Mama Missy und ihre Töchter – Seite 1

Ohne Frischhaltefolie wäre Popmusik undenkbar. Missy Elliott beweist das seit 25 Jahren: Die Rapperin, Sängerin, Songwriterin und Produzentin aus Virginia ist bis heute relevant, weil sie sich auch als Verpackungskünstlerin versteht. Nie ging es Elliott nur um Musik. Die Farbe ihres Frottee-Pyjamas, die Tanzschritte im Video, sogar das Timing einer Veröffentlichung – all das war immer genauso wichtig wie der Song selbst. Natürlich behielt man Get Ur Freak On wegen seines drängelnden Bongo-Beats in Erinnerung. Erst die perfekte Verpackung machte es aber zur prägenden Rap-Single der Jahrtausendwende.

Obwohl sie aufgrund einer Autoimmunerkrankung seit 2005 kein neues Album veröffentlicht hat, ist Elliotts Einfluss noch immer allgegenwärtig. Als Drake im vergangenen Herbst durch das Video zu seinem Song Hotline Bling stolperte, steckte in den ungelenken Bewegungen des Rappers auf Kuschelentzug auch eine Verbeugung vor Missy Elliotts Musikvideotänzen der späten neunziger und frühen nuller Jahre. Von Kanye West ganz zu schweigen: Seine Inszenierung als menschliches Wimmelbuch wäre ohne ihre Pionierarbeit auf den Feldern des Größenwahnsinnigen und Surrealen nicht vorstellbar.

Während Elliott mit gewohnt makellos abgestimmten Singles, Videos und Superbowl-Werbespots derzeit ihr Comeback vorantreibt, ist eine andere Verpackungskünstlerin schon in Position gegangen. Auf dem Cover ihres dritten Albums 99c sieht man Santi White alias Santigold frisch eingeschweißt zwischen unverzichtbaren Habseligkeiten wie Keyboard, Handtasche und goldenen Sanitätshausschlappen. Die Musikerin aus Philadelphia denkt Elliotts Credo der Verquickung von Inhalt und Verpackung noch einen Schritt weiter: Bei ihr ist die Hülle das eigentliche Kunstwerk.

Santigolds Erfolg war nicht zu verhindern

Vor vier Jahren gelang White mit Master Of My Make-Believe ein unwahrscheinliches Erfolgsalbum. Die sperrige Platte gefiel sich in Hitlosigkeit und anderen Verweigerungsgesten, konnte Santigolds Durchbruch jedoch nicht verhindern. White gestaltete daraufhin Socken, schauspielerte gelegentlich und dachte über Strategien gegen die Vereinnahmung ihrer Musik durch den Mainstream nach. Nun veröffentlicht sie ein Album, das seinen Plastik-Pop-Charakter regelrecht in die Hörer hineinzuprügeln versucht.

Bedenkt man Whites Sozialisierung im Sinne des Punk, klingt 99c wie die fröhlichste Kapitulation aller Zeiten. Der Titel des Albums erinnert an den Einstiegsdrogenpreis, den gängige Musikportale lange Zeit für einen Download berechneten. Die Songs darauf komponierte White als Gute-Laune-Zombies, voll bis zum Anschlag mit Cheerleader-Chants, Four-to-the-Floor-Momenten und Call-and-Response-Gesang. Pop, Rock, Soul – alles drauf, immer dufte drauf. Wer 99c beiläufig hört, könnte es für hirntot halten.

Wer es hingegen aufmerksam hört, wird es ganz bestimmt für hirntot halten und darin ein gewagtes Experiment erkennen. Santigold erklärt sich zum Produkt, zur Verpackung ohne Inhalt. Diese Behauptung ist jedoch selbst eine Mogelpackung: Tatsächlich steht 99c im Zeichen einer Kritik an Konsumübermaß und Kunstverramschung, die vor dem Hintergrund seiner blutleeren Songs umso ätzender wirkt. Can’t Get Enough Of Myself findet sich selbst so geil und eiert doch so orientierungslos im Kreis, dass nicht mehr sicher ist, ob White hier den Zynismus des Popgeschäfts vorführt – oder einfach zynisch ist. Sie hat das Stück jedenfalls als Eröffnungssong und erste Single des Albums auserkoren.

