Nicht fürs Wohnzimmer - Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal

Wunde – und – Sehenhören 

 

Nicht fürs Wohnzimmer 

Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal 

 

Jeder Ton ein Ereignis. Wer am Sonntagabend die konzertante Aufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde unter der Leitung von Sir Simon Rattle in der Berliner Philharmonie gehört hat, wird ihn für sehr lange Zeit nicht mehr hören wollen. Am Bühneneingang der Philharmonie schwärmte eine Dame ihrem Begleiter, einem Mitarbeiter, vor, was sie gerade erlebt hatte. In Wien habe sie den Tristan mehrfach gehört, aber dies gerade sei ein Wagner-Tsunami gewesen. Die ältere Dame auf dem S-Bahnhof Potsdamer Platz sagte, dass sie den Tristan oft gehört habe. Aber nun wolle sie ihn erst einmal nicht mehr hören. Selten, fast nie war das Publikum in der Philharmonie so konzentriert gewesen. Deutlich nachhörende Stille nach dem letzten Ton. Anschwellender Applaus. Dann bricht die Begeisterung in langer Standing Ovation aus.

 

Sir Simon Rattle ist bislang nicht als Wagner-Dirigent hervorgetreten. Kein Zyklus. Kein Bayreuth-Engagement. Auch Glyndebourne nur mit dem Rheingold. Die Walküre einzig mit den Berliner Philharmonikern. Die Aufführungen von Tristan und Isolde mit Eva-Maria Westbroek (Isolde) und Stuart Skelton (Tristan) in Baden-Baden fanden keinen großen Nachhall. Die Festspielprosa von Christine Lemke-Matwey in der ZEIT fiel mit „Illustrator() und Filmmusiker()“ am 27. März fast schon als Verriss aus. Im Sonderkonzert am Sonntag mit Live-Übertragung in der Digital Concert Hall gelang nun der Coup. Geht der Tristan konzertant? Sir Simon Rattle überlegt sich so eine Regelwidrigkeit sehr genau. Das Orchester gehört beim Tristan in den Graben, damit die Musik abgemischt werden kann. Alles andere gilt als tödlich für die Sänger. Und dann gelingt jeder Ton. Statt Mischung radikale Transparenz, Modernität! Der Tristan ein Schock, auf den niemand gefasst war.

 

Richard Wagner hat Tristan und Isolde weder für das Wohnzimmer und die Chaiselongue komponiert, noch den Text für die Kaffeetafel geschrieben. Das oft genutzte Atelierfoto von Joseph Albert mit Ludwig und Malvine Schnorr von Carolsfeld als Titelbesetzung, München 1865, legt das indessen nahe. Aber musikalisch und literarisch handelt es sich dabei um ein Missverständnis. Dennoch wurde und wird die „Handlung“, die Oper oder das Musikdrama recht häufig so aufgeführt. Donald Runnicles bot mit dem Orchester der Deutschen Oper und Graham Vicks Inszenierung 2011 sozusagen das volle Wohnzimmerprogramm. Der zweite Akt spielte auf der Wohnzimmercouch, was klanglich und gesanglich für Peter Seiffert und Maria Schnitzler nicht folgenlos blieb. Die konzertante Aufführung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Marek Janowski mit Stephen Gould als Tristan und Nina Stemme als Isolde 2012 in der Philharmonie fiel beachtlich aus und blieb doch eher im Repertoire des Schon-Gehörten.

 

Der Liebestod im Wohnzimmer mag zwar zum Imaginationshaushalt der schwer einzuordnenden „Handlung“ gehören, allemal wenn sich das soziale Umfeld gegen ein liebendes Paar wendet. Schnell kippt dann das musikalisch-literarische Konzept der Romantik in den romantischen Fernsehabend auf der Couch. Doch die Romantik in der Musik und der Literatur sind wie bei E.T.A. Hoffmanns Fantasiesstücke und Nachtstücke, Franz Schubert und Wilhelm Müllers Winterreise oder Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl wundersame Geschichte vor allem ein Modus des Zweifelns an der Wahrnehmung. Das Subjekt wird nicht nur kräftig durchgeschüttelt und -gerüttelt beispielsweise in der Reimseligkeit der Verse, vielmehr schwankt es zwischen seiner bereitwilligen Aufgabe durch Liebesunterwerfung, einer schwankenden Uneindeutigkeit zwischen Leben und Tod[1] und dem Wunsch der Ich-Auslöschung.

