Der Jesuswahn

“Jesus würde heute twittern. Jesus würde heute Facebook nutzen.” Aussagen wie diese werden in Internetforum ernsthaft diskutiert, und wer an der Verbreitung der christlichen Botschaften interessiert ist findet solche zeitgemäßen Medien und ihre Nutzung dafür durchaus sinnvoll.

Jesus von Nazareth – auf ihn berufen sich Befreiungstheologen in der 3. Welt ebenso wie Kreationisten und militante Fundamentalisten, die vor Morden an sogenannten Abtreibungsärzten nicht zurück schrecken. Auf ihn berufen sich weltferne Theologen, die in einem vatikanischen Paralleluniversum leben ebenso wie sich aufgeklärt gebende Bischöfe, die politische Missstände beim Namen nennen. Befürworter eines Krieges, wie er in Afghanistan geführt wird, beten zu Jesus genau so wie dessen scharfe Kritiker. Der Fußballer küsst sein umgehängtes Kreuz, wenn ihm ein entscheidendes Tor gelungen ist, der geschlagene Torwart hingegen beschließt, vor dem nächsten Elfmeter den Erlöser anzurufen. Jesus hier, Jesus da.

Jesuswahn nennt der studierte Theologe Heinz-Werner Kubitza sein Buch, das soeben erschienen ist. Dr. Kubitza fügt sich mit seinem Buch in eine Reihe von Autoren ein, die vor allen in den letzten Jahren für Furore (und Furor) gesorgt haben, da sie mit überdeutlichen Worten die ihrer Ansicht nach verheerende Wirkung von Religionen auf das Weltgeschehen aufzeigen. Die Resonanz ist immens, Autoren wie der Biologe Richard Dawkins, der Philosoph Michel Onfray oder der anglo-amerikanische Publizist Christopher Hitchens sind mit Vortragsreihen unterwegs, der deutsche Philosoph Michael Schmidt-Salomon wird von Talkshow zu Talkshow gereicht. Das ist wichtig und notwendig, brachte der Bewegung jedoch schnell den Vorwurf eines atheistischen Missionarismus ein.

Kubitza hat sich das wohl schwierigste Gebiet im Bereich der antireligiösen Aufkärung vorgenommen, denn auf Jesus lässt kein Gläubiger etwas kommen. Jesus, der Bergprediger, Jesus, der sich für uns alle am Kreuz geopfert hat – diesen anzugreifen, das erfordert Mut. Und vor allem Kompetenz. Als Doktor der Theologie, der viele Jahre in Kirchengemeinden tätig war, kann man dem Autor diese wahrlich nicht absprechen, und so stellt man rasch bei der Lektüre des Jesuswahns fest, dass Kubitza weiß, wovon er spricht. Schlüssig weist er nach, wie sich vom alttestamentarischen Gott die Entwicklung zum neutestamentarischen Jesus vollzogen hat und wie aus einem von vielen in Palästina vor 2000 Jahren tätigen Wanderprediger eine im wahren Sinne des Wortes vergötterte Gestalt entwickelte. Dieses Buch ist ein überaus wichtiges Buch, nicht alleine für Gläubige, die sich bei der Lektüre mit allerlei unbequemen Fakten auseinander setzen müssen (so sie dazu überhaupt bereit sind), sondern auch für Menschen, die sich als Atheisten sehen und denen die Figur Jesus – einmal ganz abgesehen von der Frage, ob ein Jesus von Nazareth überhaupt jemals gelebt hat – eigentlich egal ist. Denn auch Agnostiker und Atheisten sind in ihrem Alltag immer und überall von christlichen gesellschaftlichen und moralischen Vorstellungen betroffen. Ob man als Gottfreier will oder nicht – auch wir haben vieles verinnerlicht, was seinen Ursprung im Christengott und den Lehren Jesu hat. Und daher geht Jesus auch die etwas an, die oberflächlich betrachtet mit ihm “nichts am Hut haben”.

