Die Gebärdebsprachdolmetscher Delil Yilmaz und Sandra Hübner

ORF.at

INKLUSION

„Man muss nicht hören, um zu fühlen“

Gehörlose Menschen können Musik ebenso erleben wie Hörende. Wie das geht und warum gleichzeitig mit dem Song Contest ein besonderes Jubiläum gefeiert wird, erklärt Gebärdensprachdolmetscher Delil Yilmaz, der mit seinem Team mithilft, dass der ORF das größte Musikevent der Welt barrierefrei präsentieren kann.

Das Finale in Kopenhagen vor einem Jahr wurde vom dänischen Fernsehen in dänischer Gebärdensprache angeboten. Der ORF geht einen Schritt weiter und wird beide Semifinale sowie das Finale am 23. Mai live in internationalen Gebärden ausstrahlen.

Song Contest in Gebärden

Semifinale 1 am 19. Mai um 21.00 Uhr und Semifinale 2 am 21. Mai um 21.00 Uhr werden im TVthek-Livestream in internationalen Gebärden ausgestrahlt. Das Finale am 23. Mai um 21.00 Uhr wird auf ORF 2 Europe in internationalen Gebärden zu sehen sein.

Seit Wochen arbeitet ein dreiköpfiges Dolmetscherteam daran, die Songs der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler, die in der Mehrzahl auf Englisch (oder in einer anderen Sprache) interpretiert werden, in internationale Gebärden zu übersetzen und mit Hilfe von „Storytelling“ für gehörlose Menschen erfahrbar zu machen. Projektteamleiter von „Eurovision Sign“ ist Delil Yilmaz, ihm zur Seite stehen die gehörlosen Gebärdensprachdolmetscher Sandra Schügerl und Georg Marsh.

Den folgenden Text, den der ORF als Einladung an alle Song-Contest-interessierten Menschen versteht - egal ob hörend oder nicht -, sehen Sie im anschließenden Video in Österreichischer Gebärdensprache.

Eine Einladung an alle

„Getreu dem Motto ‚Building Bridges‘ wird der ORF den 60. Eurovision Song Contest barrierefrei und inklusiv ausstrahlen. Das größte Unterhaltungsevent Europas wird für gehörlose Menschen zur Gänze live untertitelt, im 2. Tonkanal live für blinde Menschen audiokommentiert und darüber hinaus zusätzlich für gehörlose Menschen in ‚International Sign‘ (Internationaler Gebärde) präsentiert.

Der ORF versteht Inklusion ganzheitlich und wird in enger Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Gehörlosenbund mit einem Team aus Performern, Dolmetschern und ORF-Technikern dafür sorgen, dass gehörlose Menschen am Song Contest ohne Einschränkungen teilhaben können. Der ORF will Wien als weltoffene, tolerante Stadt präsentieren, die ihre Arme respektvoll ausbreitet und allen Menschen ein herzliches Willkommen bereitet.“

Delil Yilmaz beim Übersetzen

In der Europäischen Union leben rund 750.000 Gehörlose, die ausschließlich in Gebärdensprache kommunizieren. Gebärdensprachdolmetscher Yilmaz erklärt im Gespräch mit songcontest.ORF.at, dass Gebärdensprache keine erfundene Kunstsprache ist und auch nicht in allen Ländern der Welt gleich ist. Gebärdensprachen haben in der jeweiligen nationalen Form eigene Vokabel und auch eine eigene Grammatik und Syntax.

In Österreich ist die Gebärdensprache bereits seit zehn Jahren als Sprache offiziell anerkannt. „Wir feiern also gleichzeitig mit dem Song Contest das zehnjährige Jubiläum der Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache als gleichwertige Sprache in Österreich“, sagt Yilmaz. In Dänemark etwa wurde die Gebärdensprache erst letztes Jahr - kurz vor dem Song Contest - als gleichwertige Sprache anerkannt.

Visuell-gestischer Code

Und hier sehen Sie den Text in International Sign, den länderübergreifenden verstandenen Gebärden:

Gebärdensprachdolmetscherin Sandra Schügerl

Bei den internationalen Gebärden werden gängige Vokabeln aus unterschiedlichen Gebärdensprachen entlehnt und basierend auf dem visuell-gestischen Code, den alle Gebärdensprachen benützen, verwendet. Die nonverbalen Aspekte der gebärdensprachlichen Kommunikation treten dabei besonders stark in den Vordergrund.