 

Richard Wagners Komposition nach der Tristan-Legende von Gottfried von Straßburg stellt radikal die Fragen nach Herkunft, Heimat und Ort des Subjekts. Tristans Zweifel im dritten Akt beschreiben oder inszenieren nicht nur die Rückkehr aus einer längeren Ohnmacht oder Amnesie, sie führen vielmehr das Subjekt unter Gedächtnisverlust vor. Was hinlänglich als eine der handlungsärmsten Passagen der Opernliteratur gilt und oft zum Martyrium der Tristan-Darsteller wurde und wird, bricht mit Stuart Skelton und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle als existentielles Ereignis und Fragestellung hervor. Es geht also auch anders. Und Stuart Skelton bietet den vielleicht facettenreichsten Tristan im mörderischen 3. Akt. Sein Wissen wird als ein nicht-sagbares formuliert.

 

Wagner will hier nicht die Opernbesucher langweilen, damit sie Isoldes Liebestod am Schluss besser genießen können. Er legt vielmehr eine Wunde offen, von der zwar viel gesungen wird, aber nur selten etwas im Mischklang aus dem Orchestergraben zu hören ist. Rattle treibt die Tristan-Fragen nach dem Woher, Wo, Was in die Langeweile der Handlungslosigkeit als Drama keilförmig hinein. Auf merkwürdige Weise berichtet Tristan von einer Leere, einem Nicht-Ort. Statt eine Utopie zu entwerfen, erzählt Tristan vom Ich in der Ödnis. 

Dünkt dich das? 

Ich weiß es anders, 

doch kann ich’s dir nicht sagen. 

Wo ich erwacht – 

weilt’ ich nicht; 

doch, wo ich weilte, 

das kann ich dir nicht sagen. 

Die Sonne sah ich nicht, 

noch sah ich Land und Leute: 

doch, was ich sah, 

das kann ich dir nicht sagen.

 

Kryptisch spricht Tristan von seiner Ohnmacht, nachdem ihm Kurvenal erzählt hat, wie er nach Kareol gekommen ist – „Nun bist du daheim, daheim zu Land:/im echten Land,/im Heimatland“. Doch „echte(s) Land“ als sicherer Boden unter den Füßen oder gar „Heimatland“, wie es Kurvenal überschwänglich und allzu beredt Tristan verspricht, wollen gerade nicht bei ihm zum Zuge kommen. Die physische Ohnmacht und Amnesie ist mit einer weit schwierigeren Frage verknüpft. Das Ich formuliert sich nämlich in dieser Sequenz der Handlung als unheimlich und heimatlos. Es stellt sich allein über die Erzählung her. Wenn die Erzählung fehlt, bleibt auch das Ich aus. Das ist nicht einfach eine körperliche Verletzung durch einen Schwerthieb geschuldet. Es stellt vielmehr die Frage nach dem handelnden Subjekt bzw. Subjekt der Handlung.

 

Nicht Ohnmacht, Siechtum oder Scheintod als Herkunft und Rückkehr des Subjekts werden von Tristan formuliert, sondern vor allem das Ausbleiben und Versagen der Sprache, an die das Ich gebunden bleibt – „kann ich dir nicht sagen“. Musikalisch kontrastiert Wagner Kurvenals landläufige Erzählung mit dem ganzen anderen Register der unsagbaren Ortsfrage durch Tristan. Doch Tristans Delirium bleibt nicht einfach flach, sondern kontrastreich. Zwischen der Ohnmacht und der Macht der Sprache tut sich zu Beginn des 3. Aktes ein schrecklicher Abgrund auf, der für üblich praktischer Weise mit einem Mischklang abgedeckt wird. Bei Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern bricht er schockartig auf. Tristan befindet sich wie Isolde auf ihre Art nicht im Liebeswahn, sondern in einer Krise der Subjektbegründung. Das greift stärker als eine Identitätskrise oder „Wirklichkeitsausschaltung durch Musik“.[2]

 

Das Versagen der Sprache durchzieht die Handlung von Tristan und Isolde. Befehle werden von Anfang an nicht befolgt oder anders ausgeführt wie von Brangäne (Sarah Connolly). Die Befehlsförmigkeit der Sprache wird im Tristan eng mit einer Ökonomie des Tausches verknüpft, wenn es um die Sühne als Modell der Abgleichung und den „Sühnetrank“ geht. – „Befehlen ließ/dem Eigenholde/Furcht der Herrin/ich, Isolde!“ – Durch den „Sühnetrank“, der der Logik des Tausches entsprechen soll, passiert keine Abgleichung als Geständnis der Liebe, vielmehr wird er zu Isoldes Frage nach dem Ort und dem Leben – „Wo bin ich? Leb ich?/Ha! welcher Trank?“ – und nicht durch einen vorzeitigen Rausch bedingt. Wo sich das Ich befindet, wenn es von der Musik in einer Eigendynamik davondriftet oder auch gerissen wird, lässt sich nicht mehr als „Wirklichkeitsausschaltung“ formulieren. Sie betrifft radikaler die Ökonomie der Sprache in Wagners Komposition aus Musik und Text, besser: Musiktext.

