Geschichte

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Die Ära Ballin

1886

Der neue Hapag-Vorstand beendet den Ratenkrieg und heuert Albert Ballin an, zunächst als Chef der Passageabteilung. Eine mehr als unorthodoxe Personalentscheidung, doch sie erweist sich als eine der glücklichsten der Wirtschaftsgeschichte: Der knapp neunundzwanzigjährige, hochintelligente Außenseiter, Visionär und Pragmatiker gleichermaßen, hat seine Lebensaufgabe gefunden. Er wird die Hapag an die Weltspitze führen.

1887

Der Hamburger Segelschiffsreeder Carl Laeisz, der maßgebliche Mann im Hapag-Aufsichtsrat, unterstützt und fördert den vorwärtsdrängenden Ballin, und dessen Dynamik reißt das Unternehmen mit: Das Gesellschaftskapital wird beträchtlich erhöht, zwei moderne Doppelschrauben-Schnelldampfer werden bestellt. Ebenfalls neu: Mit dem Stettiner Vulcan soll erstmals eine deutsche Werft eines der Spitzenschiffe bauen.

1888

Wilhelm II., der neue deutsche Kaiser, ist nicht nur seines Reiches ranghöchster shiplover, sondern auch einflussreichster Trendsetter: Seefahrt wird in Deutschland große Mode. Die Reedereien entdecken den Souverän auch als Wirtschaftsfaktor, ist doch allerhöchste Gunst ein unübertreffliches Werbeargument. Hapag und Lloyd wetteifern darum und erlangen bald einen halboffiziellen Status, der weit über ihre wirtschaftliche Rolle hinausgeht.

1889

Der erste Hapag-Schnelldampfer heißt zu Ehren der deutschen Kaiserin "Augusta Victoria" und bricht auf der Jungfernfahrt einen Rekord: Sieben Tage von Southampton nach New York! Das Schiff, vom Lloyd-Hausarchitekten Johann Poppe nach dem Motto "lückenlose Dekoration alles Dekorierbaren" im Rokokodesign ausgestattet, wird begeistert gefeiert. Trotz eines Fauxpas: Der korrekte Name Ihrer Majestät lautet Auguste Victoria.

1890

Überrumpelt vom rasanten Hapag-Comeback trifft Lloyd-Direktor Lohmann die folgenschwerste Fehlentscheidung in der Geschichte des Unternehmens: Er bestellt zwar neue Schiffe, hält aber am veralteten Ein-Schrauben-Typ fest und beraubt den Lloyd damit seines gesamten technischen und geschäftlichen Vorsprungs auf der hart umkämpften Nordatlantikroute. Eine Kette von Schnelldampfer-Unfällen belastet die Bremer weiter.

1891

Ballin, seit 1888 jüngster Hapag-Direktor, schickt das Flaggschiff "Augusta Victoria" im Januar auf eine Vergnügungsreise ins Mittelmeer. Seine Kollegen erklären ihn zwar für verrückt, aber die von Ballin selbst als Gastgeber begleitete wochenlange "Excursion" mit organisierten Landausflügen in dreizehn Häfen wird ein Riesenerfolg. Es ist auch die Premiere der modernen Kreuzfahrt, die Geburt des Seetourismus, den die Hapag fortan anbietet.

1892

Turbulentes Frühjahr in Bremen: Im Februar bricht Lloyd-Direktor Lohmann bei einem Vorbereitungsessen zur Bremer Schaffermahlzeit tot zusammen. Hermann Henrich Meier, dreiundachtzig Jahre alt, der aus Protest gegen die Geschäftspolitik des Direktors "sein" Unternehmen verlassen hatte, kehrt im Triumph zurück. Der siebenunddreißigjährige Jurist Dr. Heinrich Wiegand, Rechtskonsulent des Lloyd, wird zu Lohmanns Nachfolger berufen.

1893

Nach der verheerenden Cholera-Epidemie des Vorjahres verhängt der Hamburger Senat rigide Restriktionen über osteuropäische Emigranten. Ballin droht zunächst, mit der Hapag nach Bremen umzuziehen, dann ändert er die Geschäftspolitik radikal: Die Hapag, die sich nach Einlenken des Senats auch "Hamburg-Amerika Linie" nennt, setzt nicht mehr in erster Linie auf die konjunkturanfällige Passagierfahrt, sondern auf das Frachtgeschäft.  

