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Sektion der Bundesrepublik Deutschland

ai-Journal Oktober 1996

Mazlum-Der: Islamische Menschenrechtler

TÜRKEI



Mazlum-Der: Islamische Menschenrechtler



In der Türkei macht eine Erfährt Menschenrechtsorganisation namens "Mazlum-Der" auf sich aufmerksam. Wer befürchtet, die islamisch orientierte Gruppe könnte die Menschenrechte selektiv interpretieren oder gar Auspeitschungen rechtfertigen, irrt allerdings. Gunnar Köhne sprach mit dem "Mazlum-Der"-Vorsitzenden Yilmaz Ensaroglu.

Die islamisch orientierte Menschenrechtsorganisation "Mazlum-Der" (Die Unterdrückten) hat sich in den fünf Jahren seit ihrer Gründung zu einer der einflußreichsten Nichtregierungsorganisationen der Türkei entwickelt. Mit rund 4000 Mitgliedern ist sie mittlerweile die zweitgrößte Menschenrechtsorganisation nach dem 1986 gegründeten Menschenrechtsverein IHD mit 16.000 Mitgliedern. "Mazlum-Der" finanziert sich nach eigenen Angaben allein aus den Mitgliedsbeiträgen und arbeitet zu den bürgerlich-politischen ebenso wie zu den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten. Die Arbeit in den Büros in insgesamt elf Städten wird ehrenamtlich geleistet. Der Vorsitzende Yilmaz Ensaroglu ist hauptberuflich Geschäftsmann. Studiert hat der 40jährige islamische Theologie in Ankara.



Zuletzt machte "Mazlum-Der" Schlagzeilen, als die Gruppe gemeinsam mit dem IHD und anderen Nichtregierungsorganisationen eine "Friedensinitiative" für die Beendigung des seit zwölf Jahren dauernden Bürgerkrieges im Südosten des Landes startete. Ende August fuhr eine gemischte Delegation in den Nordirak, um 17 von der Kurdischen Arbeiterpartei PKK gefangene türkische Soldaten und "Dorfschützer" freizubekommen. Nachdem die - von der PKK ursprünglich zugesagte - Übergabe scheiterte, wurden der IHD-Vorsitzende Akin Birdal und "Mazlum-Der" Vize-Präsident Mehmet Ihsan Arslan nach ihrer Rückkehr festgenommen. Es gab heftige Proteste im In- und Ausland. amnesty international setzte sich in einer "Urgent Action" für die beiden Menschenrechtler ein. Vier Tage später kamen sie frei, die Anklage gegen sie wurde aber nicht fallengelassen.

ai-Journal: In der Türkei gibt es etliche Menschenrechtsorganisationen. Warum muß es auch einen islamischen Menschenrechtsverein geben?



Yilmaz Ensaroglu: Eigentlich glauben wir, daß religiöse oder ethnische Gründe beim Einsatz für die Menschenrechte keine Rolle spielen sollten. Aber in der Türkei ist die Situation anders. Die Menschenrechte wurden bisher von den linken Gruppen besetzt. Wenn gläubige Muslime und Musliminnen mit Kopftuch zu ihnen mit Problemen kamen, wurde ihnen oft gesagt: Wir haben selbst genug Probleme, wir können uns nicht auch noch um euch kümmern. Das führte zu der Gründung von Mazlum-Der.



Aber wir sind keine Gegner. Wir ergänzen einander und wir machen auch viel gemeinsam. Zum Beispiel haben wir uns gemeinsam für Anwältinnen eingesetzt, die wegen Tragens eines Kopftuches vom Gericht ausgeschlossen wurden. Oder jetzt der Einsatz für die entführten Soldaten.

Gibt es ein muslimisches Menschenrechts-verständnis?



Wir kämpfen für die universell gültigen Menschenrechte. Da lassen wir uns nicht auseinanderdividieren. Zweierlei Maß gibt es bei uns in Fragen der Menschenrechte nicht.



Aber jede Kultur hat einen eigenen historischen Menschenrechtskontext. Wir kritisieren, daß im westlichen Menschenrechtsdiskurs historisch immer nur Bezug genommen wird auf eigene Traditionen wie die Magna Charta oder die Französische Revolution. In unseren Kulturen können Sie, wenn Sie wollen, durchaus noch ältere Menschenrechtsbezüge finden. Ein Beispiel: Auf der Weltsiedlungskonferenz Habitat II wurde in diesem Sommer heftig darüber diskutiert, ob es ein Menschenrecht auf Wohnen gibt. Sie finden das Recht auf Unterkunft in islamischen Rechtsschriften aus dem 15. Jahrhundert bereits niedergelegt. Leider werden solche Entwicklungen im Westen so gut wie nie beachtet.

Welche Menschenrechtsprobleme sehen Sie in der Türkei vor allem?