Der Jesuswahn ist ein Buch, dem man eine möglichst große Verbreitung wünscht, denn es rührt mit einer klaren, gut lesbaren Sprache an Fragen (und gibt Antworten), die dank des hohen Ansehens seines Protagonisten, das er in allen Spielarten des christlichen Glaubens genießt, unbedingt aufgeworfen werden müssen. Auch Jugendliche sollten den Jesuswahn lesen, um eine aufgeklärte Sicht auf Jesus kennen zu lernen. Das Herrenzimmer sprach mit Dr. Kubitza über sein Buch.

awb

Wahn! Wahn! Überall Wahn?

Heinz-Werner Kubitza, Sie haben ein Buch mit dem Titel “Der Jesuswahn” veröffentlicht, das mit dem Satz beginnt: “Die Bibel ist das am meisten  überschätzte Buch der Weltliteratur” und sind Doktor der Theologie – wie  passt das zusammen?

Gerade Theologen sind am besten geeignet christentumskritische Bücher zu schreiben. Denn sie kennen durch ihr Studium die Probleme der Jesus-Überlieferung meist sehr genau und wissen um die Schwachpunkte der Überlieferung und der Kirche. Doch da sie als Pfarrer in Diensten der Kirche stehen, hängen sie diese Kenntnisse besser nicht an die große Glocke, wenn sie nicht Probleme mit der Kirchenleitung oder ihren Gläubigen bekommen wollen.

Es waren vor allem Professoren der Theologie, die, in dem sie wissenschaftlich nach den Grundlagen des Christentums fragten, zu Ergebnissen kamen, die die Fundamente der Kirchen und deren Dogmen mehr erschütterten als alle außerkirchlichen Kritiker zusammen. Ein interessantes Phänomen.

In einem kurzen ersten Teil ihres Buches gehen Sie auf den Gott des  Alten Testaments ein, den Sie als eifersüchtigen, rachsüchtigen, sadistischen und grausamen Gewaltfanatiker beschreiben, aber sind es nicht in Wirklichkeit von Menschen – Herrschern, Priestern – veranlasste Gesetze und Geschehnisse, die entsprechende Ereignisse im Alten Testament auslösen? Tut man also, angenommen, es gäbe ihn, dem alttestamentarischen Gott nicht Unrecht, wenn man ihn daran misst?

Natürlich sind die Aussprüche Gottes im Alten Testament Erfindungen aus Priesterkreisen. Wo immer man auf der Welt Gottessprüche findet, dürfte dies nicht anders sein. Sie sind situationsbehaftet, meist an die Gläubigen der eigenen Religionsgruppe gerichtet und stärken das religiöse Binnensystem. Es ist auch geradezu absurd, zu welchen Detailfragen z.B. der kultischen Praxis sich der alttestamentliche Gott geäußert haben soll. Kein Gott, der etwas auf sich hält, würde sich mit solchen Kleinigkeiten abgeben. Und auch seine menschenverachtenden und sadistischen Sprüche sind natürlich erfunden. Man könnte sagen, die einzige Entschuldigung Gottes ist seine Nichtexistenz. Doch es spielt eben keine Rolle, ob ein Gott etwas wirklich gesagt hat oder nicht. Steht es erst mal in sog. Heiligen Schriften, wird es für Gläubige zur absurden Norm und zum goldenen Kalb, um das umso mehr getanzt wird, je gläubiger man ist.

“So spricht Jahwe: Um Mitternacht gehe ich durch Ägypten. Dann wird jede Erstgeburt im Land Ägypten sterben …” (Ex 11,4-6) – das klingt kaum nach einem gütigen Gott – wie rechtfertigen Theologen heute eine solche Stelle – von denen Sie in Ihrem Buch ja zahlreiche zitieren. Und was sagen Gläubige, wenn man sie mit solchen Bibelstellen konfrontiert?


