Sonntagsinterview : "Unser nächster Präsident ist ein Demagoge"

In der kommenden Woche wird in Südafrika gewählt. André Brink über Jakob Zuma, die Fußball-WM und einen deutschen Betrüger.

Interview: Peter von Becker
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André BrinkFoto: Mike Wolff

Herr Brink, es geht das Gerücht, dass Sie fast einmal Schlossherr am Rhein geworden wären.



Oh, ich bekam vor einigen Jahren einen Brief von einem älteren deutschen Leser aus Hannover. Mit zittriger Schrift schrieb er, dass er meine Romane liebe und kinderlos sei, deshalb frage er, ob ich sein Alleinerbe werden wolle. Er machte den Eindruck, größere Besitztümer zu haben, und egal, wo Hannover liegt, ich träumte plötzlich von einer deutschen Burg oder gar einem Schloss am Rhein. Daraufhin entspann sich ein Briefwechsel, und irgendwann bat er mich um das Manuskript eines meiner Romane. Das schien mir ziemlich viel verlangt. Aber ich dachte: Ein deutsches Schloss für einen Stapel Papier – also schickte ich ihm das Manuskript.

Sie waren gar nicht misstrauisch?

Doch. Kurz darauf telefonierte ich mit meiner Schweizer Agentin, und bei ihr saß gerade ein amerikanischer Autor, der sein jüngstes Buch einem Deutschen gewidmet und ihm das Manuskript geschickt hatte, weil er dessen Alleinerbe werden sollte. Der Rest war Gelächter! Doch der amerikanische Kollege war so sauer, dass er seinen Anwalt mobilisieren wollte. Wenige Tage später war er tot. Mit Anfang 40.

Das klingt wie erfunden.

Als ich das hörte, dachte ich auch, als Krimiautor hätte ich jetzt einen tollen Plot. Und ich habe mir ausgemalt, wie sich 100 Autoren aus aller Welt in dem Schloss am Rhein treffen, um auf den angeblichen Erblasser zu warten und sich womöglich zu rächen. Bei Agatha Christie oder Stephen King gäbe es sicher unter den Autoren viele Todesfälle.

Was ist dann mit Ihrem Manuskript passiert?

Ich habe dem Mann geschrieben und alles zurückverlangt. Er hat nie geantwortet. Vermutlich hat mich das Schicksal des amerikanischen Kollegen von weiteren Schritten abgehalten! Der Mann hieß Böhlke, und ich habe mich dadurch gerächt, dass ich in meinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman „Die andere Seite der Stille“ eine Figur nach ihm benannt habe: die absolut fürchterlichste, die es in all meinen Büchern gibt.

Dieser Heinrich Böhlke ist ein sadistischer Hauptmann der kaiserlichen Truppen in Deutsch-Südwestafrika, der Frauen missbraucht: weiße Frauen, deutsche Mädchen, oftmals Waisenkinder, die vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich angeworben wurden, um in die damalige Kolonie auszuwandern. Der Hintergrund Ihres Romans ist ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, wie haben Sie das entdeckt?

Ich bin darauf vor zehn Jahren durch den historischen Hinweis in einer namibischen Zeitung gestoßen. Die jungen Auswanderinnen sollten in Südwestafrika Arbeit und Ehemänner unter den deutschen Farmern und Soldaten finden. Sie trafen, ausgesetzt in einer völlig fremden Welt, zumeist auf Männer, denen schwarze Dienstboten als Sexobjekte nicht mehr genügten. Das war tatsächlich ein moderner Sklavenmarkt, ein von den kaiserlichen Behörden organisierter Frauenhandel mit den ärmsten und schutzlosesten Menschen im Deutschen Reich. Vieles habe ich dazu in Auswanderungsarchiven in Bremen recherchiert. Obwohl ich nur wenig Deutsch spreche, kann ich es ganz gut lesen.

Gleich Ihr erster Roman, „Erkenntnis der Abende“, wurde 1973 in Südafrika von der Zensur verboten.


