オンライン版はドイツ語のみです。一部は英語版です。 形式テキスト
クリックするとショートテキストが表示されます。
Klicken Sie hier, um den Kurztext anzuzeigen
Die Spur führt nach Wien
Neues zu Bachs h-Moll-MesseIm Juli 1733 bewarb sich Bach um einen Posten als Königlicher Kompositeur am Dresdner Hof mit einer Missa brevis, die dem Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, Friedrich August II., gewidmet ist. Zu dieser Zeit wurden in der lutherischen Messe Leipziger Tradition an Feiertagen allein Kyrie und Gloria musikalisch ausgestaltet; die Gemeinde übernahm das Übrige. Nur an Festen wie Weihnachten wurde gelegentlich auch eine besondere Sanctus-Komposition aufgeführt. Bach schrieb vier weitere Kyrie/Gloria-Messen in den späten 1830ern (BW 233–236), die sein Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol später abschrieb und in einem Band zusammenfasste. Die Missa von 1733 war allerdings nicht dabei. Sie wurde vielmehr im Jahr 1749 zum Grundstein einer großen, katholischen (!) Missa Solemnis – der h-moll-Messe.
Der lange Weg zur Hohen Messe
Zwar führte Carl Philipp Emanuel Bach schon 1786 in Hamburg das Credo daraus auf, doch die eigentliche Rezeption dieses Meisterwerks begann erst im 19. Jahrhundert: 1834 unternahm die Berliner Singakademie unter Leitung von Carl Friedrich Rungenhagen die erste dokumentierte vollständige Aufführung – sechs Jahre nach der berühmten Wiederaufführung der „Matthäus-Passion“ unter Mendelssohn in Leipzig im Jahr 1829. Für beinahe 100 Jahre waren nur einige Abschriften der Partitur verfügbar. Der erste vollständige Druck erschien 1845 bei Simrock, doch diese und nachfolgende Ausgaben waren voller Fehler, die von Bach-Autoritäten wie Albert Schweitzer und anderen kritisiert wurden. Die Urtextausgaben von Friedrich Smend (1954), Christoph Wolff (1997) und Joshua Rifkin (2006) haben zumindest einige editorische Probleme gelöst, gleichwohl verdanken wir erst jüngeren Forschungen entscheidende neue Kenntnisse, dargelegt u. a. auf einem internationalen Symposion in Belfast (2007) sowie im Bach-Jahrbuch 2009.
Denn in letzter Zeit hat sich einiges getan in Sachen h-Moll-Messe: Zunächst musste das vom Tintenfraß betroffene, schwer lesbare Manuskript 2004 erneut aufwändig restauriert werden. Auch wurden im Rahmen des Projektes „Bach Digital“ hochwertige elektronische Scans angefertigt. Außerdem haben Uwe Wolf, Oliver Hahn und Timo Wolff die Handschrift einer Röntgen-Fluoreszenz-Analyse unterzogen. Ihre Ergebnisse machten es möglich, besser als bisher unterschiedliche Tinten voneinander zu unterscheiden und genauer zu erkennen, an welchen Stellen Bachs Sohn Carl Phillipp Emanuel Eingriffe vorgenommen hat. Infolgedessen erscheint 2010 eine von Uwe Wolf nochmals revidierte Partitur in der Neuen Bach Ausgabe.
Ein Auftrag, doch von wem?
Interessant sind auch jüngere Erkenntnisse von Peter Wollny: Er fand im Manuskript Spuren, die zeigen, dass offenbar der zweitjüngste Bach-Sohn, Johann Christoph Friedrich, ebenfalls zu den Arbeiten herangezogen wurde – 1748 und 1749 einer der wichtigsten Helfer des Vaters. Die von Wollny gefundenen Spuren lassen sich nur sinnvoll erklären, wenn davon ausgegangen wird, dass J. C. F. Bach an einem Stimmenmaterial gearbeitet hat. Da dieser Ende 1749 in die Dienste des Grafen von Schaumburg-Lippe zu Bückeburg trat, müsste dieser bisher noch nicht aufgefundene Stimmensatz, damit aber auch das Werk insgesamt um Weihnachten 1749 in etwa fertig gewesen sein. Wollny kam zu weitreichenden Schlüssen: „Es ist nunmehr davon auszugehen, daß Bach eine konkrete Aufführung des Werks […] im Sinn hatte, als er die Anfertigung von Aufführungsmaterial in Auftrag gab. […] Der spurlose Verlust des vermuteten Stimmensatzes könnte auf einen Auftrag von auswärts hindeuten.“
Etliche Umstände deuteten schon früher auf große Eile bei der Entstehung, wie sie bei einem Auftragswerk typisch ist. Dies zeigt schon die Wahl, die Bach für die Ergänzung seiner Missa von 1733 traf: Als vierten Satz verwendete er ein Sanctus, das bereits für das Weihnachtsfest 1724 komponiert worden war, und wie schon in den vier Missae parodierte Bach etliche früherer Kantatensätze aus allen Schaffensperioden, zurückreichend gar bis 1714 (Crucifixus). Nur Credo und Agnus Dei scheinen Neukompositionen der Jahre 1748/49, doch Untersuchungen verschiedener Forscher legen nahe, dass auch Sätze, zu denen man bisher keine Vorlage identifizieren konnte, sehr wohl auf früheren Arbeiten basieren können. Auch die Entscheidung, am Ende der Messe für das Dona das schon erklungene Gratias noch einmal mit neuem Text zu wiederholen, könnte auf Zeitdruck hindeuten.
Berlin? Oder Wien?