Die Inhumanität solcher Stellen wird von Gläubigen einfach nicht realisiert, denn hier handelt ja der von ihnen verehrte Gott, und was der tut, muss ja richtig sein. So kommt es, dass man Gott für Dinge rühmt, für die man ihn eigentlich vor ein Kriegsverbrechertribunal stellen müsste. Doch Gläubige haben immer die Tendenz, ihren Gott nur im besten Lichte zu sehen, sie harmonisieren, idealisieren und blenden unangenehme Sachverhalte aus. Sie lesen bevorzugt Stellen der Bibel, die das religiöse Wellness-Gefühl am besten bedienen.

Im Übrigen ist die obige Geschichte historisch eine sehr späte Legende, abgefasst wohl erst 600 Jahre nach dem (nicht wirklich statt gefundenen) Geschehen.

Welches Urteil fällen Sie über das Alte Testament?

Es wird Sie verwundern, ein durchaus ambivalentes. Als Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung ist es ungewöhnlich interessant, denn das AT hatte eine sehr lange Entstehungsgeschichte und spiegelt gut 1000 Jahre Geschichte des Nahen Ostens wider. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man von diesen Büchern durchaus fasziniert sein. Doch dies ist ja nur ein Vergnügen für Spezialisten. Als Buch für die Gläubigen oder gar als ethische Richtschnur ist das Alte Testament eine Katastrophe, denn wir finden an vielen Stellen wirklich ethisch rückständige Erzählungen und absurde religiös begründete Gesetze. Viele Stellen sind meilenweit von einer modernen Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft entfernt, oft wird demonstriert, wie man gerade nicht handeln sollte. Die Kirchen tun immer noch so, als sei die Lektüre der Bibel und auch des AT besonders zu empfehlen. Sie sind gezwungen etwas zu loben, was auch vielen ihrer Vertreter wegen seiner inhumanen Stellen Bauchschmerzen bereitet und geradezu peinlich ist. Das ethische Niveau der Pfarrer und Priester, dies darf man ruhig unterstellen, ist deutlich höher als die Schriften, die sie als „heilig“ erachten und empfehlen.

Nun also zu Jesus und zum “Jesuswahn” – leiden Menschen, die an Jesus und seine Lehren glauben, Ihrer Meinung nach an einem Wahn, sind also reif für die Psychiatrie?

Im Prinzip glaube ich das nicht. Gerade das heute säkularisierte Christentum hat viel mehr Werte der Aufklärung internalisiert, als ihm das selbst bewusst sein dürfte. Durch das Fegefeuer der Aufklärung sind auch viele absurde Vorstellungen von Christen geläutert worden. Und auch die meisten Christen wollen im Grund nicht zurück zur repressiv-religiösen Gesellschaft früherer Jahrhunderte, auch sie haben sich an Werte wie Toleranz und Rechtsstaatlichkeit gewöhnt und wollen sie nicht missen. Allerdings gibt es auch bei uns noch religiöse Gruppen, ich denke da an bestimmte Strömungen bei den Evangelikalen und biblischen Fundamentalisten oder bei einem sich konservativ verstehenden sakramentalen Katholizismus, wo man bei vielen Vertretern durchaus von einer religiös-neurotischen Haltung sprechen könnte. Zwar sind auch hier vielleicht nur wenige „reif für die Psychiatrie“, doch zweifellos dürfte bei vielen, die sich als wirklich Gläubige empfinden, der religiöse Glaube ihr Leben oft behindern. Man denke nur daran, was es psychisch bedeuten kann, wenn ein Gläubiger wirklich sich den z.B. im Katholizismus noch amtlichen Höllenglauben aneignet, oder sich nicht lösen kann von der absurden aber gemeinchristlichen Vorstellung, er sei ein Sünder und habe den Tod verdient. Und wie viele Millionen haben sich durch die primitiv-religiöse Sicht der katholischen Kirche auf die Sexualität in ihrer Persönlichkeit einschüchtern oder vergewaltigen lassen. Religionen bergen, eben weil sie den Menschen mit der schwarzen Brille der Dogmatik und nicht mit seinen natürlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten sehen, immer ein erhöhtes Potenzial für eine neurotische Störung.

