Vom Rhinocerus und dem Echo der Leere - Zur Ausstellung Double Vision im Kulturforum

Blick – Welt – Leere 

 

Vom Rhinocerus und dem Echo der Leere 

Zur Ausstellung Double Vision zwischen William Kentridge und Albrecht Dürer 

 

Double Vision als Titel der Ausstellung von Klaus Krüger und Elke Anna Werner in Kooperation mit dem Kupferstichkabinett in der Sonderausstellungshalle des Kulturforums lässt sich auf mehrfache Weise lesen: Der Künstler und sein Double, seine Verdopplung, seine Nachahmung: Vision William Kentridge und Double Albrecht Dürer. Doch auch eine photographische Stereotypie-Arbeit des multimedialen Bild- und Filmproduzenten Kentridge heißt Double Vision. Welche Effekte generiert der zweifache Blick? Oder: Was passiert, wenn die Sichtweise und ihre technische Verfertigung verdoppelt, wiederholt werden? Wie blickt William Kentridge auf Albrecht Dürer, wenn dieser (zurück)blickt? Wie sieht Dürer Rhinocerus? Und was macht Kentridge daraus? – Eine Besprechung aus der Zwischenzeit vor dem Jahreswechsel.

 

Die höchst anregende Ausstellung inszeniert auf vielfache Weise den Blick und seine Befragung. Denn William Kentridge, der im November 2015 zum Apollo Artist of the Year ernannt wurde, erforscht mit seinen multimedialen Bildpraktiken den Blick, wie ihn Albrecht Dürer mit der Arithmetik der Zentralperspektive zugerichtet und durch den Buchdruck in Umlauf gebracht hat. Die Ausstellungsarchitektur von Holodeck Architects verzichtet fast gänzlich auf Wände, die den Blick lenken könnten. Albrecht Dürers Rhinocerus in der Verschränkung von Bild und Erzählung von 1515 wird von William Kentridge auf vielfache Weise als Crowd Pleaser und Dunce mit Sketches und Tintenklecks-Bildern aufgefächert.

 

Das Format Ausstellung als Inszenierung, Lenkung und Abwehr von Blicken wird von den HOLODECK Architektinnen, Michael Ogertschnig und Marlies Breuss, aufgelöst und beispielsweise mit einem langen waagerechten Spiegel an der Studieninstallation eines Lesetisches mit mehreren Katalogen und Anke te Heesens Theorien des Museums zur Einführung (2007) reflektierend vorgeführt. Insofern wird mit Double Vision und seiner Ausstellungsarchitektur aufgeblättert, was sich als Konstruktion von Ausstellung fast unbemerkt herausgebildet hat.

 

Um zu sehen, was ausgestellt wird, bedarf es der Konstruktion eines Blicks bei Albrecht Dürer und der Auffächerung des Blicks in seine vielschichtigen Konstruktionen bei William Kentridge. Das trifft sich in Double Vision gut bzw. spektakulär, wenn einerseits Kunstschätze der Renaissance mit Dürer auf die eher schwierig bewertbaren Schätze aus dem Besitz des Künstlers der Gegenwart treffen. Zur Konstruktion des Blicks im Museum gehört nicht zuletzt der meist verborgene Kunstschatz des Originals aus früher Zeit, wie er im und mit dem Kupferstichkabinett seit dem 19. Jahrhundert geradezu Programm geworden ist, worauf anlässlich des Botticelli-Coups eingegangen wurde.

