Sexualleben, sexuelle Orientierung und Gender

Das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK schützt auch das Sexualleben (Stübing g. Deutschland, Absatz 55), die sexuelle Orientierung und die sexuelle Identität/Gender (van Kück g. Deutschland). Da Eingriffe in das Sexualleben einen besonders intimen Teil des Lebens der betroffenen Person berühren, ist der Beurteilungsspielraum, der Vertragsstaaten in diesem Bereich eingeräumt wird, sehr gering. Neben dem Erfordernis, dass Eingriffe in das Sexualleben eine gesetzliche Grundlage haben und ein legitimes Ziel verfolgen müssen (siehe Artikel 8 Abatz 2 EMRK), müssen sie auch einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen.

In einer Reihe von Entscheidungen hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Gesetzen auseinandergesetzt, die Homosexualität zum Gegenstand haben. Im Fall Dudgeon g. Vereinigtes Königreich hatte sich der Beschwerdeführer gegen Gesetze gewandt, denen zufolge einverständliche homosexuelle Akte zwischen erwachsenen Männern eine Straftat waren. Die Wohnung des Beschwerdeführers war von der Polizei wegen des Verdachts des Drogenbesitzes durchsucht worden. Bei dieser Gelegenheit waren private Korrespondenz und Tagebücher beschlagnahmt worden. Da in diesen Unterlagen homosexuelle Aktivitäten beschrieben wurden, wurde der Beschwerdeführer von der Polizei zu seinem Privat- und Sexualleben befragt. Es wurde keine Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits seit mehreren Jahren keine Anklagen mehr gegen Männer über 21 Jahre wegen einverständlicher homosexueller Akte erhoben worden.

Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die Existenz von Gesetzen, die homosexuelle Akte unter Strafe stellen, einen Eingriff in das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeutet. Dabei sei es unerheblich, dass in der Praxis generell keine Verfahren gegen Erwachsene wegen einverständlicher homosexueller Akte angestrengt würden. Dabei stellte der Gerichtshof auch darauf ab, dass es trotz der allgemeinen Praxis, keine Verfahren einzuleiten, keine offizielle Entscheidung oder Richtlinie gab, die solche Verfahren untersagt hätten.

Im Einklang mit dieser Entscheidung befand der EGMR im Falle Norris g. Irland, dass die blosse Existenz von Strafvorschriften gegen homosexuelle Akte einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellt. Nach Auffassung des Gerichtshofes machte es keinen Unterschied, dass der Beschwerdeführer – anders als im Falle Dudgeon g. Vereinigtes Königreich – nicht von der Polizei befragt worden war. Der EGMR führte aus, dass die Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung, die den Beschwerdeführer in einem Zustand ständiger Angst hielt, einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellte. Da der Gerichtshof keine vernünftigen Grund für die gesetzliche Regelung sah, stellte er eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest.

Der EGMR bestätigte diese Rechtsprechung in Modino g. Zypern abermals. Der Beschwerdeführer war der Präsident der „Befreiungsbewegung homosexueller in Zypern“. Er hatte eine homosexuelle Beziehung mit einem Erwachsenen. Er war der Auffassung, dass die Gesetze, denen zufolge homosexuelle Akte zwischen Erwachsenen eine Straftat waren, sein Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletzte. Dabei verwies er unter anderem auf einen Fall in dem ein 19 jähriger Soldat vom höchsten Gericht in Zypern verurteilt worden war, obwohl der Europäische Gerichthof für Menschenrechte zu diesem Zeitpunkt bereits das Urteil im Falle Dudgeon g. Vereinigtes Königreich gesprochen hatte. Das höchste Gericht von Zypern hatte sich ausdrücklich dem Richter der Vorinstanz angeschlossen, der von der Entscheidung des EGMR abgewichen war.

Die zyprische Regierung trug vor, dass der Beschwerdeführer keine Gefahr liefe, strafrechtlich verfolgt zu werden. Sie  verwies darauf, dass die Verurteilung des Soldaten wegen homosexueller Akte sich auf Aktivitäten bezogen habe, die nicht in einem privaten Umfeld stattgefunden hätten. Für im privaten Umfeld begangene homosexuelle Akte, so die zyprische Regierung, bestehe keine realistische Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies diese Argumente zurück. Er führte aus, dass die Vorschrift, die homosexuelle Akte unter Männern unter Strafe stellte, immer noch gültiges Recht sei. Ausserdem stellte er darauf ab, dass der Umstand, dass das höchste zyprische Gericht sich ausdrücklich gegen die Entscheidung des EGMR im Falle Dudgeon g. Vereinigtes Königreich gestellt habe, den Verdacht nähre, dass strafrechtliche Verfolgung wegen homosexueller Akte immer noch eine realistische Möglichkeit sei. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. 