Glauben Sie persönlich, dass es Jesus von Nazareth gegeben hat, dass er also eine historische Person ist?

Fast alle Forscher gehen heute davon aus, dass es eine historische Person Jesus tatsächlich gegeben hat und das er nicht nur eine komplette Erfindung ist. Denn wäre er eine Erfindung der ersten Gläubigen, hätte man bestimmte peinliche Begebenheiten nicht berichtet, etwa dass er sich bei der Predigt vom nahen Gottesreich schlicht geirrt hat, oder das er, der Sündlose, sich einer Sündertaufe durch Johannes den Täufer unterzogen hat. Am meisten hatten die ersten Christen jedoch mit seinem für damalige gläubige Juden schändlichen Tod am Kreuz zu knabbern. Erst als es gelang, dieses persönliche Scheitern Jesu in ein von langer göttlicher Hand vorbereitetes Heilsgeschehen zu verwandeln, konnte das Christentum aus den Startlöchern kommen.

Kurz: Die Überlieferung von Jesus erklärt sich besser, wenn man davon ausgeht, das am Beginn tatsächlich ein Mensch und kein Mythos stand. Freilich hat man den Menschen Jesus dann innerhalb von einigen Jahrzehnten zu einem Gott gemacht.

Nun wollen Sie mit Ihrem Buch den Menschen ihren Jesus nehmen, den sie in Not anbeten, auf den sie sich bei guten Taten berufen, an dessen Gebote sie sich im Leben halten … was haben Sie denn dann als Ersatz zu bieten?

Vielleicht ein Stück mehr Mündigkeit und Aufrichtigkeit im Leben, mehr Authentizität und mehr Einsicht in das wirkliche und nicht religiös-verbrämte Verständnis des Menschen. Ein Stück mehr Erwachsensein der Persönlichkeit, die sich nicht an den ohnehin nicht realen Wunschbildern eines Schlaraffenlandes nach dem Tode ergötzt, sondern realistisch sich und seine Umgebung wahrnimmt. Ich halte es für sinnvoll, wenn Menschen ohne religiöse Gehhilfe ihr Leben meistern können, wenn sie sich nicht von Religionen einen für alle gültigen Lebenssinn vorschreiben lassen, sondern selbst ihrem Leben versuchen Sinn zu geben. Und dass sie damit leben können, dass andere die Frage des Sinnes anders beantworten. Und ich bin auch fest davon überzeugt, dass moderne Werte wie Toleranz und Solidarität begrüßenswerter sind als religiöser Glaube, und dass die Menschenrechte und eine Orientierung daran viel wertvoller ist als alle religiösen Gebote, mögen noch so viel Götter sie verkünden.

Gerade vorhin lese ich in der Zeitung in einem Veranstaltungshinweis: “Ist uns die Botschaft Jesu auch heute noch wichtig? Wie kann es gelingen, Jugendliche für die allumfassende Liebes- und Friedensbotschaft von Jesus zu begeistern?” Was denken Sie, wenn Sie so etwas lesen?

Das ist frommer Unsinn. Die Botschaft Jesu war, soweit man sie überhaupt noch eruieren kann, gar nicht an unsere Zeit oder an die heutigen Gläubigen gerichtet. Jesus wird von Gläubigen und sogar auch von Religionskritikern meist viel zu positiv gesehen. Man darf nicht vergessen, dass er, wie in seiner Zeit üblich, einen massiven Höllen- und Gerichtsglauben vertreten hat, dass er allen Ernstes der Meinung war, das Reich Gottes stünde unmittelbar bevor, und dass er seine Sendung offenbar nur rein innerjüdisch verstand, also für die vielen „Ungläubigen“ sich überhaupt nicht als zuständig empfand. Ich sehe ihn als religiösen Fundamentalisten mit durchaus auch fanatischen Zügen („Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“). Die Bibel bietet uns eben ein sehr idealisiertes Bild dieses Wanderpredigers aus Galiläa. Er wäre uns sicher heute viel fremder, als Gläubige und Ungläubige erwarten würden. Dass er eine „allumfassende Liebes- und Friedensbotschaft“ gehabt habe, ist nichts weiter als Wunschdenken und religiöser Kitsch.

