Daniel Josefsohn
Am Leben
1/37 Berlin, 2010: Schade eigentlich, dass ich es nie geschafft habe, eines meiner Bilder in dein Oval Office zu hängen. Hätte besser zu dir gepasst als das indifferente Wald- und Wiesengemälde hinter deinem Schreibtisch. Aber das hat meiner Liebe zu dir keinen Abbruch getan. Du warst cool, du warst schwul, und du hast mitgefeiert. Zugegeben: Wer jetzt keinen Flughafen hat, der baut sich keinen mehr. Wer jetzt noch arm und sexy ist, der wird es lange bleiben. Aber hat uns das je gestört? Wowereit, I will always love you. Dein Josefsohn © Daniel Josefsohn
2/37 Berlin Mitte, 19. August 2006: Ein gutes Foto ist wie ein Brautstrauß, der einem durch die Luft zufliegt. Es ist nicht ganz unwichtig, wo man steht. Manche erklären lang und ausführlich ihre ausgefeilte Technik. Aber das ist alles nur Ablenkung. Sie quatschen die andern voll, damit die im entscheidenden Moment nicht richtig hingucken. Manche meinen auch, die schiere Größe sei entscheidend. Dass besonders groß gewachsene Frauen besonders häufig Brautsträuße fangen, bezweifle ich. Große Kameras machen jedenfalls nicht automatisch großartige Fotos. Ich sag’s mal so: Meistens reicht ein kleines, inneres »Ja, ich will«. © Daniel Josefsohn
3/37 Oberbayern, zeitlos: Wenn es so etwas wie eine urdeutsche Seelenschwingung gibt, dann dröhnt sie in diesem Bild so laut wie die Hosanna-Glocke in der Erzabtei Sankt Ottilien. Heißt: Vorsicht. Denn urdeutsch und gemütlich kann bekanntlich auch schnell ur-ungemütlich werden, weshalb ich diesen kleinen gemeinen Köter nachträglich ins Bild reingeklebt habe. »Mei – wie liab!«, denkt sich der Laie, und ehe er sich versieht, hat die Töle sich knurrend tief in sein Wadenbein verbissen. © Daniel Josefsohn
4/37 Insel Großer Werder, elf Jahre nach der Wende: Der Liepnitzsee gehört zu den reizvollsten Seen in der Umgebung Berlins (wie alle Brandenburg-Reiseführer gern betonen), beherbergt darum aber nicht unbedingt die reizvollsten Badegäste. Aber das hat auch kein Reiseführer je behauptet. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich jedenfalls zehnmal lieber auf ein paar Brandenburger Ärsche im Urlaubsmodus geglotzt als auf die Wildsau mit Nachwuchs, die mir zweihundert Meter später begegnet ist. Hand aufs Herz: Ich bin noch nie in meinem Leben so schnell gerannt. Der Brandenburger an sich hätte wahrscheinlich nicht mal mit seiner linken Pobacke gezuckt. © Daniel Josefsohn
5/37 San Francisco, 1996: In diesem größten Independent Record Store der Welt findet man so ziemlich alles, was das Plattensammlerherz begehrt. Er ist in San Francisco, heißt Amoeba und wird durchweg von Nerds betrieben, die jedes noch so vage »Ich such da ’ne Aufnahme mit so ’ner Band« auf einen konkreten Tonträger zurückführen können. Und man trifft auf Leute, die sich mit ein paar seltenen Vinylscheiben dafür entschädigen, dass es im restlichen Teil ihres Lebens vielleicht nicht so easygoing läuft. Wie diese junge Mutter mit Kind, die aus einem nahe gelegenen Trailerpark in den Store kam, um ein bisschen abzuhängen. © Daniel Josefsohn