 

In Smith und Grady g. Vereinigtes Königreich hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entlassung von Personen aus der Armee aufgrund ihrer Sexualität das Recht auf Privatleben verletzt. Die Beschwerdeführer waren eine Krankenschwester, die bei der Marine beschäftigt gewesen war und ein Hauptsekretär, der bei der Luftwaffe gedient hatte. Beide Beschwerdeführer waren homosexuell und waren sich deshalb beim Antritt ihres Dienstes bei der Armee auch bewusst gewesen. Zur massgeblichen Zeit gab es in Grossbritannien  Richtlinien, denen zufolge homosexuelle Personen nicht in der Armee angestellt werden konnten. Die Beschwerdeführer hatten bei ihrer Bewerbung nicht offengelegt, dass sie homosexuell waren.  Als bekannt wurde, dass die Beschwerdeführer homosexuell waren wurde eine Ermittlung eingeleitet, in deren Verlauf die Beschwerdeführer über ihr Sexualleben befragt wurden. Letztlich wurden sie aus den bewaffneten Kräften entlassen. Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führe die britische Regierung aus, dass die Beschwerdeführer bereits bei ihrer Einstellung gewusst hätten, dass homosexuelle Personen nicht in den Streitkräften eingestellt würden und dass sie über ihre Homosexualität gelogen hätten. Ausserdem führte die Regierung aus, dass die Richtlinien, die homosexuelle Menschen vom Dienst in den Streitkräften ausschlossen gerechtfertigt seien, weil sie die Kampfkraft der Truppen schützten.

Der EGMR führte aus, dass die Beschwerdeführer bei ihrer Aufnahme in die Armee nicht auf ihre Rechte nach Artikel 8 EMRK verzichtet hätten.  Nach Auffassung des Gerichtshofes waren sowohl die Entlassung aus der Armee als auch die Untersuchung, die sehr intime Fragen mit sich gebracht hatte, Eingriffe in das Recht auf Privatleben. Dieser Eingriff war nach Auffassung des Gerichtes nicht nach Artikel 8 Absatz 2 gerechtfertigt. Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass der Ausschluss Homosexueller eine gesetzliche Grundlage hatte und einem legitimen Ziel diente, sah er die Regeln nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft an. Er führte an, dass nur eine kleine Minderheit europäischer Staaten Homosexuelle aus dem Militär ausschloss. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass allen Bedenken hinsichtlich der Anstellung von homosexuellen Personen durch andere Massnahmen als durch den Ausschluss homosexueller Rechnung getragen werden könnte. Daher befand der EGMR, dass das Untersuchungsverfahren, dem die Beschwerdeführer unterzogen worden waren und ihre anschliessende Entlassung aus den Streitkräften ihr Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletzt hatte.

 

Wie oben ausgeführt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt, dass Gender in den Schutzbereich des Privatlebens nach Artikel 8 EMRK fällt. In einer Anzahl von Entscheidungen hat er sich mit den Implikationen auseinandergesetzt, die Artikel 8 EMRK für die rechtliche Situation von Transsexuellen hat.  Geschlechtsumwandlungen ziehen eine grosse Zahl rechtlicher Fragen nach sich, beispielsweise im Zusammenhang mit Rentenansprüchen, Geburtsurkunden, Namen in offiziellen Dokumenten und öffentlichen Verzeichnissen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war zunächst eher restriktiv, wenn es um die Konsequenzen der Europäischen Menschenrechtskonvention in diesem Bereich ging. Im Falle Rees g. Vereinigtes Königreich war der Antragsteller ein Frau-zu-Mann Transsexueller. Nachdem er seinen Namen in einen männlichen Namen geändert hatte, beantragte er einen neuen Pass. Zwar wurde ein Pass mit dem neuen Namen ausgestellt, aber die Behörden weigerten sich, die Abkürzung  „Mr“ in das Dokument aufzunehmen. Sie lehnten auch seinen Antrag ab, das Geburtsregister zu ändern. Der EGMR entschied, dass das Fehlen von Gesetzen, die die Änderung von offiziellen Dokumenten und öffentlichen Registern regeln würde keine Verletzung von Artikel 8 EMRK darstellte. Der Gerichtshof verwies auf den Beurteilungsspielraum, den die Staaten bei der Umsetzung der Vorgaben von Artikel 8 EMRK in nationales Recht haben. Während es in einigen Mitgliedsstaaten des Europarates Verordnungen gab, die Fälle wie denjenigen des Beschwerdeführers regelten, war der EGMR der Auffassung, dass das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet sei, entsprechende Gesetze oder Verordnungen zu erlassen.

Im Fall Cossey g Vereinigtes Königreich hat der Gerichtshof diesen Standpunkt bestätigt. Der Beschwerdeführer hatte sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen und wollte heiraten. Die Behörden stellten sich auf den Standpunkt, dass sie rechtlich gesehen immer noch ein Mann sei. Der EGMR führte aus, dass es keinen Grund gebe, von seiner im Falle Rees ausgeführten Haltung abzurücken. Es gäbe keine gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Entwicklungen, die eine Änderung der Rechtsprechung in diesem Punkt erforderlich machen würden.

