20.12.2014

Essay Kritisieren darf nur einer

Von Finkel, Andrew

Über den Journalismus in einem Land, in dem der Präsident der oberste Chefredakteur ist

Die Polizeirazzia in der Zentrale der Tageszeitung Zaman fühlte sich an wie ein Autounfall in Zeitlupe, wie etwas, das jeder kommen sah. Und vielleicht deshalb war es umso erschreckender. Schon vor längerer Zeit hatten regierungsfreundliche Journalisten warnend geschrieben, dass auf die Verräter der "Galgen" warte. Ein anonymer Informant, der unter dem Namen "Fuat Avni" twittert, hatte den Zeitpunkt der Razzia und eine Liste derer, die verhaftet werden würden, vorab verkündet. Als die Polizei dann am Sonntagmorgen in den Redaktionsräumen der auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei auftauchte, wurde sie von den Mitarbeitern mit dem Slogan empfangen: "Die freie Presse lässt sich nicht zum Schweigen bringen." Die Beamten zogen ab, doch später kehrten sie zurück, der Chefredakteur ergab sich freiwillig und wurde abgeführt.

Am Ende wurden über zwei Dutzend Menschen verhaftet, mehrere Journalisten, der Regisseur einer beliebten TV-Serie sowie der Chef des privaten Fernsehsenders Samanyolu TV. Ihnen wurde die "Gründung, Leitung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" vorgeworfen.

Ich verfolgte die Razzia mit einer gewissen Ambivalenz, denn ich wurde 2011 von der englischen Ausgabe der Zaman gefeuert, weil ich die redaktionelle Ausrichtung des Blattes kritisiert hatte. Damals unterstützte die zum Netzwerk des konservativen Predigers Fethullah Gülen gehörende Zaman noch die Regierung und bejubelte den Prozess gegen die sogenannten Ergenekon-Verschwörer. Hauptsächlich Militärs, aber auch Journalisten waren angeklagt, weil sie angeblich einen Putsch gegen die Regierung geplant hatten. Ich warnte in einem Artikel davor, im Kampf gegen die antidemokratischen Kräfte ebenfalls zu selbstzerstörerischen antidemokratischen Methoden zu greifen, da dies eines Tages auf uns zurückfallen würde.

Ich freue mich nicht, dass meine Worte wahr geworden sind. Und Zaman war nicht die einzige Zeitung, die mich gefeuert hat, in den 25 Jahren, die ich für türkische Medien arbeite. 1998 war es die andere Seite, nämlich das Militär, das meine Entlassung bei Sabah erzwang und mich später vor Gericht stellte. Die Anklage forderte sechs Jahre Haft, weil ich den Ruf der Armee geschädigt haben sollte. Die Vorwürfe wurden erst im Zuge einer Generalamnestie fallen gelassen.

Doch die Dreistigkeit, mit der nun die Behörden gegen eine Institution der vierten Gewalt vorgehen, ist neu. Damit haben sie eine Grenze überschritten, und das in einem Land, in dem die Pressefreiheit nie besonders ruhmreich verteidigt wurde. Dieser jüngste Eingriff in die Meinungsfreiheit war so offenkundig, dass er sogar einige Unterstützer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan schockierte. "Eine Katastrophe, wenn es dazu kommt", kommentierte Vizepremier Bülent Arinç erste Gerüchte über die Festnahmen. "Es war einfach falsch, in den Büroräumen von Zaman und Samanyolu TV eine Razzia durchzuführen", schrieb ein Kolumnist der Zeitung Yeni Şafak, der für seine entschlossene Unterstützung der Regierungspolitik bekannt ist.

Das Abdriften der Türkei in ein autoritäres System schreckt nun auch die Anhänger der Regierung auf. Dabei ist diese Entwicklung schon lange zu beobachten. Im vergangenen Mai stufte die Organisation Freedom House die türkische Presse von "teilweise frei" auf "unfrei" herunter. In einem erst diesen Monat veröffentlichten Bericht der Organisation rangiert die Türkei hinsichtlich der Freiheit im Internet auf einer Stufe mit Simbabwe und Aserbaidschan. Die Razzien vom Sonntag haben das Ansehen der Türkei weiter beschädigt. Die EU-Kommission bezeichnete die Verhaftungen als "inakzeptabel" und "eine Missachtung der europäischen Werte und Normen". Erdoğan ficht das nicht an. "Ob die EU uns aufnimmt oder nicht, das interessiert uns nicht", antwortete der Präsident. "Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten."

Seine Drohgebärden gegen die Presse muten umso merkwürdiger an, weil sie so völlig unnötig erscheinen. Erst im August wurde er im ersten Wahlgang mit 52 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Meinungsforscher sehen seine Partei AKP bei soliden 40 Prozent. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sie die Parlamentswahl im kommenden Juni gewinnen wird. Erklären kann man Erdoğans scheinbare Unsicherheit möglicherweise mit dem, was vor genau einem Jahr geschah. Damals befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht, doch dann musste er plötzlich um sein politisches Überleben fürchten.

Eine gewaltige, systematische Korruptionsaffäre kam ans Licht, an der Erdoğan, damals noch Premier, sowie seine Familie, politische Weggefährten und Geschäftspartner offenbar beteiligt waren. Unter den Ermittlern befanden sich wohl auch Mitglieder des umstrittenen Gülen-Netzwerks. Lange Zeit hatten die Gülen-Leute Erdoğan unterstützt, nun wandten sie sich gegen ihn. Und er sich gegen sie. Jetzt, wo Zaman beschuldigt wird, Nachrichten böswillig manipuliert zu haben, haben daher viele den Verdacht, dass das einzige Verbrechen der Journalisten von Zaman darin besteht, dass sie Erdoğan und die Regierung inzwischen lautstark kritisieren.