Das Schlimmste ist, daß das Recht auf Leben nicht gesichert ist. Das gilt vor allem für die kurdischen Gebiete im Südosten des Landes. Dort gibt es immer noch die höchste Zahl an unaufgeklärten politischen Morden und Folter. Dann kommen Einschränkungen der Gedanken- und Religionsfrei-heit.



Ein großes Problem ist auch die Legislative: Viele Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen vorkommen, haben diese Rechte in der Verfassung dennoch formal garantiert. So gibt es vielleicht die Möglichkeit, sich gegen diese Übergriffe zur Wehr zu setzen. Unsere Verfassung von 1982 schränkt die Bürgerrechte aber ein. Hinzu kommen noch die Einschränkungen der Strafgesetze.



Und es gibt die ungeschriebenen Verbote. Viele Behördenvertreter behaupten einfach, es sei etwas gesetzlich nicht zulässig, was überhaupt nicht stimmt. Zum Beispiel steht nirgendwo geschrieben, daß es Beamten verboten ist, eine Gewerkschaft zu gründen. Die Regierung behauptet das aber.

Wie beurteilen Sie die bisherige Menschenrechtspolitik der neuen islamisch-konservativen Koalition?



Dazu muß man deutlich sagen: In der Türkei besitzen die Regierungen in solchen Fragen nicht die wirkliche Macht. Die Macht liegt beim Militär. Die letzte Instanz ist immer der Nationale Sicherheitsrat.



Der derzeitigen Regierung kann ich dennoch keine guten Noten ausstellen. In ihrem Regierungsprogramm steht zu diesem Thema fast nichts. Andererseits sind schon viele Versprechungen gemacht worden. Die letzten Regierungen hatten sogar Menschenrechtsminister. Aber die konnten die Mißhandlungen auf den Polizeistationen auch nicht beenden.



Positiv ist bisher nur, daß der Justizminister die landesweite Verteilung der politischen Gefangenen, die sein Vorgänger verfügt hatte, wieder rückgängig gemacht hat und daß die Löhne der staatlichen Angestellten erhöht worden sind.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit der Staatsmacht gemacht?



Menschenrechtsverletzungen werden meistens von Staaten begangen. Da ist es nur normal, daß wir als Menschenrechtsorganisation mit der Regierung aneinandergeraten. Die Verhaftung von Mehmet Ihsan Arslan war nicht die erste Störung unserer Arbeit von dieser Seite. Vor vier Jahren haben wir ein Diskussionsforum über die Kurdenfrage veranstaltet. Hinterher wurden zwanzig Teilnehmer wegen "Separatismus" angeklagt. Unser Verein sollte damals geschlossen werden.



Wir haben damals für die irakischen Kurden in den türkischen Flüchtlingslagern und später für die Bosnier Hilfstransporte organisiert. Aber als wir Ähnliches jetzt für die notleidenden Flüchtlinge in den Provinzen, in denen der Ausnahmezustand gilt, und in Aserbaidschan starten wollten, wurde das nicht erlaubt.

Gibt es bei Ihrer Arbeit auch Erfolge?



Ein großer Erfolg ist, daß unsere Arbeit immer größeres öffentliches Interesse findet. Unsere Recherchen und Berichte werden immer ernster genommen - wenn nicht von der Regierung und den Medien hier, so doch im Ausland, etwa bei amnesty international oder Helsinki Watch. Wir werden auch um Stellungnahmen zu Aussagen türkischer Asylbewerber in Deutschland über Menschenrechtsverletzungen gebeten.



Aber wir schreiben nicht nur Dossiers. Wir helfen zum Beispiel Menschen, die ihre 'verschwundenen' Angehörigen suchen, gehen mit ihnen zur Polizei, besorgen einen Rechtsanwalt. Anderen Opfern helfen wir, sich an den europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden. Manchmal mit Erfolg.

Glauben Sie, daß auch internationale Solidarität mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei hilft?



So wie wir uns gegen Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern wie Polizeimißhandlungen in Deutschland einsetzen, zum Beispiel durch Botschaftsbesuche, wollen wir natürlich auch die Unterstützung ausländischer Organisationen.



Womit wir aber Probleme haben, ist die Kritik mancher ausländischer Regierungen an der Türkei. Deren Menschenrechtspolitik ist doch meistens selektiv. Bei manchen übersehen sie die Menschenrechtsverstöße aus wirtschaftlichem Interesse. Nehmen sie Amerika: Die riesige Zahl von Hinrichtungen in China wird von Washington überhaupt nicht kritisiert, um ihre Handelsmöglichkeiten zu wahren. Das gleiche gilt im Bezug auf die Türkei: Mal kritisiert der Kongreß die Menschenrechtssituation hier, dann liefern sie der Armee Cobra-Kampfhubschrauber.

Interview: Gunnar Köhne