Im Fall B. gegen Frankreich stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Dennoch stellt dieses Urteil keine Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Hinblick auf die Bedeutung des Rechts auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK für Transsexuelle in den Mitgliedsstaaten dar.

Die Beschwerdeführerin war als männliches Kind in Algerien geboren worden. Sie hatte sich aber bereits in jungen Jahren als Mädchen gefühlt. Sie war nach Frankreich gezogen, wo sie als Frau mit einem Mann zusammenlebte. Sie hatte versucht, den weiblichen Namen, den sie angenommen hatte, in offizielle Register eintragen zu lassen. Dies war jedoch verweigert worden. Der Gerichtshof führte aus, dass das französische Recht zu dieser Zeit keine Anerkennung von Transsexuellen vorsah, was für die Beschwerdeführerin zu beträchtlichen Schwierigkeiten geführt hätte. Dies stellte aus Sicht des Gerichtshofes eine Verletzung des Rechtes auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK dar. Der EGMR wies jedoch auch darauf hin, dass er keinen Grund sehe, seine Rechtsprechung in den Fällen Rees and Cossey aufzugeben.

Dieser Standpunkt änderte sich in den Fällen I g. Vereinigtes Königreich und UK g. Vereinigtes Königreich. Im letztgenannten Fall war die Beschwerdeführerin eine männlich-zu-weiblich Transsexuelle. Nachdem sie sich einer Operation zur Geschlechtsumwandlung unterzogen hatte, beantragte sie, dass ihre nationale Versicherungsnummer geändert werden möge. Sie befürchtete, dass frühere Arbeitgeber mithilfe der Nummer aufgespürt werden könnten, was dazu führen könnte, dass ihre Geschlechtsumwandlung publik werden würde. 

Her request was denied. Also, she had been informed that she was going to be eligible for state pension at the age of 65, which was the retirement age for men. The applicant submitted that the lacking legal recognition of her gender re-assignment violated her right to private life. Ihr Antrag wurde zurückgewiesen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führte aus, dass Rechtssicherheit und Vorhersagbarkeit von Gerichtsentscheidungen zwar wichtig seien, dass aber die  Konvention im Lichte der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden müsse, damit die Konventionsrechte praktisch und effektiv seien. Er wies darauf hin, dass Transsexualität international als medizinischer Fakt anerkannt sei stellte fest, dass es einen klaren internationalen Trend zur Anerkennung des neuen Geschlechts von Personen gebe, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hätten. Im Hinblick auf diese Entwicklungen stellt der EGMR fest, dass der Umstand, dass der britische Gesetzgeber es unterlassen hatte, Regeln für die Anerkennung von Geschlechtsumwandlungen zu erlassen, Artikel 8 EMRK verletze.

In dem ähnlich gelagerten Fall L g. Litauen stellte der Gerichtshof ebenfalls eine Verletzung des Rechts auf Privatleben fest. Der Beschwerdeführer war ein weiblich-zu-männlich Transsexueller; er hatte seine operative Geschlechtsumwandlung teilweise hinter sich gebracht. Zur massgeblichen Zeit hatte das Zivilgesetzbuch von Litauen Regelungen zur Anerkennung Transsexueller beinhaltet. Wichtige Nebengesetze betreffend Ansprüche im Bereich Gesundheitsvorsorge, Versicherung, öffentliche Verzeichnisses usw. waren jedoch, obwohl es bereits Entwürfe gab, noch nicht erlassen worden. Der EGMR entschied, dass die Unterlassung der Verabschiedung entsprechender Gesetze über den Zeitraum von vier Jahren eine Verletzung des Rechts auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK darstellte.

In van Kuck g. Deutschland hat sich der Gerichtshof mit der Verpflichtung einer Krankenversicherung auseinandergesetzt, die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung zu tragen. Der Beschwerdeführer war ein männlich-zu-weiblich Transsexueller. Sie hatte einen Vertrag mit einer Krankenversicherung, der die Krankenversicherung verpflichtete 50% der Kosten notwendiger medizinischer Behandlung zu tragen. Nachdem die Krankenversicherung sich geweigert hatte, der Beschwerdeführerin Kosten einer Hormonbehandlung zu erstatten und nicht bereit gewesen war, zu erklären dass sie einen Teil der Operation zur Geschlechtsumwandlung tragen werde, reichte die Beschwerdeführerin Klage ein. Diese Klage wurde von deutschen Gerichten mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Geschlechtsumwandlung nicht als notwendige medizinische Behandlung angesehen werden könne. Unter anderem führten die deutschen Gerichte aus, dass die Antragstellerin sich vor einer möglichen Operation zunächst einer Psychotherapie unterziehen müsse und dass sie selbst zu ihrer Situation beigetragen habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass die Ignoranz deutscher Gerichte gegenüber der Situation der Beschwerdeführerin diese in ihren Rechten nach Artikel 8 EMRK verletze.

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