„Das nennt man Systemversagen“

02. Apr 2013 | von Felix Riefer | Kategorie: Wissenschaft
Wie geht es mit den deutschen Osteuropawissenschaften weiter? Krise oder Aufbruch?

Wie geht es mit den deutschen Osteuropawissenschaften weiter? Krise oder Aufbruch?

Führende in- und ausländische Wissenschaftler bemängeln sowohl die Quantität als auch die Qualität der deutschen Osteuropaexpertise. Die alte Generation exzellenter Forscher ist bereits emeritiert oder wird in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – doch der Nachwuchs bleibt aus. Warum? Ein Interview mit Christoph Schmidt von Felix Riefer

Christoph Schmidt ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln, zuvor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sein Forschungsschwerpunkt ist insbesondere die russische Sozialgeschichte. So schrieb er unter anderem die Russische Geschichte 1547–1917 für die Oldenbourger Reihe Grundriss der Geschichte. Sie hat den Anspruch, „eine gut lesbare Darstellung des historischen Geschehens zu liefern, die von qualifizierten Fachgelehrten geschrieben ist und gleichzeitig eine Summe des heutigen Forschungsstandes bietet“.

/e-politik.de/: Der Leiter des Zentrums für Deutschlandstudien des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften Wladislaw Below bemängelte kürzlich in einem Beitrag der Russland-Analysen der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen das Aussterben der deutschen Osteuropaexperten. Würden Sie dem zustimmen?

Christoph Schmidt: Wie die satirische Alternative zum offiziellen Moskau in der Sowjetzeit Radio Eriwan gesagt hätte: Im Prinzip ja, aber manchmal dauert es halt etwas länger. So liegt zum Beispiel die „Überlebensquote“ der Osteuropäischen Geschichte in Hessen bei 25 Prozent.

/e-politik.de/: Könnten Sie das etwas präzisieren?

Christoph Schmidt: Die Seminare in Kassel, Marburg und Frankfurt wurden geschlossen, Gießen hat überlebt.

/e-politik.de/: Ist dieser Trend auf ganz Deutschland übertragbar? Gibt es Ausnahmen?

Christoph Schmidt: Diese Tendenz hat seit dem Ende der Sowjetunion 1991 ganz Deutschland, aber auch die USA erfasst.

/e-politik.de/: Mit welchen Konsequenzen für die Gesellschaft?

Christoph Schmidt: Um beim Beispiel von Radio Eriwan zu bleiben: Erst Blindheit, dann Blödheit. Alle „Auslandswissenschaften“ streben rationale Orientierung und Offenheit nach Außen an. Wenn die Basis schmilzt, nimmt die Offenheit ab. Nehmen Sie als Beispiel die Bücherverbrennungen an den deutschen Unis vor genau 80 Jahren. Mit einem Schlag hatte sowohl das Irrationale als auch der Fremdenhass gesiegt.

/e-politik.de/: Wie muss man sich das genau vorstellen?

Christoph Schmidt: Als intellektuelle und materielle Verarmung. Osteuropa war für die Deutschen seit dem Mittelalter eine Brücke in die Welt, angefangen von den Kolonisten im 12. Jahrhundert. Diese Brückenfunktion endete erst mit dem Zweiten Weltkrieg.

/e-politik.de/: Wie erklärt sich dann der Zuwachs an Expertise im Kalten Krieg?

Christoph Schmidt: Der Zuwachs war erstmal quantitativ, indem viele neue Stellen geschaffen wurden. Allerdings hat insbesondere die Osteuropäische Geschichte in dieser Zeit eine Dämonisierung Russlands und der Sowjetunion betrieben. Seither haben Teile des Islam und das aufstrebende China Russland als Bedrohungslieferant abgelöst.

/e-politik.de/: Bedrohung als Katalysator – das heißt überspitzt auf die heutige geopolitische Situation übertragen: Falls Putin Raketen in Kaliningrad aufstellen würde, gäbe es wieder Osteuropaforschung?

