaden zur Korrektur der deutschen Fassung genutzt. Obwohl die Übersetzer der deutschen Fassung von Wolf Totem exzellente, erfahrene Übersetzer sind, wurde ihre Arbeit automatisch gekürzt, da die amerikanische Fassung unbewusst als Grundlage diente. Oder es werden in Gedichten durch den Lektor Satzzeichen hinzugefügt, obwohl das Original keine hat. So geschehen bei der deutschen Fassung (2005) von Zhai Yongmings (翟永明 geb. 1955) Gedichten, wo ich als Übersetzer nie dazu konsultiert wurde.

Was würde passieren, wenn sich der Übersetzer zu Beginn des Übersetzungsprozess weigern würde, den Lektor etwas ändern zu lassen? Vermutlich würde die Zusammenarbeit nicht zustande kommen. So ist das auch in China. Nachdem meine Geschichte der klassischen chinesischen Dichtkunst (München: Saur 2002) ins Chinesische übersetzt wurde und kurz vor der Veröffentlichung stand, zerstritten sich die Übersetzer in Peking und die Lektoren in Shanghai wegen stilistischer Details. Die Übersetzer ließen keinerlei Korrekturen durch die Lektoren zu, und die wiederum ließen die „unverständliche Wiedergabe“ nicht zu. Das Buch wurde nicht veröffentlicht.

Deutsche Übersetzer chinesischer Literatur sind normalerweise Sinologen, die Übersetzen nicht studiert haben und selten ein umfassendes Verständnis des Deutschen besitzen – einer reichen und sehr komplizierten Sprache. Falsches Deutsch in Sprache und Schrift ist ziemlich häufig und sogar unter Professoren akzeptabel. Doch Fehler oder Ungenauigkeiten in einer Übersetzung gefährden das Werk, insbesondere bei Gedichten.

Chinesische Romanautoren sind in den USA sehr erfolgreich, nicht aber in Deutschland. Mo Yan würde hier niemals so gefeiert wie dort. Mir fällt nicht ein einziger deutscher Autor ein, der sein Werk gelesen hätte. Romane von Autoren wie ihm werden in den wichtigen deutschen Zeitungen kaum rezensiert, obwohl diese täglich Literatur-Kritiken zu ausländischen Werken veröffentlichen. Die Leser dieser Zeitungen sind gewöhnliche Leute mit wenig Anspruch an Literatur. Was ist der Grund dafür? Zeitgenössische chinesische Autoren werden für schwache Stilisten gehalten. Ihre Geschichten sind flach, altmodisch und nicht anspruchsvoll erzählt. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass sie keine Fremdsprachen beherrschen und keine Klassiker im Original lesen können. Da Übersetzungen in China nicht geschätzt werden, betrachten chinesische Autoren Übersetzungen selten als ihre unvermeidliche Aufgabe. Das ist anders als in Deutschland. Ich habe keine Ahnung, ob deutsche Literatur zurzeit große Literatur ist, doch ich möchte daran erinnern, dass eine große Epoche der Übersetzungen auch als eine große Zeit für Literatur betrachtet wird. Aus deutscher Sicht kann die Misere der chinesischen Gegenwartsliteratur auf die Jahrzehnte nach 1949 zurückgeführt werden, die anders als die Jahrzehnte vor 1949 keine Zeiten guter Übersetzungen, sondern zunächst Jahre ideologischer und dann schlechter Übersetzungen waren. Natürlich gibt es Ausnahmen.

Lexikon für klassisches Chinesisch © The Commercial Press
Lexikon für klassisches Chinesisch © The Commercial Press

Gibt es nicht ein Werk oder Genre, das eine große Rolle in der deutschen Literaturwelt spielen kann? Überraschenderweise gibt es Interesse an gegenwärtiger chinesischer Lyrik. Fast jeder chinesische Dichter nach 1979 hat ein oder zwei Gedichtsammlungen veröffentlicht, wurde dann nach Deutschland eingeladen und von einem großen Publikum gefeiert. Es scheint, als ob chinesische Romanautoren in Amerika ankommen, während chinesische Dichter in Deutschland gefragt sind. Warum? Sind Dichter wirklich besser als Romanautoren? Oder sind die deutschen Übersetzer von Lyrik nicht nur besser als ihre deutschen Kollegen im Bereich Belletristik, sondern auch als ihre amerikanischen Kollegen in Sachen Lyrik? Diese Frage ist schwer zu beantworten.

Deutschland hat gute Übersetzer chinesischer Prosa, beispielsweise Ulrich Kautz, Marc Hermann und Karin Hasselblatt, doch sie sind abhängig vom amerikanischen Buchmarkt, da die deutschen Verleger ihre Buchrechte über die USA und nicht über China erwerben! Deshalb fragen die Verlage nicht die deutschen Übersetzer, was übersetzt werden sollte oder nicht. Das Kriterium für die Verleger ist die amerikanische Empfehlung. Dies funktioniert jedoch nicht bei Lyrik, da es keinen ausgeprägten Markt für Gedichte gibt. Also entdeckt der deutsche Übersetzer seinen Poeten oder seine Poetin selbst, versucht einen Verleger zu finden und schließt oft näheren Kontakt mit der Person, die er dem deutschen Publikum vorstellen will. Da wir die Tradition des Literaturhauses fast überall vorfinden, touren die chinesischen Dichter und ihre Übersetzer häufig durch alle deutschsprachigen Länder und verkaufen ihre neuen Bücher.