1894

Hapag und Lloyd schließen einen Vertrag über einen gemeinsamen Liniendienst zwischen Mittelmeerhäfen und New York. Eine konkurrenzfähige italienische Schifffahrt gibt es noch nicht, und viele Auswanderer aus den Balkanländern ziehen die Verbindung über die "Sonnenroute" der langen Anreise in nördliche Häfen vor. Beliebt ist sie auch bei Amerikanern, die die alte Heimat besuchen oder Europa bereisen wollen.

1895

Entsetzen an der Küste: Die "Elbe", einst das berühmteste Schiff des Norddeutschen Lloyd, wird in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar im Ärmelkanal von einem britischen Kohlefrachter gerammt. Der große Lloyd-Dampfer sinkt binnen fünfzehn Minuten, mehr als 200 Menschen sterben. Es gibt nur 20 Überlebende, davon fünf Passagiere. Eine der Folgen des Unglücks ist eine Reichstagsdebatte über Schiffssicherheit.

1896

Für die Hapag läuft die "Pennsylvania" vom Stapel, ein kombiniertes Passagier- und Frachtschiff, mit 12.261 BRT zeitweise das größte Schiff der Welt. Es kann wahlweise über 2.800 Passagiere und 14.488 Tonnen Ladung oder nur eines von beiden befördern. Eine Serie hochrentabler P-Dampfer unterschiedlicher Größe bildet nun das solide wirtschaftliche Rückgrat der Hapag-Flotte. Die großen Luxusliner sorgen für ein strahlendes Image.

1897

Heinrich Wiegand, der den Lloyd reformiert, setzt die Priorität weiterhin auf die schnelle Passagierschifffahrt und hat einen Vier-Schornstein-Schnelldampfer bestellt. Dieser läuft beim Stettiner Vulcan vom Stapel, wird nach dem Großvater des regierenden Monarchen "Kaiser Wilhelm der Große" getauft und ist der erste eines ganzen Hohenzollern-Quartetts, mit dem der Lloyd die Vorherrschaft auf dem Nordatlantik zurückerobern will.

1898

Der "Große Kaiser" mit seiner Dienstgeschwindigkeit von über 22 Knoten bricht alle Rekorde: 5 Tage von den Needles bis Sandy Hook! In New York wird er umjubelt wie kein Schiff zuvor. Mit dieser Fahrt beginnt das "Jahrzehnt der Deutschen" im Kampf um die schnellste Atlantiküberquerung, die Vierschornstein-Schnelldampfer werden Stolz und Markenzeichen des Lloyd. In Bremen stirbt fast neunzigjährig eine Legende: Unternehmensgründer Hermann Henrich Meier.

1899

Bei Hapag und Lloyd werden gewissermaßen die bestehenden Verhältnisse legalisiert, Albert Ballin und Heinrich Wiegand zu Generaldirektoren ernannt. Die Zeit der Patriarchen ist vorbei. An der Spitze beider Gesellschaften stehen zur Jahrhundertwende moderne Manager, die über die Stadtgrenzen hinwegsehen und im großen Rahmen handeln können. Hapag und Lloyd kommunizieren und kooperieren in stärkerem Maße als zuvor.

1900

Eine britische Schifffahrtszeitschrift prägt den Begriff "Blaues Band", abgeleitet wohl von der blauen Schärpe eines Derbysiegers. Erster Träger der imaginären, aber prestigeträchtigen Trophäe ist der neue Hapag-Schnelldampfer "Deutschland". Die Saison wird überschattet vom Großfeuer auf den Lloyd-Piers in Hoboken, das über 300 Menschen tötet, die Anlagen zerstört und mehrere Schiffe erfasst, die brennend den Hudson hinabtreiben.

1901

Das Feld von Hapag und Lloyd ist die Welt. Ihre Liniennetze umspannen den Globus. Die Hapag besitzt die größte Flotte, der Lloyd befördert die meisten Passagiere weltweit. Beide sind Statussymbole des aufstrebenden deutschen Reiches, Botschafter einer ehrgeizigen Wirtschaftswundernation. Auf einem Hapag-Dampfer spricht denn auch Wilhelm II. die legendären Worte: "Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser".

1902

Hapag und Lloyd schließen gemeinsam einen Vertrag mit dem mächtigen amerikanischen Morgan-Trust, der u.a. die britische White Star Line übernommen hat und nach dem Monopol im Nordatlantikverkehr strebt. Ballin verhandelt so geschickt, dass die Deutschen ihre Unabhängigkeit wahren und ruinöse Konkurrenz vermeiden können. Der Griff des "Löwen der Wall Street" nach dem Nordatlantik-Monopol scheitert.