6/37 Vielitzsee, Sommer 2014: Es gibt wenige Situationen, in denen eine sensorisch unempfindliche Körperhälfte Vorteile hat. Zum Beispiel, wenn man nackt im Stroh liegt. Es sticht nicht so. Aber wir hatten leider für unser erstes gemeinsames Aktbild nicht viel Zeit zum Nachdenken, und deshalb liege ich prompt auf der falschen Seite. Das Zentrum des Bildes ist ohnehin meine Frau – mein wichtigster Mensch –, die all das ausgehalten hat (und aushält), wovor ich lieber die Augen verschließe. © Daniel Josefsohn
7/37 Israel 2008: Es ist Sommer im Moshav Herut. Die Erdbeerfelder sind längst abgeerntet, und Adi hat nach zwei Jahren ihren Militärdienst abgeschlossen. Adi ist die mittlere Tochter meines Bruders Mondo, die, wie alle aus der Familie außer mir, in Israel lebt. Als ich das Foto mit ihrem Gewehr im blühenden Garten mache, sind weder die Militäroperation »Gegossenes Blei« noch die Ereignisse des Arabischen Frühlings für irgendjemanden von uns erahnbar. Ich nenne das Bild FLEUROP. Heute, sechs Jahre später, fühlt es sich immer noch so an, als sei es eben gerade entstanden, und ich frage mich, was eine Waffenruhe eigentlich wert ist, wenn nur eine Seite mitmacht. © Daniel Josefsohn
8/37 Bayreuth 2012. Klaus von Dohnanyi ist ein kluger Mann. Als Befürworter der Neugestaltung des Richard Wagner Museums in Bayreuth hat er Folgendes angemahnt: »In Bayreuth sich erinnern heißt immer auch, Deutschland zu erinnern: Größe und tiefen Fall.« Ein Anliegen, das ich mir zu Herzen genommen habe, als ich mich zu dieser mission impossible entschloss: Ich war mit Sicherheit der erste Jude, der die Dachspitze des Bayreuther Festspielhauses erklommen hat. Ein Jude auf Hitlers Pimmel ist so ziemlich das Letzte, was in den Köpfen der Festspielleitung vorkommt. Wie es sich angefühlt hat? Ein kleiner Schritt für mich, ein großer für die jüdische Seele. © Daniel Josefsohn
9/37 Juli 2013. Der erste Sommer nach dem Schlaganfall. Ich weiß noch, wie die Künstlerin Julija Goyd meine Haare zerzaust und mir die Hortensie vor den Sack klemmt. Dann fotografiert sie mich mit Kippe im Mund, als wäre ich ein kleiner Sonnenkönig. Es war das erste Mal nach langer Zeit, dass ich mich okay gefühlt habe. Man kann auch ganz sexy im Scheißrollstuhl aussehen. © Daniel Josefsohn
10/37 Flughafen, Mexico City, 1995: Vor dem 11. September 2001 bin ich im Grunde ausschließlich mit dieser Kameratasche geflogen. Das Bodenpersonal der Lufthansa klebte in schöner Regelmäßigkeit beim Check-in das erste B von BOMB ab und wünschte mir, ohne mit der Wimper zu zucken, einen guten Flug. Im Flughafen von Mexico City ließen sich die Mitarbeiter von der Flugsicherheit sogar mit mir fotografieren. Ich weiß nicht, ob der Mann meiner Tasche einfach keine Beachtung geschenkt hat oder ob er meinen schwarzen Humor teilte. Ich habe mich jedenfalls noch nie so sicher gefühlt wie auf meinem Flug von Mexico City nach Acapulco. © Daniel Josefsohn
11/37 München 2002. Über Franz Beckenbauer etwas schreiben zu wollen, was nicht schon geschrieben wurde, grenzt an Irrsinn. Deshalb nur so viel: Das Porträt entstand für eine Reportage.Als Herr Beckenbauer sich anschickte, sein übliches Kameragesicht aufzusetzen, sagte ich zu ihm: »Herr Beckenbauer, stehen Sie doch mal gerade für mich. – Nein, ich meine so richtig gerade.« Und Beckenbauer zu mir: »So hab ich das letzte Mal bei der Kommunion gestanden, bei der heiligen Kommunion, aber da hatte ich noch eine Kerze in der Hand.« In dieser Haltung, schoss es mir durch den Kopf, hätte ich dich jetzt saugerne – nackt. Aber das habe ich natürlich nicht gesagt, sondern: »Herr Beckenbauer: Sagen Sie jetzt mal für einen kurzen Moment nichts.« Und Herr Beckenbauer tat, wie ihm geheißen. Seither heißt das Bild für mich: Deutschland, stillgestanden. © Daniel Josefsohn