 

Es gibt eine Wundenlogik in Richard Wagners Texten und Musiken, die die Existenz des Menschen betrifft. Was sind diese Wunden, die wiederholt geschlagen werden und offenbar eine Ökonomie des Zeichens und des Zeichnens in Gang setzen? Die Wunden heilen nicht. So beginnt denn die „Handlung“ von Tristan und Isolde mit einer Verletzung durch Sprache als Verhöhnung – „Wer wagt es mich zu höhnen?“ –, wie bereits besprochen wurde.[3] Die Wunden insbesondere in Wagners Texten sind auf bedenkenswerte Weise psychisch wie physisch. Das gilt nicht zuletzt für den Parsifal, wo die Wunde auf durchaus paradoxe und utopische Weise geschlossen wird mit der Formel: „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“[4] Wird Isoldes Wunde sozusagen im Liebestod geschlossen? Wird das Ich von seiner Wunde erlöst?

 

Sir Simon Rattle hat sich mit der Frage der Wunde und ihrer Heilung als Erlösung in Tristan und Isolde durchaus radikal in zweierlei Hinsicht befasst und in einem Interview mit Olaf Wilhelmer formuliert. Denn die Wunden Tristans und Isoldens lassen sich nur durch einen Heilungsvorgang schließen, der als Erlösung formuliert werden kann. Doch wie wird diese Erlösung musikalisch komponiert? Werden Isolde und Tristan von der Qual der Liebe erlöst? Wie wird ihr Erlösungswunsch formuliert? Sir Simon Rattle spricht im Interview sehr geschickt von einer Arbeitspraxis, einem Produktionsprozess: 

Die Bedeutung des Liebestodes wird die sein, auf die ich mich mit dem Regisseur verständigen kann. Denn als Dirigent können Sie nicht einfach sagen: Na ja, der Regisseur denkt dies, aber ich denke das – und dann die Reise gemeinsam antreten. Natürlich ist das auch eine Form von Verklärung, eine Erlösung. Das ist eine Reise, bei der es darum geht, wie weit sich Harmonie entwickeln kann, ehe sie zerbricht, und wie lange man auf die Erlösung warten kann. In der Musik hat niemand zuvor etwas so Extremes gemacht.[5]

 

Es geht allerdings auch um eine Spaltung durch die Sprache. Man könnte dies fast eine spezifisch Wagnersche Sprachkritik nennen, die auf Literatur und Musik wirkt. – „Doch, dieses Wörtlein: und,/wär es zerstört,/wie anders als/mit Isoldes eig'nem Leben/wär Tristan der Tod gegeben?“ – die Verschmelzungs- und Erlösungsphantasie der Liebesnacht, wird an dem trennenden „Wörtlein: und“ dialogisiert und diskutiert, um es zu „zerstör(en)“. Was sprachlich, semantisch trennt und verbindet, soll zerstört werden. Das ist nicht zuletzt eine radikale Sprachkritik, die als Subjekt- und Geschlechtertausch – „Du Isolde,/Tristan ich,/nicht mehr Isolde! / Du Tristan, Isolde ich, nicht mehr Tristan!“ – in einem Chiasmus formuliert wird. Der Subjekttausch wird radikal als Geschlechtertausch in Übereinstimmung von Tristan und Isolde besprochen. Die Kategorien des Subjekts von Ich und Du werden ebenso wie Namen und Geschlecht ausgetauscht, um eine Ökonomie der Liebe zu formulieren.

Der erste Anflug der Liebe durch den Sühne- und Liebestrank heilt nicht, sondern trennt und schiebt auf. Die Ökonomie die Liebe zielt nicht auf Gewinn. Der Verlust spielt keine Rolle. Sie wird formuliert als ein Tausch für nichts. Denn es wäre durchaus nichts gewonnen durch den Subjekt- und Geschlechtertausch. Liebe wird von Wagner nicht nur als eine Begehrensökonomie formuliert und sie zielt nicht nur auf Harmonie, sondern auf Aufschub, wenn Sir Simon Rattle die Partitur liest: 

Es ist einfach ein sagenhafter Mythos. Aber wenn Sie wirklich in den Trank hineinschauen wollten, würden Sie darin eine außergewöhnliche Anzahl von nicht aufgelösten chromatischen Akkorden entdecken![6]