 

Jeder Blick wird mit Double Vision auf vielfache Weise wie in der Anamorphose hergestellt und entstellt. Zuallererst über die Entstellung stellt sich Bild her. – Davon lässt sich auch sprechen, wenn man von einem Jahresrückblick oder dem Bild eines Jahres im Rückblick schreibt. – Für die Ausstellungsbesucherinnen lässt sich im ersten Raum nicht leicht entscheiden, ob sie mit der Anamorphose am Eingang oder mit Albrecht Dürers „Der heilige Hieronymus in der Studierstube, [ca. 1492], Neudruck 19. Jh.“[1] beginnen sollten. Es ist eine erste Blickfrage. Gehen sie nach dem ausliegenden Ausstellungsplan, käme die „Studierstube“ chronologisch-kunsthistorisch vor der Anamorphose. Doch der Neudruck aus dem 19. Jahrhundert entwertet den Originaldruck auch ein wenig. In der anamorphotischen Spiegelung lässt sich indessen zuerst „Medusa, 2001“ sehen.

 

Medusa von William Kentridge, der im Februar 2014 seine Mosse-Lecture unter dem Titel Image & History hielt,  blickt sozusagen die Besucherinnen zuerst an, wenn sie sie denn sehen. Vielleicht bzw. sehr wahrscheinlich sehen nicht alle Besucherinnen sie zuerst. Name und Bild der Anamorphose überschneiden sich bei Kentridge in jenem mythologischen Bild einer Frau namens Medusa, das selbst einen Mythos der Herstellung von Bildern formuliert. Im Angesicht und Anblick der Medusa erstarren die Männer zur Bild-, Stein- bzw. Salzsäule. Die Anamorphose formt nicht einfach nur ein Bild um, indem es sich trickreich aus einer kalkulierten Entstellung mittels Spiegelung herstellt, vielmehr muss frau vom Medusa-Mythos gelesen haben, wissen, um das Schreckensbild zu sehen. Medusa als Bild aus der Anamorphose ist nicht einfach da, sondern kommt erst aus dem Prozess eines Wiederlesens hervor.

 

Die Anamorphose inszeniert einen Prozess der Umwandlung. William Kentridge, ließe sich sagen, ist nicht nur ein Umformer der Mythologien, vielmehr ließe er sich auch als Leser Jacques Lacans sehen. Im Prozess der bei ihm kaum aufzuhaltenden Umformungen lässt sich schwerlich ein ursprüngliches Zuerst feststellen. Eher schon überschneiden sich Medusa und Wasserträger auf einer bedruckten Katalogseite als Wissensmedium. 

Es war Dürer, der den Apparat zur Einrichtung der Perspektive erfand. Sein »Pförtchen« ist zu vergleichen mit dem, was ich eben zwischen mich und diese Wandtafel gebracht habe: ein bestimmtes Bild, genauer: ein Gewebe oder Gitterwerk, das von geraden Linien durchlaufen wird ― nicht unbedingt Strahlen, es können auch Fäden sein ― die einen jeden Punkt, den ich in der Welt sehe, mit einem Punkt verbinden, an dem dieses Stück Gewebe von dieser Linie geschnitten wird.[2]

 

Im Gewebe oder der Textur überschneiden sich Sprache und Bild, Mythologien und Bilder. Eine „Ästhetik des Realen“[3] wäre vor allem auch eine Arithmetisierung von Wahrnehmung. Was wahrgenommen wird, wird berechnet. Doch das Gewebe, das von Albrecht Dürer zur Zeichenpraxis mit Der Zeichner des weiblichen Modells, 1538 aufgespannt und in der Ausstellung gezeigt wird, lässt sich nicht einfach mit dem Gewebe der Wahrnehmung analogisieren. Im Gewebe gibt es auch mit Lacan viele Punkte, die untereinander verknüpft sind bzw. werden, auf die die „geraden Linien“ treffen können. Nicht zuletzt wird man beim Zeichner des weiblichen Modells bedenken müssen, dass – anders als beim Zeichner der Laute (vermutlich die Vorzeichnung für den Holzschnitt), vor 1525 – das Gewebe als Schirm oder gar Häutchen dient, das das Bild der Frau nicht verletzen und darüber gleichzeitig hergestellt werden soll.