12/37 Hotel Adlon, Berlin, 2002. Man ist und bleibt sein ganzes Leben lang ja irgendwie Hotelgast. Aber egal, ob man nun in der Absteige oder im Luxusschuppen landet, ein paar Dinge sind immer gleich wichtig. Das ideale Hotelzimmer ist eins, in dem ich müde werde. Bitte blickdichte Vorhänge, eine geile Minibar und einen rasant schnellen Fahrstuhl. Das ideale Hotelzimmer will immer fünf Sterne sein und erwartet dich auch morgens um drei mit einem guten Cheeseburger mit Pommes. Das ideale Hotelzimmer besteht jeden Matratzentest – die Matratze, auf der ich die drei Jungs fotografierte, haben wir leider ruiniert. Hotels, die sich am nächsten Morgen als Altersheim entpuppen (zum Beispiel das Chateau La Jolla Inn zwischen L.A. und San Diego), sollte man meiden: You check in, but you’ll never check out . © Daniel Josefsohn
13/37 Hamburg, neunziger Jahre: Manche Dinge musste ich mir damals schönsaufen, um sie genießen zu können. Zugegeben: Manchmal waren es auch Frauen. Im Hamburger Pudel Klub ging das nur mit diesen drei Biermarken. Und da das Ergebnis irgendwie immer das gleiche war, ist diese Collage der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des Alkoholrausches gewidmet. © Daniel Josefsohn
14/37 Peking 2006: Ich hatte nicht mit freier Sicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass wir das Motiv ungestört fotografieren konnten. Letztlich hat es uns Kofi Annan ermöglicht. Denn der Platz des Himmlischen Friedens wurde für den Besuch des UN-Generalsekretärs, der in diesem Moment vorbeifuhr, für kurze Zeit abgesperrt. Ein kleines Zeitfenster. Ich setzte den Stormtrooper-Helm auf und stellte das bekannteste Motiv in der neueren Geschichte des Platzes nach: den »Tank Man«, Symbolfigur des Studentenwiderstands vom 4. Juni 1989. Wir konnten danach gerade noch so unsere Sachen zusammenpacken. Dann rannten schon die ersten Wachsoldaten hinter uns her. © Daniel Josefsohn
15/37 Berlin 2014. Dieses Foto hat mich fast meine Nase gekostet. Auch wenn es von zwei Frauen eingerahmt wird: Sie sind weder schuld, noch sind sie der Auslöser gewesen. Es gab keine Eifersucht oder dramatischen Szenen. Ich hatte einfach verdrängt, nachdem ich dieses Stillleben mit dem einzigen Paar Schuhe, das ich derzeit noch tragen darf, gemacht hatte, die Schuhe wieder anzuziehen. Der Sturz kopfüber aufs Gesicht war schmerzhaft und blutig. Die Unvernunft liegt manchmal im Detail. © Daniel Josefsohn
16/37 Italien 1973. Das gelassene Innehalten, auf der Suche nach dem nächsten Motiv. Ich war zwölf und fühlte mich in meinem Mark-Spitz-Badeoutfit so unantastbar und rebellisch wie der amerikanische Schwimmstar. Andererseits haben die Vorbilder der Renaissance um mich herum wohl mehr abgefärbt, als mir bewusst war. Wenn ich das Bild anschaue, stelle ich vor allem die rasende Vergänglichkeit heutiger Selfies fest. © Daniel Josefsohn