Es wäre äußerst ungewöhnlich, eine derart umfangreiche Missa Longa ohne jeden Anlass zu komponieren. Bach-Forscher haben schon vor einiger Zeit auch zwei mögliche Kandidaten für einen solchen ausgemacht: In Dresden stand die Weihe der neuen Hofkirche an, und in Berlin war im Sommer 1747 der Grundstein für die St. Hedwig Kathedrale gelegt worden, nur kurz nach Bachs berühmten Besuch am Hofe Friedrichs des Großen. Andere nahmen hingegen an, Bach habe diese Messe nur aus innerem Antrieb geschaffen und vermuteten, dass sie weniger „katholisch“ gedacht war, sondern besser im Sinne eines „letzten großen, überkonfessionellen opus summum“ zu betrachten sei. Doch nun scheint der Entstehungsanlass nicht mehr gänzlich im Dunkeln zu liegen. Michael Maul vom Leipziger Bach-Archiv fand bei seinen Quellen-Forschungen nämlich neue Spuren, die nunmehr nach Wien führen.
Der Graf von Q.
Bach stand offenbar in Kontakt mit Graf Johann Adam von Questenberg (1678–1752), einem Wiener Adligen, der seit 1735 erster kaiserlicher Kommissar im mährischen Landtag war. Auf seinem Schloss in Jarmeritz unterhielt er eine Kapelle und gab dort seit den 1720er Jahren teils aufwändige Opern-Aufführungen. Bach könnte er schon im Mai/Juni 1718 in Karlsbad kennengelernt haben. Dokumentarisch nachweisbar ist insbesondere, dass Questenberg Bach Ende März 1749 durch einen Boten kontaktiert und ihm verschiedene „Sachen eröffnet“ hat. Zu dieser Zeit befanden sich Questenbergs Kapelle und die Aufführungen in Jarmeritz freilich bereits im Niedergang; eine Aufführung der Messe dort ist unwahrscheinlich, und Dr. Maul konnte dafür in den Dokumenten des Grafen keine Hinweise finden.
Allerdings war Questenberg Mitglied einer illustren Bruderschaft: Seit 1725 existierte in Wien eine große Musicalische Congregation zu Ehren der heiligen Cäcilia, der Schutzheiligen der Musik, die sich aus Musikern der Hofkapelle, Wiener Künstlern und den Musikfreunden und -förderern aus den Reihen des Wiener Adels zusammensetzte. Zentrales Ereignis war die Feier des Cäcilientages am 22. November, der zunächst in der Michaelerkirche, ab etwa 1748 dann im Stephansdom begangen wurde, mit einer Vesper am Vorabend, einem Hochamt am Festtag, einem Requiem für verstorbene Congregations-Mitglieder und weiteren gelesenen Messen. Diese Feiern waren musikalisch außerordentlich reich gestaltet; soweit bisher nachweisbar, kamen ungewöhnlich umfangreich besetzte Werke zur Aufführung, darunter Cäcilienmessen von Reutter, Gassmann, Fux und Haydn.
Anklänge an den Wiener Stil
Maul fragt infolgedessen: „Könnte Questenberg im März 1749 Bach kontaktiert haben, um im Namen der Bruderschaft anzufragen (oder nur zu sondieren), ob der Thomaskantor bereit wäre, für die bevorstehende Cäcilienfeier der Musicalischen Congregation am 22. November 1749 eine Messe zu komponieren?“ Der Bach-Forscher betont zwar selbst, dass sich diese Frage mangels weiterer Dokumente derzeit nicht eindeutig beantworten lässt, doch ergäbe sich für ihn daraus ein „von pragmatischen Entscheidungen bestimmtes Entstehungsszenario für die komplettierte h-moll-Messe, das viele ihrer bislang nur unbefriedigend erklärten Eigenarten […] erklären könnte“ – darunter zum Beispiel unverkennbare Anklänge an den Wiener Stil im Credo. Mit seiner Hypothese möchte Michael Maul dazu anregen, „künftig mehr über die offenkundig ganz besonderen Cäcilienmessen der Wiener Musicalischen Congregation herauszufinden“. Hierzu wären freilich noch intensive Quellen-Forschungen in Wien erforderlich.
Ein Mozart-Rätsel, ebenfalls gelöst?
Solche Untersuchungen könnten jedoch nicht nur Licht in die Entstehung der h-Moll-Messe bringen: Es wäre, wie der Mozart-Forscher Ulrich Konrad jüngst vermutete, durchaus denkbar, dass auch Mozarts unvollendete große Messe c-Moll KV 427 ein Auftrag der Congregation gewesen sein könnte. Dies würde den großen Umfang ebenso erklären wie auch die Anklänge an Bachs h-Moll-Messe, die Mozart offenbar aus einer 1777 mit Baron van Swieten nach Wien gelangten befindlichen Kopie des Werkes kannte, welche später in den Besitz von Joseph Haydn gelangte. (Ironie der Geschichte: Haydn wurde genau zur Zeit der angenommenen Uraufführung von Bachs Messe, im November 1749, als Chorknabe im Stephansdom wegen eines dummen Jungenstreichs hinausgeworfen!) Und es würde schließlich auch erklären, warum Mozart die c-Moll-Messe abbrach: Die Musicalische Congregation wurde im Zuge der josephinischen Reformen am 30. Juni 1783 aufgelöst; eine Aufführung zur Cäcilienfeier am 22. November 1783 wäre spätestens damit unmöglich geworden.
Benjamin-Gunnar Cohrs
Dr. Benjamin-Gunnar Cohrs lebt in Bremen und ist Musikforscher, Dirigent und Mit-Herausgeber der Bruckner-Gesamtausgabe Wien.
Wenn Sie in Zukunft regelmäßig über Artikel in unserer Monatszeitung informiert werden wollenニュースレター購読.