Die „Umkehrung der Perspektive in der Struktur der Anamorphose“ gibt bei Lacan einen Wink auf die Herstellung von Sichtbarkeiten als Modus des Bildes.[4] Double Vision ist bereits vom Design und graphischen Aufbau der Homepage doublevision-berlin.de in das Sichtbarmachen von Text und Vernetzung gestellt. Die Ausstellung und ihre Verflechtung in das DFG-Transferprojekt Evidenz ausstellen – Praxis und Theorie der musealen Vermittlung von ästhetischen Verfahren der Evidenzerzeugung der Freien Universität und des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin wird von internetbasierten Vernetzungspraktiken über Links begleitet und strukturiert. Die Homepage ist nicht nur eine Darstellung vom Aufbau des Transferprojektes, vielmehr funktioniert sie auch als Reflexionspraxis des Mediums Ausstellung mit dem blogartigen Interface der News-, Start- und/oder Default-Site. Mit News wird gleichzeitig die Seite der Voreinstellungen aufgerufen.

 

Über die quasi chronologische Blog-Struktur des Interface wird in der Kombination von Bild- und Textfeldern, die Genese der Ausstellung vom Workshop zum Konzept von „Double Vision“ am 7. Mai 2015 mit dem Eintrag vom 10. Mai über Erstes Exponat aus New York eingetroffen am 11. September 2015 bis zum Apollo Artist of the Year 2015 am 24. November hergestellt. Mittels Verlinkungen der Seiten untereinander wird beispielsweise das Phenakistoscope, 2000 als ein ebenso künstlerisches wie wissenschaftliches „Exponat aus New York“ verlinkt und sichtbar. Die Vernetzung auf dem Interface der blogartigen Homepage setzt das Phenakistoscope von Kentridge als „Blickmaschine“ allererst in Bewegung. 

Das Mitte des 19. Jahrhunderts erfundene Phenakistoskop ist ein Apparat zur Simulation bewegter Bilder und damit ein Vorläufer des Kinos. Dreht man am Griff von Kentridges Phenakistoscope, bewegt sich die vordere, mit Guckschlitzen versehene Schallplatte. Für den Betrachter, der durch die Schlitze auf die Darstellung der ebenfalls bewegten hinteren Platte blickt, ergibt sich der Eindruck einer filmischen Sequenz. Zu bestimmten Zeiten, die auf der Website bekannt gegeben werden, wird diese „Blickmaschine“ in der Ausstellung in Gang gesetzt werden. (Erstes Exponat aus New York eingetroffen)  

 

Insofern die Homepage zur Ausstellung in mehrfacher Weise mit dem Transferprojekt vernetzt ist, das nicht zuletzt als „museale() Vermittlung von ästhetischen Verfahren der Evidenzerzeugung“ angelegt wurde, möchte ich an dieser Stelle, an den Ausstellungsplan erinnern. Denn der Ausstellungsplan, so wie er im Vorraum der Ausstellung ausliegt, gehört ganz entschieden zur Praxis der Evidenzerzeugung als eine Möglichkeit. Es lässt sich nämlich durchaus zunächst ein schweifender Blick ohne Plan praktizieren, indem man sie vom Ende her aufsucht, um dann beispielsweise wie in dieser Besprechung bei der Anamorphose einzuhaken und damit auch das Exponat „1 Der heilige Hieronymus in der Studierstube“ zu verfehlen. Die „Vorzeichnung“ (Exponat 3) oder der „Probedruck“ zu Herkules am Scheideweg von ca. 1498 (Exponat 47) werden möglicherweise als Zwischenstufen des (gedruckten) Bildes auf diese Weise erst sichtbar.