17/37 2010, Äthiopien, Grenze zum Sudan. Manchmal kommt man mit zwanzig guten Fotos von einer Reise zurück. In Äthiopien war ich zwei Wochen, und zurück kam ich mit diesem einen Foto. Es hat für mich die Qualität eines holy shot. Die Jungs mit ihren Dromedaren und ich, wir kamen aus anderen Welten. Ich wusste das, und sie wussten das auch. Und wir hatten großen Spaß bei dem Gedanken, diese Welten aufeinandertreffen zu lassen. Zwei Jahre später wurde das Foto zur Grundlage eines Artworks, das ich für die Band Deichkind machte. Immer wenn ich das Foto anschaue, schießt mir der Titel des bekanntesten Tracks durch den Kopf: Leider Geil. Ich bin mir sicher, dass die beiden Dromedar-Hüter die Musik geliebt hätten. © Daniel Josefsohn
18/37 Berlin 2011. Manches im Leben haut hin und manches nicht. Aber ich fand es immer am besten, wenn ich mit einem blauen Auge davongekommen bin. Noch besser mit zweien. Wie in diesem Fall. Das Foto wurde deshalb zum Hauptmotiv meiner Ausstellung Lieber Gott vergiebe mir, die 2011 in einer kleinen Berliner Galerie stattfand. Ich weiß bis heute nicht, ob der liebe Gott mir vergeben hat. © Daniel Josefsohn
19/37 Berlin 2013. Man wird seine Familie nicht so schnell los. Nicht mal, wenn man sie gerne loswerden will. Es gab Momente, da wollte ich vor allem mich loswerden. Als mir meine Frau diese alte Polaroid-Kamera von 1986 in die Reha mitbrachte, grinste sie. Sie habe gute Jugenderinnerungen an das Sofortbild-Prinzip, und irgendwie sei das doch ein geeignetes Anfängermodell, passend zu meiner defizitären Lage. Meinen Sohn habe ich später hineingezeichnet. Familien sind sehr resistente Überlebenssysteme. Man kann das innerlich verfluchen. Ich weiß nicht, was ich ohne meine gemacht hätte. © Daniel Josefsohn
20/37 Berlin 2001. Vor Freude hopsen, vor Enttäuschung kotzen. So ungefähr war das für mich mit meinem schwer erkämpften Fototermin mit der Hip-Hop-Combo De La Soul während ihrer Deutschlandtournee 1989. Ich hatte als Fan der ersten Stunde ein Magazin dazu genötigt, mir ein Schreiben aufzusetzen, um überhaupt einen Termin zu kriegen. Doch die Jungs stiegen aus dem Bus, ließen mich – nach einem kurzen Check: »Hey! Where's Kentucky Fried Chicken? Where's McDonald’s?« stehen und kamen nicht mehr wieder. Das Shirt ist mir geblieben, der Mops war nur geliehen. Und natürlich bleibt auch bis heute das Gefühl ihres späteren Songs Ring Ring Ring: »Hey how ya doin' / Sorry ya can't get through / Why don't you leave your name and your number / And I’ll get back to you.« © Daniel Josefsohn
21/37 Israelisches Generalkonsulat. Berlin, 2012. Es tut mir leid, lieber Mossad. Ja, ich weiß: Ihr nehmt diese Pässe gerne für eure Agenten. Als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, nach 50 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, hättet ihr mir meinen Pass einfach nur entwerten und wiedergeben müssen. Aber nein: ein recylebares Gesicht! Ein Pass mit Stempel und Visa in Hülle und Fülle. Und dann auch noch gültig bis Ende 2014 – ihr habt ihn mir sofort abgeknöpft. Meine Mutmaßungen und bösen Fantasien, welcher israelische Agent auf welche Mission mit meinem ehemaligen Pass geschickt werden würde, haben mir keine Ruhe gelassen. Ich nehme an, mein israelischer Pass ist dann mit dieser Veröffentlichung endgültig von der Liste der Zweitnutzer gestrichen. Shabbat shalom. © Daniel Josefsohn