Im Untertitel heißt Ihr Buch “Die Entzauberung einer Weltreligion durch die wissenschaftliche Forschung” – denken Sie tatsächlich, dass man jemandem, der an jungfräuliche Empfängnis, Wundertätigkeiten und Wiederauferstehung glaubt, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen den Geist gerade rücken kann?

Das kommt darauf an, wie stark der Virus des Glaubens noch zubeisst. Es gibt ja viele Spielarten von religiöser Existenz. Wirklich naiv Gläubige und solche, bei denen der Glaube bereits neurotische Züge angenommen hat, lassen sich sicherlich nur schwer von Argumenten beeindrucken. Sie klammern sich vielleicht eher noch fester an den als Gott empfundenen Götzen, und halten dies sogar noch für einen Ausdruck von besonderer Wahrhaftigkeit. Andere aber, und dies dürfen viel mehr sein, sind noch unentschieden im Grenzbereich zwischen religiöser und nichtreligiöser Weltsicht. Für diese kann ein Buch wie „Der Jesuswahn“ durchaus eine Wende im Denken oder ein Bewusstwerden der eigenen Position bewirken. Es wäre ja schlimm, wenn Argumente nichts bewirken könnten. Auch viele Religionskritiker haben ja durchaus eine religiöse Vergangenheit.

Angenommen, Jesus habe vor 2000 Jahren wirklich gelebt, sei aber einer von vielen mehr oder weniger wirren Predigern seiner Zeit gewesen und hätte auf wundersame Weise dadurch, dass man sein Wirken weitergetragen hat und nicht das irgendeines anderen seiner Kollegen, in der Folgezeit Karriere als Schöpfer des Christentums gemacht – ist das nicht eigentlich eine sehr bizarre Vorstellung?

Sie ist bizarr. Aber so ist Geschichte bisweilen. Auch Johannes der Täufer hatte Jünger, die mit den Jesusjüngern konkurriert hatten. Kaum ein Gläubiger weiss dies heute noch. Und wenn es nicht einen so charismatischen, ich würde sagen fanatischen Propagandisten wie Paulus gegeben hätte, der das, was er als Jesu Botschaft verstand, aus dem jüdisch-palästinischen Bereich in die griechische Ökumene getragen hätte, vielleicht wüsste dann heute kaum noch jemand, dass es eine Person wie Jesus jemals gegeben hat. Die allermeisten religiösen Enthusiasten der damaligen Zeit sind heute vergessen, die Jesusbewegung hat überlebt. Doch irgend eine Vorstellung muss immer überleben. Es ist absurd, darin das Wirken eines Heiligen Geistes zu sehen (würde er wirken, müsste die Welt anders aussehen), vielmehr ist es das halb zufällige und unbestimmte Zusammentreffen voneinander unabhängiger Faktoren, das hier eine neue Religion ins Leben gerufen hat, die dann zur Dominanzreligion zumindest in unserem Kulturkreis geworden ist.

Von Ihrem Gottes- und insbesondere Jesusbild aus betrachtet – wie erklären Sie, dass durchaus vernunftbegabte, intelligente Menschen an einen Gott glauben und die Figur Jesus mit all ihren Aspekten, von der jungfräulichen Zeugung bis zur Wiederauferstehung, verehren und sogar als Leitfigur für ihr Leben wählen?