1903

Wilhelm II. weiht in Hamburg nicht nur ein Denkmal für seinen Großvater Wilhelm I. ein, sondern auch die neuen Hapag-Hafenanlagen an Kaiser-Wilhelm- und Ellerholzhafen, welche beide bei Flut 10 Meter tief sind. Drei Kilometer Kailänge, 140 einfache und drei Schwergutkrane, sieben Lagerhallen, 22 Kilometer Eisenbahngeleise - die Anlage nimmt einen beträchtlichen Teil der Hamburger Hafenfläche ein, zu Land wie zu Wasser.

1904

Nach dem großen Erfolg der Kreuzfahrten beschließt der Hapag-Vorstand, sich verstärkt im Tourismus zu engagieren. Zu Anfang 1905 übernimmt sie das renommierte Reisebüro von Carl Stangen in Berlin und führt es als "Reisebüro der Hamburg-Amerika Linie" fort. Damit rückt sie unter die größten Tourismus-Anbieter auf. Der Lloyd zieht mit dem "Weltreisebüro Union" nach. Beide residieren in Toplage Unter den Linden.

1905

Luxus statt Rekordgeschwindigkeit: Die Hapag steigt aus dem Atlantik-Wettrennen aus. Ihr neues Flaggschiff "Amerika" ist wirtschaftlicher als die Kohle fressenden Schnelldampfer, schlingert weniger und bietet mehr Raum und Komfort in allen Klassen. Auswanderer können hier erstmals eine III. Klasse mit Kabinen buchen, kaum teurer als das Zwischendeck. Die Passagiere reagieren begeistert, das "Palastschiff" ist ein Riesenerfolg.

1906

Wenige Jahre nach der Einweihung muss die Hapag ihre Auswandererhallen auf der Veddel beträchtlich erweitern. In dieser letzten Station auf dem alten Kontinent, einer international ausgezeichneten, 50.000 Quadratmeter großen "Auswandererstadt", betreuen 180 Hapag-Angestellte in diesem Jahr fast 102.000 Reisende aus ganz Europa, und die Nachfrage nach dem weltweit einmaligen Rundum-Service für Emigranten steigt immer weiter an.

1907

Bremen feiert: Der Norddeutsche Lloyd wird 50. Er lässt mit einem neuen Verwaltungsgebäude, zu dessen letztem Bauabschnitt jetzt der Grundstein gelegt wird, Selbstbewusstsein und Prosperität in Stein verewigen. Die lückenlos dekorierte Neorenaissance-Trutzburg, entworfen von Johann Poppe, dem Schöpfer des "Dampferstils", soll rund um die Papenstraße ein ganzes Stadtviertel bedecken, den höchsten begehbaren Turm der Stadt erhalten und 1910 vollendet sein.

1908

Eine schwere Rezession in der Schifffahrt trifft besonders den Lloyd als Passagierreederei hart, zumal auch immer mehr Reisende den Komfort der Hapag-Schiffe den Geschwindigkeitsrekorden der Bremer Schnelldampfer vorziehen. Lange - zu lange? - hat der Lloyd an seinem Markenzeichen festgehalten. Nun lässt er mit der "George Washington" ebenfalls ein langsameres, besonders luxuriöses Flaggschiff vom Stapel laufen.

1909

Im März stirbt Heinrich Wiegand mit nur 53 Jahren. Der vielseitige Manager hat an der Lloyd-Spitze auch sein zweites großes Interesse, die Entwicklung und Industrialisierung Bremens, Bremerhavens und des Unterweserraums energisch vorangetrieben. Der Lloyd hat Unternehmen mitbegründet oder Beteiligungen erworben, Wiegand sich intensiv für bessere Kanal- und Eisenbahnverbindungen eingesetzt. Sein Nachfolger wird Philipp Heineken.

1910

Sensation im Hapag-Geschäftsbericht, neue Dimension im zivilen Wettrüsten auf dem Nordatlantik: Die Hamburger wollen drei Luxusliner von gigantischen Ausmaßen in Auftrag geben, beispiellos luxuriös und mit um die 50.000 Bruttoregistertonnen größer als alles, was weltweit schwimmt, fast doppelt so groß wie das Flaggschiff der deutschen Handelsflotte, die Bremer "George Washington."