22/37 Januar 2013, Beelitz-Heilstätten. Das Foto erinnert mich an das Setting von »Frankenstein Junior«, einem meiner Lieblingsfilme mit dem britischen Komiker Marty Feldman. Ich finde, ich bin Marty hier wie aus dem Gesicht geschnitten. In der Neurologischen Frührehabilitation war ich allerdings nicht der einzige komische Patient. Zum Glück gab es einen renovierten und einen unrenovierten Kliniktrakt. Der unrenovierte verfiel vor sich hin, er gefiel mir spontan sehr viel besser und hatte den Vorteil, dass man sich irgendwie gesünder darin vorkam als im neuen. © Daniel Josefsohn
23/37 Island, Sommer 2010. Ich habe kaum eine Landschaft erlebt, die sich so rasend schnell theatralisch verdichten kann wie die isländische: zu apokalyptischen, surrealen oder auch lichtdurchfluteten Szenen. Dass die Volksbühne Berlin das Bild als Plakatmotiv für das Stück »Die Sonne« des französischen Theaterregisseurs Olivier Py ausgewählt hat, ist kein Zufall. Wer will, kann nun auch dabei an Höllenflüge oder Ikarus denken. Für diejenigen, die einen Trip nach Island planen: Alles Geld ins Auto stecken. Nie ohne Allradantrieb. Walfischsteak schmeckt großartig. © Daniel Josefsohn
24/37 Charles-Darwin-Station 2006. Manchmal fühlt sich mein jetziges Leben an wie das einer Riesenschildkröte. Ich werde zwar wahrscheinlich keine 100 Jahre alt, und selbst nach einer durchwachten Nacht sehe ich besser aus. Aber ich habe den Eindruck, dass ich meine erzwungene Entschleunigung nicht ganz so schnell loswerde. Insofern gibt es Parallelen. Als ich 2006 für die Modeproduktion »Dear Miss Darwin« auf die Galapagosinseln flog, war die Riesenschildkröte Lonesome George im Casting eingeplant. Ich habe die Letzte ihrer Unterart aber in der Darwin-Station nirgends sichten können. Er hatte wahrscheinlich die Nase voll von der ständigen Knipserei und ist irgendwo ins Gebüsch abgehauen. Bei dem hier abgebildeten Chelonoidis-nigra-Exemplar handelt es sich um eines der Weibchen, deren stille Sehnsucht nach Fortpflanzung mit Lonesome George unerfüllt blieb. Es hat sich sofort in mich verliebt. © Daniel Josefsohn
25/37 Rotenburg an der Fulda, Frühling 2003. Als man mich für ein Kunstprojekt mit dem Thema »Die dunkle Seite« anfragte, schien Rotenburg die beste Option. Die Kleinstadt war seit zwei Wochen ununterbrochen in den Schlagzeilen. Der Rotenburger Armin Meiwes hatte den Penis eines Berliners namens Bernd auf dessen Wunsch abgetrennt und gegessen. Dann hatte er den Mann zerstückelt und eingefroren. Mein damaliger Assistent und ich wollten diesen Ort in allen Facetten porträtieren. Aber als wir als Spurensicherung verkleidet vor dem Fachwerkhäuschen standen, war schon alles vorbei. Das Haus war zu spooky. Die Fassade, der Garten, die Stühle darin – es war das Grauen der Vorgarten-Idylle. Wir legten für meinen Irish Setter Jesus noch ein paar Würstchen aus, klauten die Stühle und machten uns dann vom Acker. Die Gartenstühle verrosten nach wie vor bei mir im Hof. Ich habe sie für viele Porträts benutzt. © Daniel Josefsohn
26/37 2010, zu Hause. Familienidyll. Mein Sohn Milo und meine Frau im Studio. Milos Lieblingshelm ist dieser mit Hühnerfedern beklebte Polizeihelm. Milo schätzt (wie vermutlich viele Kinder) bei Verkleidungen Mehrfach-Kombinationen. Es muss sich großartig anfühlen, wenn man Dino, Polizist und Häuptling Stinkende Socke auf einmal sein darf. Ich hoffe, dass er sich das nächste Mal von David Bowie inspirieren lässt. © Daniel Josefsohn