  

Die ambivalente Kraft der Sprache wird insbesondere im dritten Akt durch das Sehenhören beschworen. Es funktioniert sowohl nach dem klassischen Kunstgriff der Teichoskopie im Drama, mit der erzählt und übertragen wird, was vor der Mauer für das Publikum unsichtbar stattfindet, als auch als Wahrnehmung im Delirium, wie es bei Tristan und vor allem im sogenannten Liebestod – „seht ihr’s Freunde? Säht ihr’s nicht?“ – zum Zuge kommt. Habt Ihr es nicht gesehen, was ich sah, Freunde, fragt Isolde allen Ernstes nach. Es geht nicht darum, eine Wirklichkeit nicht zu sehen oder auszuschalten, sondern die Macht der Sprache zum Sehenhören zu nutzen. Es geht nicht nur um eine, wie man sagt, Hörigkeit, was man missverstehen könnte. Vielmehr wird allen Ernstes die 3-D-Brille versprochen, um die Abhängigkeit des Sehens vom Hören nicht nur der Worte radikal auszuführen. Ein höchst verstörendes Hörereignis, wenn der Klang im Graben nicht abgemischt wird, sondern mit voller Wucht auf die Hörer trifft. Danach keine Glättung, Synthese oder Apotheose, sondern eher ein Abbruch. 

 

Natürlich wird man nicht sagen können, dass Sir Simon Rattles Tristan und Isolde ein besonders schöner oder wohlklingender Mythos geworden ist. Aber die Handlung ist haargenau durchdacht und aus den Tönen herausziseliert. Volumen als Lautstärke gilt gerade nicht nur der Überwältigung, sondern der Radikalität. Im Interview hatte Rattle auf seine Lektüre der Dirigierpartitur von Gustav Mahler verwiesen. Trotzdem geht der Gesang nicht ohne Aktionen oder Handlungen der Sängerinnen, die in der konzertanten Aufführung aus Baden-Baden sozusagen herüberwinken, um aus dem Mythos gar noch Charaktere auszubilden. Im Tristan sind alle Texte und Töne doppel- und mehrdeutig, um Trennung und Vereinigung zu ermöglichen. Es ist aber auch das permanente Scheitern der Sprache als Verständnistransporteur, was insbesondere König Marke, brillant Stephen Milling, bei seinem Schlussauftritt vorführt. Sein Verständnis ist völlig vergebens. Das Verstehen und das Wissen bekommen in Richard Wagners Tristan keine Chance.  

 

Nun war der Tristan bis zum Sonntagabend nie zuvor in dieser Weise gehört worden, ja, unerhört. Das hat dann ganz gewiss auch etwas mit der Spannung, Konzentration aller Beteiligten und so des Publikums zu tun. Sir Simon Rattle würde gewiss bestätigen, dass er vorher nicht wusste und weiß, ob es gelingen wird. Es hängt von der Praxis, der Durchführung ab, die ebenso hätte misslingen können. So aber brillierten Eva-Mairia Westbroek, Stuart Skelton, Sarah Connolly, Michael Nagy, Stephen Milling, Thomas Ebenstein, Roman Sadnik, Simon Stricker und verwandelten den Raum der Philharmonie in ein utopisches Schiff. Vielleicht auch stellte sich auf paradoxe Weise jenes Maß an Konzentration und Lust an der Produktion ein, weil es Live per Streaming global übertragen und aufgezeichnet wurde. Man darf annehmen, dass es in Glücksfällen auf sehr große Bildschirme mit sehr guten Boxen ins Wohnzimmer übertragen wurde und werden wird, für das die Radikalität der Aufführung nun ganz und gar nicht gemacht war. Aber vielleicht braucht es gerade das Wohnzimmer, um die Radikalität aushalten zu können.

 

Torsten Flüh  

 

Digital Concert Hall

in Kürze:

Tristan und Isolde

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[1] Hier ist besonders an die Maschinenthematik in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann mit der Figur der Olimpia zu erinnern. Als Maschine ist sie tot. In den Augen Nathanaels lebt sie.

[2] Holger Notze: »Ich höre der Hörner Schall« Wirklichkeitsausschaltung durch Musik in Wagners Tristan. In: Berliner Philharmonie: Programmheft 54 Saison 2015/2016, Berlin 2016, S. 14.

[5] Olaf Wilhelmer: »In der Musik hat niemand zuvor etwas so Extremes gemacht« Sir Simon Rattle im Gespräch über Wagners »Tristan und Isolde«. In: 128 Das Magazin der Berliner Philharmoniker No. 01, 2016, S. 87.

[6] Ebenda