Das ist in erster Linie der Sozialisation geschuldet. Menschen ergreifen, wenn sie religiös werden, in aller Regel die Religion, die sie in ihrem Umfeld vorfinden. Wer in den USA aufwächst wird Christ, wer in Ägypten aufwächst wird Moslem. Die Frage, welche Religion man wählt, hat somit überhaupt nichts mit Wahrheit oder auch nur freier Entscheidung zu tun, auch wenn das Gläubige regelmäßig so empfinden. Gläubige kennen in der Regel auch nur ihre eigene Religion. Man glaubt, weil andere glauben, und wenn einen Freunde und Bekannte von der Wahrheit einer Religion berichten, ist man selbst schon halb für diese Religion gewonnen. Religion ist Selbstbetrug auf Gegenseitigkeit. Und man darf spekulieren, ob Glaubensstärke nicht vielmehr eine Art von Schwäche im kritischen Denken ist, die manche Menschen religiös werden lässt und andere nicht. Gibt es eine religiöse Disposition? Wäre Joseph Ratzinger, wäre er nicht in Bayern, sondern in einem Vorort von Teheran aufgewachsen, eben nicht Papst, dafür aber ein bedeutender Imam geworden? Und wäre er auch als Imam ein Hardliner geworden?

In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe von Buchveröffentlichungen gegeben, die sich für einen Atheismus stark machen, ich nenne Hitchens, Dawkins, Onfray, Schmidt-Salomon, nun auch Sie mit dem Jesuswahn – hat diese Bewegung nicht etwas stark missionarisches an sich? Fühlen diese Autoren sich eigentlich wohl, wenn sie von einer Talkshow und von einem Vortrag zum nächsten gereicht werden?

Religionskritikern wird oft vorgeworfen, dass sie selbst auch eine Religion haben, nämlich die Nichtreligion. Die Aussage erregt zwar bei Gläubigen immer viel Zustimmung, ist aber gänzlich falsch. Es ist eben etwas anderes, eine bestimmte Religion zu propagieren oder die Menschen aufzufordern kritisch zu sein und sich nicht religiös vereinnahmen zu lassen, egal von welcher Religion. Religionskritiker verkaufen keine Inhalte, sondern eine bestimmte Methode, nämlich die, sich seines Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen. Der Appell an die Vernunft und die Verantwortung des Einzelnen macht den Menschen frei, die Predigt für eine bestimmte Religion versucht ihm diese Freiheit zu nehmen. Wenn das Bemühen der Religionskritiker als „missionarisch“ empfunden wird, mag dies aber auch damit zusammen hängen, dass es einfach sehr schwer zu ertragen ist zu sehen, dass sich Menschen in allen möglichen religiösen und esoterischen Verbänden und Gruppen jeden nur erdenklichen Unsinn als Erkenntnis oder Offenbarung eines dahergelaufenen Gottes oder selbsternannten Gurus aufschwatzen lassen. Das tut einem weh. Es spricht für die Religionskritiker, dass ihnen das Schicksal ihrer Mitmenschen in dieser Hinsicht nicht egal ist.

Keine Götter mehr, kein Erlöser Jesus, keine Gebote mehr, keine Bergpredigt – in welches Loch fallen die Christen denn dann, wenn ihnen das alles genommen wird? Selbst wenn Sie es meinen, besser zu wissen – sollte man die Weltordnung nicht eher so lassen, wie sie ist?

Wenn die Welt tatsächlich so prima wäre, könnte man sie so lassen. Aber sie ist es ja nicht. Obwohl die Christen der Meinung sind, dass der Tod Ihres Gottes am Kreuz den Frieden gebracht, die Menschheit versöhnt, die Liebe verkündet, den Tod überwunden und die Freiheit gebracht hat, hat sich de facto doch überhaupt nichts an den inhumanen Zuständen geändert. Und es hat den Anschein, dass der angeblich liebende Gott sich auch künftig eher in vornehmer Zurückhaltung denn in tätiger Hilfe für seine Geschöpfe üben wolle. Wenn der HErr sich schon vornehm zurückhält, sollten wir wenigstens versuchen, die Zustände in dieser Welt zu verbessern, und zwar ohne Religion. Glaube ist leider allzu oft ein Mittel zur Wirklichkeitsflucht, ein religiöser Joint in Permanenz. Könnten Religionen die Welt verbessern, wäre dies längst geschehen. Zeit genug haben sie ja gehabt.