Damals, vor einem Jahr, verurteilte die Regierung die Razzien als einen Putsch, als Auswüchse eines "Parallelstaates". Sie wehrte sich, indem sie diejenigen Staatsanwälte und Polizisten, die an den Ermittlungen beteiligt waren, zwangsweise versetzte. Außerdem beschloss sie Gesetze, die dem Kabinett mehr Kontrolle über den Justizapparat geben. Dann, am 24. Februar, nur wenige Wochen vor den Kommunalwahlen, wurden Mitschnitte von Telefonanrufen publik, die die schlimmsten der Korruptionsvorwürfe zu bestätigen schienen.

In einem Mitschnitt, der auf YouTube hochgeladen wurde, ist angeblich Erdoğan zu hören, der seinen Sohn fragt, ob er es geschafft habe, das im Haus versteckte Bargeld fortzuschaffen. Während Erdoğan das Gespräch als durch Manipulation zustandegekommene "Montage" bezeichnete, wurden andere, beinahe ähnlich verheerende Leaks nie dementiert. Mal diskutierten da Leute aus dem Umfeld Erdoğans mit einem befreundeten Geschäftsmann über Gegenleistungen für eine öffentliche Ausschreibung. Mal sprach Erdoğan mit seinem Justizminister darüber, wie man auf ein bestimmtes Gerichtsurteil hinwirken könne.

Man sollte meinen, dass solche Enthüllungen ein gefundenes Fressen für Journalisten sind. Wie die meisten zumindest der Form nach demokratischen Länder hält auch die Türkei an dem Glauben fest, dass die Presse über die Integrität des öffentlichen Bereichs wacht. Doch das ist nicht der Fall. Die türkische Presse ist zum Komplizen der Herrschenden geworden - und damit hat sie die Demokratie verwundbar gemacht.

"Die Türkei ist so gespalten, dass man, abhängig davon, welche Zeitung man gerade liest, ein komplett anderes Bild von der Wirklichkeit präsentiert bekommt. Die einen sagen, es gibt Korruption, die anderen sagen nichts dazu - außer, dass die Korruptionsvorwürfe Teil einer Verschwörung sind", sagt Aykan Erdemir, ein oppositioneller Abgeordneter. Das liege daran, dass die Besitzer der Medienkonzerne auch in anderen Branchen investiert hätten und ihre Geschäfte nicht gefährden wollten, weshalb sie dem Druck der Regierung schnell nachgäbe. Oder kritische Berichterstattung erst gar nicht zuließen. Es sind nicht nur die drakonischen Gesetze und die Androhung von Haftstrafen, mit denen Journalisten eingeschüchtert werden. Es ist auch die türkische Presse selbst, die sich durch interne Zensur und Einmischung der Herausgeber selbst kontrolliert. So sind die türkischen Medien zu einem Instrument geworden, das die politische Maschinerie in Gang hält.

In einer geleakten Aufzeichnung kann man zuhören, wie Erdoğan einen leitenden Angestellten des privaten Fernsehsenders Habertürk runterputzt, weil dieser die Stellungnahme eines Oppositionspolitikers auf dem Nachrichtenband am Bildschirmrand gesendet hat. Und schon wird die beleidigende Zeile entfernt. In einem anderen Mitschnitt bringt ein wütender Erdoğan den betagten Eigentümer der Demirören-Firmengruppe mit seinen Tiraden sogar zum Weinen, weil dessen Zeitung Milliyet die Kurdenpolitik der Regierung kritisiert hatte. "Wie bin ich da bloß hineingeraten?", fragt der Zeitungschef schluchzend. Zu den sonstigen Geschäften von Demirören gehören Grundstückserschließungen und Geschäfte mit Flüssiggas. Allesamt Bereiche, in denen der Konzern auf die Gunst der Regierung angewiesen ist.

Erdoğan hat Milliyet öffentlich kritisiert. Daraufhin verteidigte der Leitartikler Hasan Cemal die Zeitung, er schrieb, dass Journalisten und Politiker unterschiedliche Pflichten und Prioritäten hätten, ja haben müssten. Erdoğan entgegnete: "Wenn das so ist, dann nieder mit diesem Journalismus." Kurz danach wurde Cemal gezwungen zu kündigen. "In der Türkei gibt es nur einen Boss, nur einen Chefredakteur", sagt Cemal. Und das sei Erdoğan. "Ich wurde vom Premier gefeuert."

Zusammen mit Hasan Cemal habe ich die Organisation P24 gegründet, unser Ziel ist ein anderer Journalismus in diesem Land. Denn solange die türkischen Medien um jeden Krümel vom Tisch der Politiker kämpfen, statt sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen, wird die Demokratie weiter schwinden.

Finkel, 61,ist ein US-amerikanischer Türkeiexperte und Journalist, der seit über 25 Jahren in der Türkei lebt und für britische und amerikanische Medien schreibt. Vor allem arbeitete er lange Zeit als Redakteur und Kolumnist für die türkischen Tageszeitungen Taraf, Sabah, Milliyet und Zaman. Er ist Autor des Buchs "Turkey: What Everyone Needs to Know".


DER SPIEGEL 52/2014
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