Orthopädie & Unfallchirurgie

Beinlängendifferenzen und Achsenfehlstellungen: Verlängerungsmarknagel als Alternative zur externen Fixation?

Das dabei zur Anwendung kommende Prinzip der Kallusdistraktion basiert auf einem kontinuierlichen Zug am durchtrennten Knochen. So kann sich in einem langsam größer werdenden Spalt, vergleichbar einer künstlichen Wachstumsfuge, neues Knochengewebe bilden.

Bezüglich der Indikation zum Ausgleich einer Beinlängendifferenz finden sich in der Literatur keine einheitlichen Angaben. In der Regel sollten ab 1cm BLD im Wachstumsalter und ab spätestens 2cm im Erwachsenenalter ausgleichende Maßnahmen gesetzt werden um nachteilige Folgeerscheinungen (Skoliose, Spitzfußkontraktur der kürzeren Seite, chronische Kreuzschmerzen, Fehlbelastungen etc.) zu vermeiden.

Prinzipiell stehen verschiedene Möglichkeiten zum Ausgleich einer Beinlängendifferenz zur Verfügung:

•?konservativ durch Einlagenerhöhung, Schuhsohlenaufdoppelung oder Orthesen

•?wachstumslenkende Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen mit offenen Wachstumsfugen

•?Verkürzungsosteotomie der längeren Seite

•?Verlängerung der kürzeren Seite

Die heute angewendeten chirurgischen Methoden zur Beinverlängerung sind zum einen der Fixateur Externe, bestehend aus der Gruppe der Ringfixateure (Ilizarov-Apparat bzw. Taylor Spatial Frame) und den unilateralen Fixateuren. Weiters besteht die Möglichkeit eine Kombination aus interner und externer Fixation zu verwenden – dem sog. Lengthening over nail. Bei diesem Verfahren wird über einen liegenden soliden Marknagel mittels externem Fixateur distrahiert. Nach Abschluss der Verlängerung wird der Fixateur entfernt und der Marknagel verriegelt. Das dritte Verfahren, auf das ich im Folgenden näher eingehen werde, ist die Knochenverlängerung mittels Verlängerungsmarknagel (Bliskunov-Nagel, Albizzia-Nagel, ISKD-Nagel, Fitbone-Nagel).

Bliskunov-Nagel

Dieser Nageltyp wird noch von einigen Operateuren in Russland verwendet, wurde aber nach dem Tod von Prof. Bliskunov nicht weiterentwickelt. Da im Unterschied zu den anderen Modellen eine zusätzliche Fixierung am Becken nötig ist und es keinen Tibianagel gibt, hat sich das System nicht durchgesetzt.

Albizzia-Nagel

Der Albizzia-Nagel wurde 1987 von Dr. Jean-Marc Guichet entwickelt und hat seinen Namen von einem schnell wachsenden tropischen Baum erhalten. Es gibt einen Standard-Nagel und einen 3-D-Albizzia-Nagel, mit dem auch Achskorrekturen möglich sind. Die Verlängerung basiert auf einem mechanischen Ratschensystem. Durch abwechselnde Innen- und Außenrotation des distalen gegen das proximale OS-Fragment um jeweils 20° wird der Nagel teleskopartig verlängert. Mit diesem Implantat sind bis zu 10cm Verlängerungsstrecke möglich und postoperativ ist die Vollbelastung erlaubt. Nachteilig ist vor allem der zu Beginn sehr schmerzhafte Verlängerungsprozess, der häufig eine Kurznarkose erforderlich macht. Der relativ grobe Verlängerungsmechanismus erfordert große Manipulationen, die zu einer Außenrotationsfehlstellung nach Behandlungsabschluss führen können.

ISKD-Nagel

Der Intramedullary Skeletal Kinetic Distractor (ISKD) wurde von Dr. Dean Cole entwickelt und verlängert ebenfalls über einen mechanischen Ratschenmechanismus (Abb. 1). Dieser ist so konzipiert, dass Drehbewegungen von 3° im Bereich des durchtrennten Knochens die Verlängerung auslösen. Das Ausmaß der Verlängerung wird über einen im Nagel befindlichen Magneten ermittelt. Ein durch jede Drehbewegung auftretender Polwechsel wird von einem kleinen Monitor registriert. Insgesamt sind 160 dieser Bewegungen für eine Verlängerung von 1mm nötig.

Der ISKD ist ein gut funktionierender Nagel, dessen Distraktion aber nicht präzise gesteuert werden kann, da oft bereits die normalen Bewegungen beim Gehen die Verlängerung auslösen. Die täglich variierende Verlängerungsstrecke muss sehr oft von Arzt und Patienten kontrolliert werden und dies bedingt ein hohes Maß an Compliance. Eine nachträgliche Verkürzung des Nagels bei Überverlängerung oder die Korrektur von Beinachsenfehlstellungen sind nicht möglich.