27/37 Paris, Hotel Raphael, August 1992. Während ich dies schreibe, sitze ich vor einem Haufen ungeordnetem Zeug. Um mich herum stapeln sich 150 Umzugskartons, und meine Freundin fragt mich im Sekundentakt: »Wegschmeißen oder behalten?« Nicht dass sie herzlos wäre, sie fühlt sich wahrscheinlich einfach nur wie ein Oberfeldwebel im Sechstagekrieg. Es ist ja auch eine völlige Illusion, dass man die Materialschlachten des Lebens gewinnen kann, denke ich und sage: »Wegschmeißen.« Da schaut mich Frau Oberfeldwebel dann doch für einen Moment sehr zögerlich an und zieht dieses alte Negativ aus dem Karton: Sybil Buck – was war das für ein cooles Gefühl. Ich hatte dich in einem von sommerlicher Trägheit geschwängerten Paris als einziges Model ausfindig machen können, weil du einfach kein Geld mehr für den Rückflug in die USA hattest. Und nun entsteigst du wie ein weiblicher Phönix aus der Asche diesem analogen Fotochaos. Wow. © Daniel Josefsohn
28/37 Hamburg 1990. Hier ein früher Josefsohn-Tillmans. Sieht man ja: keine Falten, nirgends. Nur ein ganz bisschen verknittert. Immer wenn mein Kollege Wolfgang Tillmans und ich uns von unseren fotografischen Erstlingswerken distanzieren wollten, nannten wir uns Debbi und Aaron. Ich Aaron Weintraub, er Deborah Debil. Das war so unsere Vorstellung von Tarnidentität. Das Opera House und das Front, die beiden besten Clubs damals, waren ja im Grunde unsere Wohnzimmer. Ein »Königreich der Räusche und Geräusche«, wie der Rainald Goetz das in Rave beschrieben hat. Die Falten kamen später ... © Daniel Josefsohn
29/37 Hamburg 2010. A letter to Jesus: Ich stehe mit Dir an meiner persönlichen Klagemauer, im Kunstverein Hamburg. Es ist Sabbat, wenige Stunden vor der Eröffnung meiner Ausstellung Es wird alles gut Mutter. Wie immer bist Du bei Fuß und ein Teil der Performance. Das ist gerade einmal vier Jahre her. Als ich Dich dieses Jahr am 21. Januar mit Deinen 14 Hundejahren einschläfern lassen musste, war mir klar, dass es für eine sehr, sehr lange Zeit keinen Hund mehr in meinem Leben geben würde. Dein Name war nicht nur die logische Fortsetzung meines Josefsohn-Nachnamens. Es gab kein Shooting, bei dem Du nicht dabei warst, keinen wichtigen Lebensmoment, den Du nicht begleitet hättest. Das Leben ohne Dich wird sich noch lange so anfühlen wie nach einem Schlaganfall. Eine Hälfte fehlt. © Daniel Josefsohn
30/37 Hamburg 1998. Ein Bild wie aus einem schlecht gezeichneten Comic: ich, mit meinem Popeye-Gesicht, zwischen Vitali (links) und Wladimir Klitschko, die ich damals porträtieren sollte. Wie sich das anfühlt, wenn dich so ein Faustschlag unerwartet trifft? Es geht schnell. Dein Körper fällt wie ein Stein. Den Schmerz, der in alle Körperfasern einschießt, merkt man gar nicht mehr. Als ich diese Erfahrung im Alter von 23 Jahren machte, fragte mich mein Freund Max, ob ich wüsste, warum ich eins in die Fresse bekommen hätte. Ich verneinte. »Sie war meine Mama«, sagte er bloß. Max, der sich sein Geld neben dem Jurastudium mit Zuhälterei verdiente, Max, der eines Nachmittags in unserem Lieblingscafé mit einer aufgemotzten Fregatte auftauchte, die ich für eine aus dem horizontalen Gewerbe hielt, dieser Max war von meinem halblauten »Was hat denn der für alte Huren im Programm?« so verletzt, dass er mir ein halbes Jahr später unangekündigt die Fresse polierte. Nicht immer sind die Fronten so klar. Nicht immer sind die Schläge so verdient wie in meinem Fall. © Daniel Josefsohn