1911

Die dritte Dimension: Ein Planetoid wird entdeckt, der zwei Jahre darauf den Namen "Hapag" erhält. Das passt, denn die Hamburger gehören auch zu den Pionieren des zivilen Luftverkehrs. Ballin versucht seit 1908 "das Luftschiff dem Verkehr nutzbar zu machen." Die Hapag unterstützt den Grafen Zeppelin, ihre Reisebüros verkaufen seit 1910 die Tickets für die vier Luftschiffe der Deutschen Luftschiffahrts AG (Delag), bis 1914 schon an 42.000 Passagiere.

1912

Zwiespältiger Höhepunkt: Wilhelm II. tauft mit dem ersten Hapag-Giganten "Imperator" das größte Schiff der Welt. Ein Spitzenprodukt "made in Germany", ein schwimmendes Grandhotel, vorbildlich in Technik, Nautik und Service, in dem sogar die Emigranten in Kabinen statt in Massenquartieren untergebracht sind. Doch vom Bug des Luxusliners droht ein Symbol politischer Hybris, ein riesiger Bronzeadler auf einer winzigen Weltkugel.

1913

Hochkonjunktur und Optimismus in Europa. Albert Ballin jedoch, als Topmanager mit der Hapag auf dem Zenit des Erfolges, weiß um die Risse unter der glänzenden Oberfläche. Er sorgt sich zunehmend um die politische Spannung zwischen Deutschland und Großbritannien, fürchtet, das Wettrüsten in Europa könne zu einem verheerenden Krieg führen. So versucht er seit 1908, in halboffiziellen politischen Missionen diskret zu vermitteln.

1914

Die Taufe des dritten Hapag-Riesen "Bismarck" in Hamburg, zu der wieder Wilhelm II. angereist ist, wird die Abschiedsgala des Kaiserreiches. Acht Tage später fallen die Schüsse von Sarajevo. Ballin reist insgeheim zu einem letzten, verzweifelten Vermittlungsversuch nach London. Vergeblich. Anfang August herrscht der, wie der Hapag-Chef von Anfang an urteilt, "dümmste und blutigste Krieg, den die Weltgeschichte je gesehen hat."

1915

Überleben als Hauptaufgabe: Der Überseeverkehr ist zusammengebrochen, die Schiffe von Hapag und Lloyd, die die Marine nicht braucht, rosten in deutschen oder fremden Häfen an der Kette, viele Angestellte sind zum Militär eingezogen. Viele andere Mitarbeiter und die Anlagen beider Reedereien dienen dem Reich: Hafenschuppen werden Proviantlager, die Auswandererhallen Krankenhäuser, der Lloyd rüstet Lazarettzüge aus.

1916

Aufsehen in den USA: "German U-Boot in Baltimore!" Das 65 Meter lange Tauchfrachtschiff "Deutschland", vom Lloyd heimlich gebaut, ausgerüstet und mit 29 Mann unter Lloyd-Kapitän Paul König besetzt, hat die britische Nordsee-Blockade durchbrochen. Es lädt Kautschuk und Nickel und schafft auch die gefährliche, gut dreiwöchige Rückreise. Das zweite Handels-U-Boot "Bremen" hat weniger Glück. Sie bleibt auf der ersten Ausreise verschollen.

1917

Die USA treten in den Krieg ein. Das Hapag-Flaggschiff "Vaterland", Buchwert 34 Millionen Mark, das seit 1914 in New York aufliegt, wird beschlagnahmt. "Von der Hamburg-Amerika Linie wird nicht viel nachbleiben", resigniert Ballin. Zusammen mit Lloyd-Chef Heineken hat er dennoch lange für ein Schifffahrts-Entschädigungsgesetz gekämpft. Es tritt im Herbst in Kraft und sieht hohe Neubaudarlehen nach Kriegsende vor.

1918

Der Krieg ist verloren. Ballin, der von Berlin aus jahrelang als "Pazifist" schwer diskreditiert wurde, wird plötzlich vom Großen Generalstab gebeten, die Friedensverhandlungen zu führen. Er ist selbst dazu noch bereit, doch den Zusammenbruch seiner Welt und seines Lebenswerks erträgt er nicht mehr. Ballin vergiftet sich, als die Revolution Hamburg erreicht, und stirbt, 61 Jahre alt, am Mittag des 9. November zusammen mit dem Kaiserreich.