Gebärdensprache

Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist die Muttersprache der knapp 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich. Die ÖGS ist eine eigenständige, linguistisch vollwertige und natürliche Sprache. ÖGS hat eine eigene Grammatik und Syntax, die anders ist als die Grammatik der deutschen Lautsprache. In Österreich ist die ÖGS seit 2005 als Sprache anerkannt und in der österreichischen Bundesverfassung verankert.

Mit allen Sinnen begreifen

Wie lässt sich Musik überhaupt übersetzen? Wird nur der Text übersetzt oder auch die Melodie? Dazu Yilmaz: „Das ist vermutlich die erste Frage, die sich hörende Menschen stellen, wenn sie davon hören, dass der ORF den gesamten Eurovision Song Contest in International Sign präsentieren wird. Wer nicht hört, kann doch nicht Musik empfinden, sagen viele. Aber genau um dieses Empfinden geht es: Mit allen Sinnen begreifen heißt nicht, dass ich hören muss.

Ich kann als Nichthörender Musik über andere Kanäle wahrnehmen. Ein Vergleich: Wenn jemand niemals in seinem Leben gesehen hat, hat er andere ‚Bilder‘ - das sind die Empfindungen, die er wahrnehmen kann - in seinem Kopf. Er ‚sieht‘ Gegenstände und Farben als ‚Gehörtes‘ und ordnet es zu. Wenn jemand noch nie gehört hat, ordnet er Sehen oder Vibrationen dem zu, was in der Welt vorhanden ist. Das ist keine Einschränkung. Das ist anders. Man muss nicht sehen, um die Welt zu begreifen. Man muss nicht hören, um zu spüren, um Gefühle zu empfinden.“

Erstmals vollständig inklusiver Event

Der Eurovison Song Contest wird durch die Präsentation in International Sign aber nicht nur barrierefrei ausgestrahlt. Der ORF schafft damit erstmals einen vollständig inklusiven Event: Die Performerinnen und Performer, aber auch die Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie die Livemoderatorin und der Livemoderator sind gehörlos. Nur Teamleiter Yilmaz und eine „Feederin“ (Dolmetscherin, die die gehörlosen Moderatoren bei der Livepräsentation unterstützt) sind hörend.

Die Herausforderung beim Gebärden von Musik besteht laut Yilmaz darin, Sinneseindrücke zu transportieren, diese zu „übersetzen“. Improvisation und Flexibilität sind hier gefragt, um klar hervorstreichen zu können, dass es sich um ein Lied handelt.

Ein Teil von „Rise Like A Phoenix“ in Musikgebärden

Bilderpoesie schaffen

„Man kann hier auch von einer poetischen Bildsprache sprechen. Die Bildsprache lässt mehr Raum für ästhetische Formen. Das kann man sich so vorstellen, dass der Gebärde, die in der österreichischen Gebärdensprache vielleicht nur ein Handzeichen, eine kleine Bewegung ist, durch eine ergänzende Oberkörperbewegung mehr Ausdruck verliehen wird.“

Das Training für den Song Contest konzentriert sich auf internationale Gebärden, damit alle Stories (Performances) von einem internationalen Publikum verstanden werden. Das Ziel des ORF gemeinsam mit Yilmaz’ Team ist es - nach dem Motto des Song Contests -, „Brücken zu bauen“, und zwar zu allen Gehörlosengemeinschaften weltweit.

YouTube-Hits nur für Hörende lustig

YouTube-Hits wie den des Schweden Tommy Krangh, der durch seine Gebärdensprachinterpretation des diesjährigen schwedischen Beitrags zu Berühmtheit gelangte, finden gehörlose Menschen meist nur mäßig lustig. Kritisiert werden die extrovertierten Gebärden, die mehr an eine Tanzshow als an eine Übersetzung erinnern und eine visuelle Überflutung bewirken. Die Körperhaltung müsse viel ruhiger sein, so Yilmaz, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält: „Wieder einmal sind hier Hörende beeindruckt, Gehörlose schmunzeln - mehr nicht. Zielpublikum verfehlt.“

Sonia Neufeld, songcontest.ORF.at