Chinesische Dichter brauchen Übersetzungen, mehr noch als die Romanautoren, die auf viele Leser in ihrem eigenen Land zählen können. In der Vergangenheit haben Lizenzgebühren der Verlage und Honorare von Literaturzentren in Deutschland viele chinesische Dichter unterstützt. Dichter wie Yang Lian und Duo Duo wurden natürlich auch ins Englische übersetzt. Obwohl sie mehr als zwanzig Jahre in englischsprachigen Ländern gelebt haben, ist ihr Englisch bestenfalls gebrochen. Sie können mit ihren englischen Übersetzern nicht zusammenarbeiten oder deren Übersetzungen überprüfen. Sie können nur darauf vertrauen, dass diese ihre Arbeit gut erledigen. Das meine ich mit Abhängigkeit. In Deutschland haben sie Glück. Dort haben sie gute Übersetzer und sind deshalb als zwei der besten Dichter der Welt anerkannt. Beide sind an prominenter Stelle in die dritte Auflage von Kindlers Literatur Lexikon (2009) aufgenommen worden.

Ich weiß nicht, ob man etwas Ähnliches über Yang Lian und Duo Duo in der anglo-amerikanischen Welt sagen kann. Das hängt vermutlich mit ihren englischen Übersetzungen zusammen, die meistens katastrophal sind. Ich mache hier niemandem einen Vorwurf. Fehler passieren, wenn Texte so kompliziert sind, dass die Intention des Dichters kaum erkennbar ist. Die englischen Übersetzer beherrschen ihre Sprache nicht wirklich und erkennen die Zusammenhänge zwischen einzelnen Teilen eines Gedichts nicht. Besonders bei Yang Lian trennt der Übersetzer die kleinsten Teile voneinander. Weder poetische noch semantische Übersetzungen dieser Art ergeben Sinn. Sie erfüllen offensichtlich bei Yang Lian nicht die geweckten Erwartungen, wenn dieser sagt, dass seine Gedichte in einer anderen Sprache eigenständige Gedichte sein müssen und ein Teil der Geschichte des fremden Landes werden sollen.

Verlangt er damit zu viel? Ich würde eher ja sagen als zu kritisch gegenüber den Übersetzungen zu sein. Als Übersetzer ist es sehr schwierig, ein Solokünstler in einem Orchester zu werden, wie er das möchte – also ein Interpret seines Stückes. Doch ich sollte meine eigene Sprache und Symbolik entwickeln. Manchmal haben diese kein Äquivalent im Deutschen. Deshalb bin ich ab und zu gezwungen, eine eigene Übersetzungssprache zu erfinden, die nicht deutsch klingt und manchmal sogar gekünstelt.

Auffassungen wie die des Dichters Yang Lian sind nicht ungewöhnlich. Der australische Dichter Les Murray (geb. 1938) ist noch spezieller. Sein deutscher Übersetzer musste solche Schwierigkeiten überwinden, dass sich die deutschen Übersetzungen manchmal wie kompletter Unsinn lesen. Es ist nicht möglich, Texte auf herkömmliche Art zu übersetzen, also allein im Arbeitszimmer umgeben von Wörterbüchern und voller Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wenn die Texte so vage und düster sind und ihre Leser aussperren, anstatt sie mit einzubeziehen. Der Übersetzer braucht die Hilfe des Dichters. Aber ist dieser bereit, sich zu erklären? Nicht immer und wenn ja, dann nicht in allen Bereichen. Daran denken Verleger und Leser nur selten. Für sie - und mitunter auch für den chinesischen Poeten - ist der Übersetzer lediglich eine Art Maschine, die das bestmögliche Ergebnis in einer sehr kurzen Zeit auswerfen kann. Nur der Autor zählt. Wie oft habe ich meinen Namen in Klammern oder kleingedruckt am Ende von Texten wiedergefunden, die meiner Feder entstammen! Gibt es einen Weg für den Übersetzer, dies zu ändern? Das ist erst möglich, wenn er bereits berühmt ist, also am Ende seines Lebens. Deutschland hat hervorragende Übersetzer, die bereits in ihren 70ern oder 80ern sind und es mit den größten Schriftstellern aufnehmen können. Dann bekommen sie viele Preise und Anerkennungen. Aber das ist nur für Übersetzer aus populären Sprachen der Fall. Deutschland würde nie Preise an so hervorragende Übersetzer wie Rainer Schwarz (Der Traum der Roten Kammer) oder Günther Debon (Tang-Dichtung) vergeben. Wir können dies bedauern, doch besser ist es, darauf zu hoffen, dass das Glück eines Tages Howard Goldblatt begünstigt, und dass in diesem Sinne die USA ein neues Kapitel in der Geschichte der Übersetzung aufschlagen werden.
Text: Dr. Wolfgang Kubin
Professor für Sinologie, Universität Bonn
Übersetzung aus dem Englischen: Annalena Scholl
September 2009
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