Dem damaligen Apartheid-Regime gefiel nicht, dass ich über die Liebe eines Weißen zu einer Schwarzen erzählte. Außerdem war es das erste Mal, dass ein Buch in Afrikaans verboten wurde. Ich hatte den Roman, was ungewöhnlich war, nicht auf Englisch geschrieben. Afrikaans war die Sprache des weißen Apartheid-Regimes, und ich wollte sie in ihrer eigenen Sprache treffen. Aber Afrikaans wird nirgendwo außerhalb Südafrikas gelesen. Die Regierung versuchte mich als neuen Autor von Beginn an mundtot zu machen. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die Berichte über den Zensurfall in „Newsweek“, in „Time“ und einigen internationalen Zeitungen. Das machte auch die Verleger im Ausland aufmerksam.

Trotzdem schreiben Sie seitdem auf Englisch?


Nein, auf Englisch und Afrikaans, was anfangs hart war. Ich bin zwar ein zweisprachiger Südafrikaner, aber ich dachte und fühlte zuerst in Afrikaans. Ich stamme von holländischen Siedlern ab, von Buren. Englisch zu schreiben, war für mich nur notwendig, um leichter in Europa und Amerika publiziert zu werden, was bis zum Ende der Apartheid 1990/91 einen gewissen Schutz bedeutete.

Übersetzen Sie sich nun selbst und schreiben Ihre Romane gleichsam doppelt?


Es ist keine Übersetzung, es ist jedes Mal tatsächlich ein zweites Buch, in dem das erste Buch nochmals neu geschrieben wird. Inzwischen ist es unterschiedlich, in welcher Sprache ich beginne.

Wie geht das?

Es hängt von der Geschichte ab. Spielt sie im 18. Jahrhundert, dann muss es zuerst Englisch sein, weil es da noch kein Afrikaans gab. Manchmal wechsle ich die Sprachen aber auch Kapitel für Kapitel, oder zwischen Dialogen und Erzählpassagen. Jede Figur, jedes Motiv sagt mir, in welcher Sprache es zuerst geschrieben werden will.

Von Joseph Conrad bis Vladimir Nabokov und Samuel Beckett gibt es einige berühmte Autoren, die in mehreren Sprachen geschrieben haben. Aber keiner von ihnen hat die Sprachen bereits während der Erfindung einer Geschichte gewechselt.

Na gut, dann bin ich ein Unikum. Wer in der Realität Südafrikas aufgewachsen ist, lebt jedoch in mehreren Welten zugleich. Mein Vater zum Beispiel war Richter in einer Kleinstadt, und schon als Junge saß ich oft bei ihm im Gerichtssaal und bewunderte, wie er zwischen Recht und Unrecht unterschied. Erst später merkte ich, dass er ein überzeugter weißer Nationalist und grundsätzlicher Verfechter der Apartheid war. Ab dann achtete ich darauf, ob er die Schwarzen erkennbar benachteiligte.

Ein Apartheid-Anhänger konnte kein fairer Richter sein.

Mein Vater versuchte es trotzdem, das war imponierend. Aber zugleich machte ihn das Recht im Unrecht fast schizophren. Als wir in der Schule in einem Debatten-Kurs lernen sollten, wie man das Thema Rassentrennung diskutieren sollte, gab mir der Lehrer die Aufgabe, den „Advocatus diaboli“ zu spielen: Ich sollte im Jahr 1948, in dem die weißen, burenstämmigen Nationalisten gerade die Regierung übernommen hatten, ein paar gute Einwände gegen die herrschende Rassentrennung suchen. Ich fragte meinen Vater um Rat, und er trug mir als glühender Befürworter der Apartheid die flammendsten, juristisch schlagendsten Argumente gegen die Apartheid vor. So bekam ich auf kuriose Weise ein frühes Empfinden für die Ambivalenzen und Widersprüche unserer Gesellschaft.

Sind Sie eigentlich Nelson Mandela begegnet?

Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, zuletzt vor einem Jahr. Diese Begegnungen gehören zu meinen glücklichsten Eindrücken. Wenn jemand der Idee eines Heiligen heutzutage noch nahekommt, dann ist es Nelson Mandela. Obwohl er, Gott sei Dank, kein Heiliger ist. Er hat auch als alter Mann oft ein freches, lausbübisches Lachen, und – er liebt das Leben! Das macht ihn, der als Bürgerrechtler in der Apartheid-Ära 27 Jahre in Haft war, noch mehr zum Helden. Für einen Mönch, so schlimm es ist, mag eine Zelle doch etwas erträglicher sein. Mandelas unerschütterliche Liebe zum Leben in Freiheit und Brüderlichkeit verleiht ihm, zusammen mit seinem Humor, so viel Weisheit und Stärke.

Ist Mandela auch ein Leser, Ihr Leser?

Lesen hat ihm sicher geholfen, die Haft auf Robben Island, der fürchterlichen Gefängnisinsel, zu ertragen. Über meine Bücher haben wir nie im Einzelnen gesprochen. Aber der für mich wunderbarste Moment war, als wir einmal in seinem Haus saßen, er auf dem Sofa, ich auf einem Stuhl neben ihm, und er berührte plötzlich meinen Arm und sagte: „Ich habe durch Sie die Welt ein bisschen besser verstehen gelernt.“ Nur das.

Sie waren gerührt?

Ich war sprachlos und dachte, wenn ich jetzt tot umfalle, dann ist es okay, dann hat mein Leben einen Sinn gehabt. Allerdings glaube ich, Mandela meinte mich nur stellvertretend für alle Schriftsteller. Er wollte sagen: Die großen, in allen Kulturen gemeinsamen Themen der Literatur beweisen, dass die Welt allen gemeinsam gehört. Das war ja seine eigene Botschaft: dass unser Land den Schwarzen und den Weißen gehört.

Die Heldin Ihres Romans „Die andere Seite der Stille“ scheint am Ende eine blutige Selbstjustiz an ihrem einstigen Vergewaltiger zu üben und lässt davon im letzten Moment doch ab. Auch in Südafrika gab es statt der harten juristischen Abrechnung mit den weißen Peinigern nur die Verhandlungen vor den „Wahrheitskommissionen“, ohne strafrechtliche Folgen. Hat Sie das als Sohn eines Richters überzeugt?

Tatsächlich hatten wir keine Nürnberger Prozesse oder etwas, was dem Gerichtshof in Den Haag vergleichbar wäre. Es gab nur wenige Strafverfahren, und viele Leute meinten, das sei der Verzicht auf Gerechtigkeit. Genau genommen stimmt das, viele rassistische Täter, auch Mörder, wurden nie wirklich zur Rechenschaft gezogen. Andererseits gab die Begegnung von Tätern und Opfern vor den Wahrheitskommissionen Tausenden von Schwarzen, die vorher stumm bleiben mussten, zum ersten Mal die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen. Das unterzog letztlich das ganze Land einer Art von Katharsis.

Gab es zu dieser symbolischen Versöhnung überhaupt eine Alternative?

Wenn man keinen Bürgerkrieg wollte, gab es wohl keine Alternative.

Inzwischen ist Nelson Mandela im Ruhestand, und Südafrika, das nächstes Jahr Gastgeber der ersten Fußballweltmeisterschaft auf dem Kontinent sein soll, scheint in Korruption und Gewaltkriminalität zu versinken. Es gibt fast 20 000 Morde im Jahr.

Die herrschende ANC-Partei wird leider immer unfähiger, das Land demokratisch und gerecht zu regieren und den inneren Frieden zu erhalten, den Mandela einst brachte. Es gibt noch integere Ausnahmen. Aber man sieht, wie Leute, die leidenschaftlich für Recht und Freiheit eingetreten sind, an der Macht den Verführungen der Selbstbereicherung und dem Machtmissbrauch erliegen. Als hätten sie vom Apartheid-Regime gelernt, sind sie vom Gift ihrer einstigen Gegner infiziert. Selbst der Rassismus lebt unter umgekehrten Vorzeichen wieder auf.

Kommende Woche sind Wahlen in Südafrika, und da geht es um die Nachfolge des bereits zurückgetretenen Präsidenten Mbeki. Warum hat Mbeki eigentlich alle internationalen Versuche, den Diktator Mugabe im Nachbarstaat Simbabwe loszuwerden, torpediert?