Fitbone-Nagel

Der Fitbone-Nagel ist ein in den 80er Jahren von Prof. Rainer Baumgart in München entwickelter motorisierter Distraktionsmarknagel. Dieser Nageltyp ist im Inneren mit einem elektrischen Antrieb ausgestattet, der von außen mit Energie versorgt wird und den Nagel teleskopartig verlängert. Die Übertragung der Energie erfolgt mittels Induktion über einen auf die Haut aufgelegten Transmitter. Eine subkutan eingebrachte Empfangsantenne leitet die zugeführte Energie über ein Kabel an den Nagel weiter (Abb. 2). Der Verlängerungsvorgang wird vom Patienten selbst 3x täglich durchgeführt, um die gewünschte Distraktion von 1mm pro Tag zu erzielen. Dieses Implantat ist sehr zuverlässig und ermöglicht einen schmerzfreien und komfortablen Verlängerungsvorgang. Der kontinuierliche Distraktionsprozess kann sehr präzise gesteuert werden. Nach einer präoperativen Planung können auch dreidimensionale Fehlstellungen korrigiert werden. Der Nagel ist am freien Markt nicht verfügbar und kann somit nur an ausgewählten Zentren implantiert werden.

Eigene Erfahrungen

An der Abteilung für Kinder- und Jugendorthopädie des Orthopädischen Spitals Speising wurden in der Verwendung der intramedullären Verlängerungsnägel unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Der Albizzia-Nagel zeigte aufgrund der komplizierten Handhabung keine Akzeptanz vonseiten der Patienten und wurde nach einem Implantatbruch nicht mehr verwendet. Von 2002 bis 2004 wurde der ISKD-Nagel in vier Fällen (2 Femur, 2 Tibia) implantiert (Abb. 3a+b). Verschiedene Komplikationen wie fehlende Ossifikation in der Verlängerungsstrecke und das sogenannte „Run-away-Nail“-Phänomen mit unkontrollierter, nicht anhaltender Verlängerung führten zu einem eingeschränkten Indikationsspektrum. Derzeit sind Verlängerungen mit dem ISKD- Nagel ohne Kallusprobleme nur bei Patienten unmittelbar nach erreichter Skelettreife und Verkürzungen im Bereich des Femurs zu erwarten. Seit April 2007 wurde der Fitbone- Nagel in sechs Fällen bei Beinlängendifferenzen und milden Achsdeformitäten angewandt. Die Patientenzufriedenheit ist trotz der beträchtlichen technischen Herausforderung sehr hoch, Ossifikationsprobleme in der Kallusbildung wurden nicht beobachtet (Abb. 4a+b). Ein Fitbone-Nagel musste aufgrund der Instabilität des sehr kurzen distalen Femurfragmentes mit sekundärer Kabelirritation und Motorversagen auf einen konventionellen Verriegelungsmarknagel gewechselt werden.

Zusammenfassung

Allen Marknägeln gemeinsam ist die vollständige Implantation unter der Haut und die damit verbundenen Vorteile im Vergleich zur externen Fixation. Es bestehen ein deutlich vermindertes Infektionsrisiko sowie weniger Schmerzen aufgrund des Wegfalls der transfixierenden Bohrdrähte und Schrauben. Aus diesem Grund ist ein deutlich besseres kosmetisches Ergebnis zu erzielen, da die Hautnarben unmittelbar postoperativ verschlossen werden und nicht einem monatelangen mechanischen Reiz ausgesetzt sind. Ein weiterer entscheidender Vorteil der Verlängerungsmarknägel ist der wesentlich bessere Bewegungsumfang nach der Operation und der Wegfall des störenden externen Fixateurs, wodurch ein schnellerer Wiedereintritt in den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz ermöglicht wird.

Natürlich sind der Anwendung eines Verlängerungsmarknagels auch Grenzen gesetzt. Bei Kindern mit offenen Wachstumsfugen oder bei ausgeprägten multiapikalen Deformitäten ist er nur sehr eingeschränkt einsetzbar. Bei Instabilität von Knie oder Sprunggelenk ist es zudem oft erforderlich während der Verlängerungsphase einen gelenkstablisierenden Überbau mittels Fixateur externe anzubringen. Knochen- oder Weichteilinfekte bzw. ein zu enger Markraumdurchmesser stellen Kontraindikationen für die Implantation eines Marknagels dar.

Zusammengefasst ist die Verwendung von Verlängerungsmarknägeln zur Korrektur von Beinlängendifferenzen und Achsfehlstellungen eine sehr elegante, komfortable und zuverlässige Lösung. Trotzdem ist speziell im kinderorthopädischen Krankengut der Fixateur Externe ein unverzichtbares Hilfsmittel und nach wie vor sehr häufig das Mittel der Wahl.

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Letztes Update:2 Dezember, 2007 - 00:00