31/37 L.A. 1996. 12850, Mulholland Drive: Diese Straße in Beverly Hills ist nicht erst seit David Lynch ein Ort, an dem man so ziemlich auf alles gefasst sein muss. Mein Mulholland-Drive-Erlebnis führte mich in Jack Nicholsons Schlafzimmer. Ich werde nie vergessen, wie ich mit meiner damaligen Freundin Noël Zutritt zu Jacks Haus bekam, weil eine Bekannte von einer Bekannten den Haus-Sitter kannte, der in den siebziger Jahren einer der meistgesuchten Bankräuber Amerikas gewesen war. Jack hatte ihm eine echte Chance auf Resozialisierung gegeben. Der Typ war so stolz, dass er seinen öden Security-Job mit heimlichen Hausführungen für Freunde ein wenig aufpimpte. Selbstverständlich herrschte absolutes Fotoverbot. Wir wurden in diese mit Filmrequisiten unfassbar vollgestellte Garage geführt, in der unter anderem der Flipper aus »Batman I« und Jacks erstes Auto, ein alter VW Käfer, geparkt waren. Dass man auf dem Weg zum Klo Jacks Schlafzimmer passieren musste, war meine »As good as it gets« Gelegenheit. Verdammt, wenn's nach mir gegangen wäre, hätte ich lieber die Garage fotografiert. © Daniel Josefsohn
32/37 November 2013. Am 30. November 2013, im Jahr der Schlange, klingelte mein Telefon. Oliver Polak, der Comedian und drittberühmteste Jude Deutschlands, war dran. »Wie geht’s dir? Willst du mich fotografieren?«, säuselte er ins Telefon. »Ich habe kein Budget, aber ich brauche dringend ein Foto für meine neue Show ›Krankes Schwein‹ .« – »Nein, Polak! Ich bin gerade selber eins!« Ich schmiss den Hörer wieder auf die Gabel. Polak und ich pflegen eine ausgesprochene Hassliebe zueinander. Wenn wir uns nicht lieben oder gegenseitig beschneiden, verklagen wir uns. Fünf Minuten später mailte Polak eine ungefähre Beschreibung dessen, was er sich vorstellte. Ich traf mich mit ihm, und nach zwei Stunden hatte ich seine Idee aufs Wesentliche eingekocht. Es war meine erste Schweinerei kurz vor dem Jahr des Hengstes. Und wir hatten sehr großen Spaß dabei. Was soll ich sagen? Wir sind Juden. Wir dürfen das. © Daniel Josefsohn
33/37 Sommer 2012. Meine Hände auf diesem wunderschönen Arsch. Wenn ich mir dieses Plakat anschaue, schießt mein Blutdruck immer wieder nach oben. Und wie viele Pillen sind inzwischen nötig, damit mein Blutdruck genau das nicht macht. Als Berlin im Juli 2012 mit dem Plakat zugepflastert wurde, war das Ende meiner Ära als Kreativdirektor der Volksbühne Berlin bereits beschlossene Sache. Das Plakat – das Foto dafür hatte ich mit Selbstauslöser aufgenommen – sollte noch mal ein richtiger Knaller zum Abschluss sein. Daraufhin, so wurde kolportiert, richteten die Mitarbeiter der Volksbühne eine heimliche Wettbox ein: »Wem gehört dieser Arsch?« Ich verwette meinen Arsch darauf, dass er Kitty gehört. © Daniel Josefsohn