Die neue Atheistenphalanx ist keineswegs wirklich eine solche – Joachim Kahl, ein Veteran des Atheismus, nennt Dawkins’ Gotteswahn “Ein Zeugnis intellektuellen Cäsarenwahns”, John Gray schreibt zwar ein Buch darüber, dass Religionen seit ihrem Aufkommen für Kriege und Konflikte aller Art verantwortlich sind, wirft aber den Atheisten, die einen säkularen Humanismus propagieren, Naivität vor und bezeichnet den Humanismus als eine religiösen Ideologien verwandte Ideologie und gar als Aberglaube. Das sieht nicht nach einer antireligiösen Gegenposition mit viel Schlagkraft aus…

Da haben Sie Recht. Die Gruppe der aktiven Religionsgegner ist klein und erschreckend überschaubar. Und natürlich gibt es auch unter ihnen Animositäten und Abgrenzungsbestrebungen. So sind die Menschen eben auch. Bedeutender als die wenigen „bekennenden“ Religionskritiker ist deshalb vielleicht die große Menge derer (zumindest in den gebildeteren Ländern), für die Religion einfach kein Thema mehr ist und die sich deshalb auch nicht bemüßigt fühlen, für oder gegen die Religion Stellung zu nehmen. Diese Atheisten im Vollzug, von denen viele auch noch in der Kirche sind, machen heute in Deutschland schon mindestens 30% der Menschen aus, je nach Definition auch deutlich mehr. Sie sind nicht organisiert und machen nicht von sich reden, doch irgendwann wird auch die Politik ihrem Anteil an der Gesellschaft Rechnung tragen müssen.

In jedem Hotelzimmer findet man neben dem Bett das Neue Testament – welches Buch sollte Ihrer Meinung nach statt dessen dort liegen?

Sie meinen jetzt: außer dem Jesuswahn?? Nun, es darf nichts zu langes sein, kein Roman oder ähnliches. Ich würde als kleine Form vielleicht Gedichte vorschlagen, aber um Himmels Willen keine modernen. Mich faszinieren immer noch und immer wieder die klassischen von Goethe und Schiller. Leicht zu lesen, bestechend in Form und Inhalt, erhebend für Herz und Gemüt. Von denen würden vielleicht in der Langeweile eines Hotelzimmers dann tatsächlich einige gelesen werden. Obwohl; viel Hoffnung habe ich da nicht.

Die Fragen stellte awb

Zum Autor: Dr. Heinz-Werner Kubitza ist seit fast 20 Jahren Inhaber des Tectum Wissenschaftsverlags. Er hat in Frankfurt, Tübingen, Bonn und Marburg evangelische Theologie studiert und dort auch promoviert. Schon im Studium hat er sich intensiv mit dem Problem des historischen Jesus beschäftigt und dabei theologisch quasi hinter die Kulissen geschaut. Daneben war er aber auch in verschiedenen Kirchengemeinden viele Jahre ehrenamtlich aktiv, und ist so auch mit der psychischen Gestimmtheit von Gläubigen bestens vertraut. Kubitza ist Fördermitglied der Giordano Bruno Stiftung, die sich für Aufklärung und eine humanistische Ethik einsetzt.

Heinz-Werner Kubitza
Der Jesuswahn

Wie die Christen sich ihren Gott erschufen.
Die Entzauberung einer Weltreligion durch
die wissenschaftliche Forschung

380 Seiten, Hardcover
19,90 Euro,  26 SFr
Tectum Verlag 2011
ISBN 978-3-8288-2435-5

http://www.jesuswahn.de/

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