 

Das Rhinocerus Albrecht Dürers von 1515 ist nicht nur ein „Crowd Pleaser“ oder Publikumsliebling, so wie es beispielsweise 2011 in kolorierter Ausgabe nach Dürer das Plakat der Ausstellung HundKatzeMaus im Kunsthaus Zürich zierte oder es 2004/2005 zum Bühnenbildentwurf von Kentridges Zauberflöte wurde. Es ist auch ein Rätsel an der Schnittstelle von Sprache, Bild und Wissen. Denn Albrecht Dürer dürfte seinem Rhinocerus kaum gegenübergestanden haben. Wie stellte er sich in seiner Zeichnung um 1515 also sein Rhinocerus vor Augen? Welche Transformationen und Umwandlungen beispielsweise von der Zeichnung zum Holzschnitt und Abdruck im Buch gehören bei Albrecht Dürer zur Bildpraxis? Die Bild- und Übertragungspraktiken zwischen Tier und Mensch generieren insbesondere in der Renaissance Bilder von Mischwesen auf neue Weisen.  

 

Dürer konnte sich allenfalls auf Erzählungen vom Hörensagen und der eher beschränkt zirkulierenden Schrift Forma [et] natura [et] costumi de lo Rinocerothe stato condutto importogallo dal Capitanio de larmata del Re [et] altre belle cose condutte dalle insule nouamente trouate des Astrologen und Arztes Giovanni Jacopo de Penni berufen, von dem sich ein Exemplar in der erzbischöflichen Biblioteca Capitular Colombina in Sevilla erhalten hat. Das Titelblatt der auch als Flugschrift benannten Nachricht vom Nashorn, das als Geschenk des Herrschers von Indien am 20. Mai 1515 im Hafen von Lissabon eingetroffen war, kann kaum als Vorlage gelten. Dennoch oder gerade deshalb generierte es das Bild vom Nashorn. Die Quellen für Dürers Rhinocerus sind rätselhaft. Dennoch bestimmt sein Bild das Wissen vom Nashorn für geraume Zeit.

 

Das Nashorn von Lissabon galt als Sensation und Gegenstand von Wert, Wissen und Macht. Als solcher wechselte es in Europa nochmals seinen Eigentümer. Nachdem es König Manuel I. von Portugal für kurze Zeit in seiner Menagerie im Ribeira-Palast untergebracht hatte, schenkte er es im Juli 1515 Papst Leo X. in Rom. Die Legende auf dem Holzschnitt bzw. Bild vom Rhinocerus weicht insofern von der Erzählung ab, als sie das Jahr der Ankunft auf „1513“ legt, was möglicherweise ein Effekt konkurrierender Erzählung sein mag, andererseits auch nahelegt, dass Dürer nicht die Flugschrift von Penni vorgelegen hatte. 

… Es hat ein farb wie ein gespreckelee Schildkrot. Und ist vo dicken Schalen uberlegt fast fest. Und ist in der größ als der Helfandt Aber nydertrechtiger von paynen/und fast werhafftig. Es hat ein scharff starck Horn vorn auff der nasen/Das Begyndt es albey zu wezen wo es be staynen ist. Das dosig Thier ist des Helfanz todt seyndt. Der Helffandt furcht es fast viel/dann wo es In ankumbt/so laufft Im das Thier mit dem kopff zwischen bey fordern payn/ und reyst den Helffandt unden am pauch auff oft erwürgt In/des mag er sich erwern. Dann das Thier ist also gewapnet/das Im der Helffandt nicht kann thun. Sie sagen auch das der Rhynocerus Schnell/Fraydig und Listig sey.[5]   

 

Das Wissen und das Bild vom Rhinocerus nährt sich nicht zuletzt aus dem Studium antiker Schriften und dem Brief des Kaufmanns Valentin Fernandes an Albrecht Dürer. In der Legende wechseln Formulierungen des Vergleichs beispielsweise mit der Farbe und Musterung einer Schildkröte und der Größe des Elefanten mit Erzählungen vom Verhalten des Wetzens des Horns an Steinen in eine Kampferzählung. Vor allem gibt die emblematische Charakterologie eines „Sie sagen auch“ Albrecht Dürer einige Gelegenheit, die Listigkeit mit der Zeichnung des Auges zu skizzieren. In der Originalzeichnung Albrecht Dürers wird die Legende unter die Zeichnung gesetzt. Auf rätselhafte Weise kommt es auch hier zur Datierung auf das Jahr 1513. Kombinatorik beispielsweise bei den Füßen des Elefanten, Ähnlichkeit beim Schildkrötenpanzer und emblematische Charakterologie generieren ein zeitgenössisch-bildhaftes Wissen vom Rhinocerus.