Chrisoph Schmidt vor dem Astrachaner Kreml.

Chrisoph Schmidt vor dem Astrachaner Kreml.

Christoph Schmidt: Mit Humor kann man es so sagen. Die deutsch-russischen Beziehungen waren durch die Jahrhunderte gut, bis in die Epoche des Nationalismus (allerdings auf polnische Kosten). Sollte auf deutscher Seite der Eindruck einer strukturellen Bedrohung durch Russland zurückkehren, hätte dies mit Sicherheit einschneidende Folgen für die Osteuropaforschung. Aber das frage ich jetzt Sie: Ist das Szenario wünschbar?

/e-politik.de/: Sicherlich nicht. Ließe sich das Forschungsinteresse nicht auch anders begründen?

Christoph Schmidt: Ohne Zweifel. Die welthistorische Bedeutung Russlands bestand in einer Alternative zum Ressourcenverbrauch des westlichen Kapitalismus. Das slawophile Russland suchte nicht nach Expansion bzw. Wirtschaftswachstum, sondern nach Balance. Überleben war alles, und dies unter klimatisch und geographisch weitaus schwierigeren Bedingungen als im Westen. Insofern wäre es lohnend, die gesamte russische Geschichte unter dem Gesichtspunkt Nachhaltigkeit vollkommen neu zu durchdenken.

/e-politik.de/: Auch hier muss ich nachhaken.

Christoph Schmidt: Der große Fehler der Deutschen war und ist, von Moskau auf Russland zu schließen. Russland ist kulturell ebenso vielfältig wie geographisch ausgedehnt. Insofern verrät der Schluss von der Hauptstadt auf das Land nur die gute alte deutsche Zipfelmütze. Sowohl das Zarenreich als auch die Sowjetunion gingen auch daran zugrunde, die Entwicklung von Zentrum und Peripherie nicht länger koordinieren zu können. Dem Wegfall der Provinzen ging im Grunde die Selbstüberschätzung des Zentrums voraus. Die Begriffe Zentrum und Peripherie sind allerdings tendenziös, denn aus russischer Sicht bildet jede Peripherie ihr eigenes Zentrum. Genau darin besteht ja die Nachhaltigkeit.

/e-politik.de/: Zusammengefasst hieße das demnach, die einseitige Fokussierung der Forschung auf das Bedrohungspotenzial ist eine Ursache des heutigen Niedergangs?

Christoph Schmidt: So ist es. Die größere Frage aus heutiger Sicht wäre ja die nach der Globalisierung. Sowohl beim Publikum als auch in der Wissenschaft kommt sie eindeutig zu kurz. Denn Globalisierung müsste ja heißen, die Welt in alle Himmelsrichtungen zu denken.

/e-politik.de/: Das bedeutet, die reale Globalisierung verläuft schneller als die in den Köpfen und eigentlich müsste die Wissenschaft diese Lücke schließen.

Christoph Schmidt: Ja, andernfalls nennt man das Systemversagen.

/e-politik.de/: So darf man demnach schlussfolgern: Wenn sich nichts ändert, bleibt in Zukunft nur noch Fjodor Tjutschew und seine Überzeugung, Russland sei mit dem Verstand nicht greifbar, folglich könne man an Russland nur glauben?

Christoph Schmidt: Nichts gegen Glaube, aber im Kern entzieht Tjutschew einer rationalen Orientierung die Grundlage. Wie alles andere auf der Welt lässt sich sogar Russland analytisch beschreiben und erklären.

/e-politik.de/: Professor Schmidt vielen Dank für das Gespräch!


Weiterführende Links:

Christoph Schmidt (2012): Wege zum Ruhm, Wege zur Wissenschaft, Neues Osteuropa, Heft 7


Die Bildrechte liegen bei Christoph Schmidt (Foto) und dem Autor (Karte)


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