Champagner trinken bis zum Brechen

Santi White alias Santigold: Nur fünf Jahre jünger als Missy Elliott, aber das ist im Pop ja mindestens eine Generation. © Warner Music

White spielt mit der Verpackung von Popsongs, sie erlaubt sich Albernheiten und Übertreibungen in der Hoffnung, ihren Hörern zugleich eine Botschaft unterjubeln zu können. Auch damit steht sie in der Tradition von Missy Elliott, deren absurde Inszenierungen immer wieder subversive Absagen enthielten: an den Rap-Stereotyp des allzeit bereiten Muskelprotzes, die Sexualisierung weiblicher Popstars und jede andere Art der Vereinnahmung. Gibt White auf 99c also eine gnadenlos sorglose Version ihrer selbst, versteht sie das als Protestgeste. Sie pocht auf das Recht, sich allein über den eigenen Erfindungsreichtum zu definieren.

Anders als bei Elliott gibt es am Ende des Gedankenspiels jedoch keine aufregenden Popsongs auszupacken. White hat 99c mit aktuellen und ehemaligen Protagonisten des New Yorker Indierock aufgenommen: David Sitek von TV On The Radio und Vampire Weekends früherer Sound-Direktor Rostam Batmanglij produzierten einige Stücke, Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs spielte Gitarre. Diese Kollaborateure sind nicht neu bei Santigold, ihre Beiträge bleiben berechenbar. Die Chance, auch musikalisch an Missy Elliotts Tüftel-Rap anzuschließen, lässt 99c ungenutzt.

White verpasst damit einen Trend: Junge Künstlerinnen aus England und den USA begründen ihre Karrieren schon seit vergangenem Jahr wieder vermehrt auf Teilaspekten von Elliotts weitreichendem Erbe. Die Londonerin Little Simz verzichtete für ihr Debütalbum auf jeglichen visuellen Schnickschnack und rückte stattdessen die oft unterschätzen Battle-Rap-Talente ihres Vorbilds in den Fokus. Das New Yorker Schandmaul Junglepussy beruft sich auf Elliotts Freude am Obszönen. Tink aus Chicago spürt ihrem R-'n'-B-Riecher nach und knüpft die richtigen Kontakte: Derzeit nimmt sie mit Elliotts Leib-Produzent Timbaland ihre erste Platte auf.

Die junge Kalifornierin Kamaiyah scheint jedoch ein Gesamtpaket im Sinn zu haben. Ihr Garagenupdate von Elliotts verwinkelter Eingängigkeit quillt beinahe über vor abwegigen Prahlereien: In ihrem Eingeweihten-Hit How Does It Feel fordert sie den Rücktritt aller anderen Rapper, trinkt Champagner bis zum Brechen und träumt von Statussymbolen wie einer 20 Jahre alten Spielkonsole in ihrem Einzimmerapartment. Missy Elliotts Humor und Selbstironie sind bei Kamaiyah in guten Händen. Man staunt genauso oft über sie, wie man mit ihr lacht.

Auch die quietschbunte Bildsprache von Elliott beherrscht die 20-Jährige bereits: Ihr Kleidungsstil ist eine abenteuerliche Zusammenstellung aus Ballonseide, Pelzdetails, Gangsta-Rap-Insignien und bequemen Schuhen. Daraus spricht weniger der Modegeschmack eines Kleinkindes als die Suche nach Alternativen zur aufgebrezelten Sexyness, die der US-Rap noch immer von jungen Künstlerinnen erwartet. Überlebensgroß ist bei Kamaiyah nur der Sinn fürs richtige Accessoire. Das backsteinähnliche Mobiltelefon, mit dem sie durch ihre Videos zieht, steht für eine neue Art von Hotline Bling – und stellt direkte Verbindungen zu den ikonisch ausgestatteten Clips von Missy Elliott her.

"99c" von Santigold ist erschienen bei Warner.