 

Das Transferprojekt wählt mit der Thematisierung des Evidenzverfahrens eine etwas andere Perspektive. Es legt Wert auf die „‚grafische‘ Ästhetik des Schwarz-Weiß“. Insofern bereits mit der Legende die Farbe als wichtiges Scharnier der Bildkonstruktion und des Blicks angesprochen wird und William Kentridge durchaus Farbe einsetzt, greift die „Ästhetik des Schwarz-Weiß“ möglicherweise zu kurz. Über die Farbe wird das Rhinocerus literarisch diskret mit der gepanzerten Schildkröte kombiniert, die zugleich einen Oberflächenkörper zwischen Elefant und Schildkröte generiert. Die Farbe kommt bereits in Dunkelgrün kurz nach 1620 mit dem „Nachdruck vom originalen Druckstock, ergänzt durch eine neue Farbdruckplatte, von Willem Janssen, Amsterdam“ zum Zuge. 

Im Hinblick auf Evidenzverfahren aufschlussreich ist die beiden Künstlern eigentümliche, von ihnen in besonderem Maße reflektierte, ‚grafische‘ Ästhetik des Schwarz-Weiß. Diese heuristische Klammer – nicht vorrangig die Rückgriffe Kentridges auf Bildfindungen Dürers – motiviert die epochenübergreifende Zusammenschau der Künstler aus Renaissance und unserer eigenen Zeit.   

 

William Kentridge zerlegt die Welt und deren Darstellung als Globus in World on Its Hind Legs, 2012 aus Stahl. Die Welt auf ihren Hinterbeinen wehrt sich auch gegen ihre Aufteilung, ließe sich mit der Formulierung des Titels sagen. Kentridges Titel und Verweigerung von Titeln korrespondiert immer auch mit den Modi der Bilder. Sie machen die Skulptur allererst als Welt sichtbar und unsichtbar zugleich. Der Globus wird durchbrochen und die Hinterbeine erinnern aus der Ferne an Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, ohne dass Kentridge es schreiben oder sagen müsste. Doch die Stellung der Titanen-Beine als Bild modernen Wissens von der und Macht über die Welt hat sich in animalische Hinterbeine verkehrt. Das Unscheinbare, das „Ungewisse“[6] – „Seeing the Uncertain“ – und das Amorphe, wie es in der Anamorphose vorliegt, kommen bei Kentridge auf besonders starke Weise zum Zuge.

 

Albrecht Dürers Melencolia I gehört wahrscheinlich zu den rätselhaftesten Bildinventionen, die zugleich emblematisch ein Wissen des Bildes von sich selbst ausstellen. Mit der Fledermaus, die das Titelband des Bildes im Fluge trägt, wird seit der Zeit um 1500 auch das neue schwierige Wissen des Menschen von sich selbst, wie es nicht zuletzt in Sandro Botticellis Teufelsdarstellung nach der Divina Commedia durchschimmert, in Erinnerung gerufen. Angereichert mit den lesbaren Emblemen des Wissens von der Welt kann der Mensch sie dennoch nicht entziffern. Auf diese Weise ist die Bildgebung der Melencolia I selbst zu einem Streitfall des Wissens und der allegorischen Bildordnung geworden. Im kaum abgeteilten „Denkraum der Bilder/Inside the Thought-Space of Images“ der Ausstellung wird von den Kuratorinnen abermals Dürer Kentridge gegenübergestellt, obwohl ein Streit über die emblematische Komposition kaum zur Ruhe kommen kann. 