Mugabe, auch er ein verdienter Freiheitskämpfer, ist zum Monster mutiert. Das wissen alle. Aber die Kameraderie unter den ehemaligen Freiheitskämpfern macht Leute wie Mbeki, den ich persönlich als kultivierten, angenehmen Menschen erlebt habe, völlig blind. Sie sind auch blind, wenn Millionen Afrikaner an HIV sterben, sie aber mit einem fast voodoohaften Irrationalismus jede vorsorgende Gesundheitspolitik verweigern. Obwohl unser Interimspräsident Kgalema Motlanthe einen ganz guten Job macht, sehen wir der Entwicklung nach den Wahlen mit großer Skepsis entgegen.

Jakob Zuma, der Kandidat des ANC, wird vom Karikaturisten der Zeitung „Mail & Guardian“ nur noch mit einem Duschkopf auf dem Kopf gezeichnet, seit er behauptet hat, eine Dusche beuge einer HIV-Infektion vor.

Dass er mit aller Wahrscheinlichkeit der nächste Präsident Südafrikas wird, besorgt mich zutiefst. Er hat keinerlei Erfahrung im Regieren, ist nur unzureichend gebildet und verhält sich wie ein archetypischer Demagoge. Mehrfach hat er unter Beweis gestellt, dass er die Justiz nicht respektiert.

Glauben Sie, dass die Fußball-WM 2010 in Südafrika wirklich stattfindet?

Die Stadien werden sicher fertig, aber wie man eine Million oder auch nur 500 000 ausländische Touristen sichern will, ist mir ein Rätsel. Man versucht, für die WM exterritoriale bewachte Zonen zu schaffen, aber mit ein paar blutigen Attacken würde das Ganze schnell kippen, und die WM kann man vergessen. Justiz und Polizei sind in einem heillosen Zustand.

Wurden Sie selbst Opfer von Kriminalität?

Ich nicht, aber kürzlich wurde in einem Wohnviertel in Pretoria mein Neffe bei einem Einbruch ermordet. Das war nur in diesem Quartier der 18. Mord innerhalb eines Monats, und die Bewohner begannen zu revoltieren. Daraufhin wurde die Mörder-Gang in drei Tagen geschnappt, mit den geraubten Sachen meines Neffen. Aber eine Woche später waren alle Beweismittel angeblich verschwunden! Und die Mörder sind wieder frei.

Haben Sie manchmal Angst?


Ja, der Vorfall neulich macht mir Angst. Ich habe eigene Kinder, meine Tochter wurde einmal attackiert, auch das hat mich schockiert. Aber ich besitze keine Waffe, lebe nicht hinter Mauern und Stacheldraht und verlasse mich bisher auf mein Alarmsystem. Man lebt in diesem Land, das man liebt, zwischen Vorsicht und der vielleicht verrückten Hoffnung, dass man selber verschont bleibt.

Politisch korrekte Europäer wollen sich alle Missstände in Afrika als Erbe des Kolonialismus erklären. Aber reicht das angesichts all des Blutvergießens und Terrors vom Kongo bis Simbabwe, von Nigeria bis Ruanda noch aus?

Es gibt Gewalt, die weder durch das dunkle „Erbe des Kolonialismus“ noch durch unmittelbare soziale Ursachen begründet werden kann. Die Männer, die meine Tochter im Restaurant beraubt haben, waren nicht arm, die rochen nach teurem Aftershave. In Afrika gab es schon im 18. Jahrhundert ungeheure, rational nicht erklärbare Exzesse der Gewalt, ähnlich wie zuletzt in Ruanda. Das ist jedoch nicht nur durch angeblich archaische, voraufklärerische Stammeskulturen zu erklären. Schwarzafrikaner haben kein besonderes Gewalt-Gen, so wenig, wie etwa die Deutschen spezifische Dispositionen hatten, weil sie den Holocaust verursachten. Auch Mandela und Bischof Tutu sind ja Schwarzafrikaner. Nein, das einzig Besondere ist für mich, dass Afrika ein dramatischer Kontinent ist. Afrika steigert in dramatischer Weise immer beides: das Grausigste und das Schönste in der menschlichen Natur.