34/37 Dezember 2012. Was ist die kleinste Einheit von Geduld? Wenn irgendeine Frage in den mehr als 400 Tagen, die seit dem Schlaganfall vergangen sind, in mein Hirn implantiert wurde, dann war es diese. In Beelitz-Heilstätten, wo ich über Monate meine Körperfunktionen neu trainieren musste, lag 97 Jahre vor mir der Gefreite Adolf Hitler. Ich gebe zu, diese historische Fußnote hat ab und an meinen Kampfgeist geweckt. Jeder Schlaganfall verläuft anders. Aber das Hirn ist zum Glück unglaublich lernfähig. Bis das neuronale Netzwerk eine Bewegung wieder als solche abgespeichert hat, musst du sie circa 5000-mal ausführen. Aber wenn du mehrere Bewegungen gleichzeitig ausführen willst, kommen leider noch ein paar Tausend Wiederholungen hinzu. Physiotherapeuten lieben es, einem ab und an solche motivierenden Sachverhalte einzuspeisen, während sie einen bis an die Erschöpfungsgrenze treiben. Ich wollte auf keinen Fall länger hier zubringen als ER. Und ich wollte Beelitz auf zwei Beinen verlassen. Es ist mir fast gelungen. Ich habe nur ein paar Wochen länger gebraucht als Adolf. © Daniel Josefsohn
35/37 Sommer 1980. Ich bin 19 Jahre alt. Dass der Vater von meinem Freund Kai Haase auf seinem Privatgrundstück eine Bowl gebaut hat, hat sich schnell unter uns Skatern herumgesprochen. Es ist der Himmel auf Erden: das erste vertikale Terrain in Norddeutschland. Wenn ich heute dieses Foto anschaue, zerreißt es mir das Herz. Es war die beste Zeit meiner Jugend. Das Skateboard war ein Alan-Ollie-Gelfand-Board, benannt nach dem Mann, der den wichtigsten Skateboardtrick aller Zeiten erfunden hat. Ich habe das Board immer noch. Wenn ich auf eine Stop-Reverse-Taste drücken könnte, würde ich mir wünschen, ich könnte meinem kleinen Sohn jetzt die Grundlagen für diesen Trick in einer Halfpipe beibringen. © Daniel Josefsohn
36/37 Frühjahr 2012. Ich mit dem Nerzschal meiner Oma Margarete Lustig, geborene Deutsch. Eine der wenigen aus der Verwandtschaft meiner Mutter, die den Holocaust überlebt haben. Sie war meine absolute Lieblingsoma, nicht nur, weil sie das Wiener Schnitzel erfunden hat. Als ich mir den Schal zum ersten Mal um den Hals legte, kam mir die Idee, eine Serie von männlichen Porträts damit zu machen. Der erste Kandidat nach mir war Frank Castorf, der Intendant der Berliner Volksbühne. Er hatte mich gerade um ein Porträt für die Bayreuther Festspiele gebeten. Castorf hat nie besser ausgesehen. Widerstand kleidet immer. © Daniel Josefsohn
37/37 17. August 2013. Mein erster Ausflug in die Kultur, zehn Monate nach meinem Schlaganfall. Ein Museumswärter des Hamburger Bahnhofs in Berlin transportierte mich mit einem Behindertenlift vor den Augen der Besucher vom alten Trakt in den neuen. Eine Unendlichkeit später schoben mich zwei Freundinnen durch die Ausstellung Martin Kippenberger: sehr gut / very good. Im Schlepptau mein kleiner Sohn Milo. Ich war angefressen, und Milo hatte ebenfalls sauschlechte Laune. Irgendwann standen wir alle vor dem Kippenberger-Selbstporträt. Die Ironie der Ironie der Ironie. Der erste gute Moment. Danke, Kippi. You made my day. © Daniel Josefsohn

Daniel Josefsohn ist einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Fotografen. Im November 2012 erlitt er einen Schlaganfall. Seitdem ist vieles anders. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Karin Müller erzählt Josefsohn im ZEITmagazin vom Leben vorher und nachher. Neben eigenen Werken zeigt er in der Fotokolumne Am Leben auch Bilder aus dem Familienalbum.

19. September 2014, 8:16 Uhr