Im komplexen Gefüge aus sinnender Figur und symbolischem Inventar bringt Dürers Melancholie den mentalen Denkraum des Künstlers zur Anschauung. Kentridge thematisiert ihn über die performative und begriffliche Reflexion der eigenen Arbeit im Atelier.[7]    

  

Das Verfahren der Gegenüberstellung, wie es in der Ausstellung Double Vision als Ausstellungspraxis und mit dem Ausstellungsplan konzipiert wird, schränkt die Möglichkeiten der Sichtweisen auch ein wenig ein. Denn Kentridges Installation eines ECHO OF EMPTINESS lässt sich selbst über die Epochenzuschreibung nicht derart klar von Dürers Melencolia trennen. Die Leere, die von der Melencolia mit ihrem ganzen Arsenal des Wissens hinüberruft, findet vielmehr ihr Echo in Kentridges Installation. Die emblematische Melencolia will nicht nur durch eine Schwarz-Weiß-Asthetik als Wissen von der Melancholie betrachtet werden, vielmehr geht der Blick der „sinnende(n) Figur“ auf das Spruchband der Fledermaus oder auch ins Leere.

 

Albrecht Dürers Kunst geht eher ins Format des Kleinen. Nur einmal wird aus der Kunst im Kleinen mit der Ehrenpforte Kaiser Maximillian I., 1515 ein großes Bild, das die Größe des Menschen übersteigt. Aus 195 Druckstöcken auf 36 Großfoliobögen entfaltet sich mit Die Portenn der Eeren und Macht in der Mitte zwischen Die Porten des Lobs und Die Porten des Adels ein ebenso genealogisches wie meritologisches Herrschaftsprogramm. Das gleichfalls als Historiographie angelegte Programm kombiniert das Wissen von der Macht mit einem Bildprogramm, das ebenso mikrologisch wie mikroskopisch ausgearbeitet wird, um als Bild eines Tores mit ausführlicher Legende vor die Leser und Betrachter gestellt zu werden. An der Schnittstelle von Buch als Medium der Wissensverbreitung und mikro- wie makroskopischem Bild lässt sich die Ehrenpforte Kaiser Maximillian I. nur schwer einem Medium zuzuordnen.

 

In Korrespondenz mit dem Bild- und Wissensprogramm hat William Kentridge nicht zuletzt den Erinnerungsbaum Remembering the Treason Trial von 2013 gleichsam performativ wachsen lassen. Geht es Kaiser Maximillian I. um ein Konzept von Macht, das sich quasi mit dem Holzschnitt als Bild materialisieren soll, so lässt William Kentridge eine prozessuale Erinnerung an den Landesverratsprozess in Südafrika zwischen 1955 und 1959 zu. Das Bild des Grases überdeckt dabei buchstäblich das Massaker und dessen Berichte mit dem Schriftzug THE MASSACRE UNDER THE GRASS.

 

Gerade die Überschneidung von Bild und Text in der Ausstellung eröffnet unzählige Korrespondenzen. Sie wird unerschöpflich und zu einer besonders anregenden, deren Besuch sich gar mehrmals lohnte. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Guten Start ins Neue Jahr!

 

DOUBLE 

VISION 

Albrecht Dürer 

William Kentridge 

bis 6. März 2016 

Sonderausstellungshalle 

Kulturforum 

Matthäikirchplatz 

10785 Berlin

 

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[1] Ausstellungsplan. (Faltblatt) Double Vision. Albrecht Dürer. William Kentridge. Berlin 2015.

[2] Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim, Berlin: Quadriga, 1987. S. 93.

[3] Vgl. Samo Tomšič: Ästhetik des Realen in der Psychoanalyse Jacques Lacans (Akademie der Bildenden Künste München, 12. Juni 2015)

[4] Jacques Lacan: Die … [wie Anm. 2] ebd.

[5] Zitiert nach Drucklegende.

6 Siehe Ausstellungsplan.

[7] Ebd.