Augenzeuge Helene Stehle «Wie ein Geier wachte ich über die Aussprache meiner Kollegen»

Sie war die erste Sprecherin des Schweizerischen Landessenders Beromünster im Studio Basel. Heute blickt Helli Stehle mit ihren 100 Jahren munter auf die bewegte Pionierzeit zurück.

Weiss der Himmel, jetzt bin ich schon viel länger pensioniert, als ich berufstätig war. Ob ich an meinem letzten Arbeitstag vor 41 Jahren im Radiostudio Basel offiziell verabschiedet wurde, kann ich nicht mehr sagen. Jedenfalls wäre der Anlass nicht sehr eindrücklich gewesen. Ich erinnere mich nämlich nicht daran. Und ich erinnere mich noch an unzählige Episoden beim Schweizerischen Landessender Beromünster, wo ich von 1939 bis 1967 als erste Radiosprecherin arbeitete.

«Schweizerischer Landessender Beromünster - Studio Basel» lautete die immer gleiche Ansage. Unsere Namen durften wir Sprecher nicht nennen, im Mittelpunkt stand das Programm. Ein Kollege, der erpicht darauf war, sich bei den Hörern durch die Blume anzubiedern, bekam von oben einen Rüffel. Die Ansage musste so anonym und neutral als möglich gehalten sein. Mit meiner weiblichen Stimme war ich natürlich die Ausnahme. Alle erkannten mich auf Anhieb als Helli Stehle, die damals erste und einzige Sprecherin. Ich bekam gelegentlich auch Post oder wurde in der Öffentlichkeit auf meine Stimme angesprochen.

Die Not des Direktors als ChanceSprachen faszinierten mich von jeher. So besuchte ich nach dem Gymnasium die Schauspielschule am damaligen Konservatorium. Anschliessend stand ich drei Jahre lang mit Charakterrollen auf der Bühne des Stadttheaters Basel. Gelegentlich engagierte mich das Radiostudio für ein Hörspiel. 1939, als die männlichen Sprecher in den Aktivdienst eingezogen wurden, meinte der damalige Direktor ohne grosse Begeisterung, man könne ja mal den Versuch mit einer Frau am Mikrophon wagen. So rutschte ich in diese Aufgabe rein. Einen Vertrag bekam ich nicht ausgehändigt. Damals galt noch der Grundsatz von Treu und Glauben - ein Wort war ein Wort. Übrigens war der Anfangslohn kümmerlich. Weil ich noch bei meinen Eltern wohnte, konnte ich mich über Wasser halten.

Von der Hörerschaft nahm niemand daran Anstoss, dass die Ansagen plötzlich von einer Frau verlesen wurden. Auch von Seiten meiner Radiokollegen erlebte ich als einziges weibliches Wesen im Team keine Unannehmlichkeiten. Einzig ein Schweizer Autor meldete sich zu Wort und kritisierte angesichts des politischen Klimas mein akzentfreies Hochdeutsch. Er meinte, ich solle doch etwas von meinem Dialekt durchklingen lassen. Ich bestand auf meinem Grundsatz, jede Sprache und jeden Dialekt so perfekt als möglich wiederzugeben.

Die Pflege der Sprache und auch des Dialekts war mir zeitlebens ein Anliegen. Wie ein Geier wachte ich während meiner Berufstätigkeit am Radio darüber, ob meine Kolleginnen und Kollegen alle Ausdrücke korrekt aussprachen - eine Anforderung, die in einer internen Anleitung festgehalten war. Das machte ich wie eine unbefangene Hörerin von zu Hause aus. Heute stelle ich immer wieder fest, dass die Dialekte verflachen.

Die Kriegsjahre prägten natürlich auch unseren Radioalltag. Der beachtliche Landanteil ums Studio wurde gemäss bundesrätlicher Verordnung zu einem Kartoffelacker umfunktioniert. Auch an Wochenenden blieben wir nicht davor verschont, von den Stauden Kartoffelkäfer abzulesen. Im Gegenzug hatten die Radiomitarbeitenden ihre Ration Kartoffeln auf sicher. Wer wollte, konnte sich auch noch um einen kleinen «Pflanzblätz» bemühen für ein Tomatengewächs oder einen Kohl. Auf dem Dach des Landessenders Beromünster, Studio Basel, war immer ein militärischer Beobachter mit einem Maschinengewehr stationiert, der das umliegende Grenzgebiet überwachen musste. Glücklicherweise kam es nie zu einem Zwischenfall.

Ein Ruhestand voller Abenteuer
Beim Radio konnte ich mich weiterentwickeln. So war ich als ausgebildete Schauspielerin aktives Mitglied der Hörspielgruppe und führte auch oft Regie. Für Tonaufnahmen im Freien waren Kreativität und Flexibilität des ganzen Teams gefragt, sei es für Aufnahmen von sonntäglichem Glockengeläut oder von Schritten auf Schotter.

Bei meiner Pensionierung bereitete es mir keinen Kummer, mit der Arbeit aufzuhören. Für mich war das Leben noch nicht gelaufen. Im Gegenteil. Endlich konnte ich intensiv Russisch lernen und dieses spannende Land bereisen. Auch Japan und Asien überhaupt waren Destinationen, die ich gerne besuchte.

Dass ich nach der Pensionierung irgendwann und irgendwo meinem damaligen Mikrophon, dem «Marieli», nochmals begegnen würde, hätte ich nie für möglich gehalten. So staunte ich nicht schlecht, als ich im Frühling 2004 bei der Vernissage zur Sonderausstellung «Hallo, hier Radio Basel» im Elektrizitätsmuseum Münchenstein auf dieses erste Mikrophon stiess. Im Vergleich zur heutigen Technik war das Gerät ein Monster.

Weiss der Himmel, ich hätte nie gedacht, dass ich so uralt werde. Gottlob habe ich nichts zu klagen. Das blöde linke Knie, das nicht mehr so recht will, soll mir in die Schuhe blasen. Offensichtlich ist es älter als ich. Aber es ging mir immer gut, und ich habe sehr liebe Freunde, die zum Glück recht viel jünger sind als ich. So bekomme ich hautnah mit, was Menschen im aktiven Leben beschäftigt.

So, jetzt tuets es. Vielen Dank für Ihren Besuch. Ich werde nämlich gleich zum Mittagessen abgeholt.

Autor:
  • Edith Lier
Bild:
  • Renate Wernli
06. Februar 2008, Beobachter 3/2008