Verkabelte Klangwelten - Zu Musik am Draht des Ensembles Berlin PianoPercussion

Elektronik – Musik – Simulation 

 

Verkabelte Klangwelten 

Zu Musik am Draht des Ensembles Berlin PianoPercussion

 

Am Samstag schickte sozusagen zum Ultraschall-Festival vorab das ebenso experimentierfreudige wie exzellente Ensemble Berlin PianoPercussion das Programm Musik am Draht 1 im Konzerthaus in den Raum. Elektronik und Live-Elektronik gestalteten in Kombination mit der Klangerzeugung an Klavieren und Schlagzeugen faszinierende Klangwelten mit ganz unterschiedlichen Akzenten. Andre Bartetzki als Klangregisseur am Mischpult und Computer schlüpfte quasi mit ins Ensemble. Denn es geht um die Kombination zweier Arten der Klangerzeugung zu einem Klangereignis. 

 

Ya-Ou Xie und Sawami Kiyoshi (Klavier), Adam Weisman und Michael Weilacher (Schlagzeug) sind über Kopfhörer für Bewegte Beobachtung 3 von Orm Finnendahl mit dem Computerprogramm verkabelt. Die Verkabelung gehört zur Produktionspraxis der Elektroakustischen Musik, wie sie von Orm Finnendahl in den letzten Jahren entwickelt und komponiert worden ist. Stand die Frage nach der Simulation von Wirklichkeit noch als ein unheimliches Szenarium für Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Film Welt am Draht (1973) im Raum, schlägt das Ensemble Berlin PianoPercussion nun mit seinem Projekttitel vor, dass dieses für die Gemischte Musik (Musique mixte) obsolet geworden ist.   

 

Hans Tutschuk, Chengbi An, Miyuki Ito, Wojtek Blecharz und Orm Finnendahl gehören heute zu den lebenden Komponisten, die die unterschiedlichen Möglichkeiten der Gemischten Musik, die sich seit den 50er Jahren entwickelt, mit ihren Kompositionen erforschen. Komponieren heißt in diesem Sinne nicht nur das akustische Umsetzen oder Übertragen von beispielsweise visuellen Erlebnissen wie bei Miyuki Itos Stück La transparencia del espacio (Die Transparenz des Raumes) von 2015 in Musik, vielmehr geht es Orm Finnendahl mit der maschinellen Verschaltung von live gespielter Musik um kreative „Mischformen“. Der Musiker wird zum „Konstrukteur“.

Technologie hat für mich in einem solchen Zusammenhang die Funktion einer Objektivierungsinstanz, die durch Wiederholbarkeit und Variantenbildung eine größere Distanz zum Gegenstand erzeugt, als dies bei traditionellen Kompositionsverfahren der Fall ist. Zugleich werden durch die Verschiebung der Betrachtungsperspektive vom Konstrukteur/Musiker zum Rezipienten wahrnehmungs- und aufführungsbezogene Aspekte sichtbar, oder rücken gar in den Vordergrund und erzeugen dadurch andere Gewichtungen und Anschlussoptionen, die zu einer größeren Reflexionstiefe gegenüber dem betrachteten Gegenstand führen.[1]

 

Das Zusammenspiel von Musiker und Maschine mag immer noch und immer wieder eine Wahrnehmung von Musik als Ausdruckskunst des Gefühls verstören. Was der Zuhörer als Klangkomposition hört, wird von den Musikern an den Instrumenten und dem Computer über 6 oder 8 Lautsprecher im Konzertsaal erzeugt. Nur mit Mühe oder wenn der Komponist wert darauf legt, lassen sich Klangereignisse im Raum als vom Computer erzeugte identifizieren. Der elektroakustische Klang vermischt sich mit dem der Instrumente. Anders gesagt, heißt das auch, dass der Computer zum Musikinstrument wird. Doch damit wird die Wahrnehmung der Musik als Ausdruck von Gefühl hintertrieben. Statt Gefühl beim Musikmachen läuft der Computer in der Differenz von 0 und 1 von selbst.  

 

 

Die Maschine gilt als Feind des Gefühls, weil sie ohne Gefühl läuft. Insofern schließen sich seit der Nouvelle Édition der Œuvres Philosophiques von La Mettrie durch Friedrich II. in Berlin 1748 und dann nach der Revolution 1796 in Paris Gefühl und Maschine aus bzw. der Mechanismus der Sinnesempfindungen ersetzt die Seele, wenn der Arzt als Philosoph sie als Mécanisme des sensations formuliert.[2] Eine weitere Drehung erhält die Maschine um 1900 beispielsweise mit dem „Bioskop“ als Film, der „Lebende Photographien“ und Leben selbst sichtbar und wiederholbar zu machen, verspricht und produziert.[3] Nach Meyers Großem Konversationslexikon von 1905-1909 geht in dieser Zeit der Begriff Simulation zuallererst in die deutsche Sprache ein.


Still aus: Welt am Draht (1973) 

Frühere Wörterbücher der deutschen Sprache kannten den Begriff Simulation nicht. Obwohl Adelung sich an Diderots und D’Alemberts Enzyklopädie orientiert, nimmt er ihn nicht in die deutsche Sprache auf. Denn in der Enzyklopädie wird Simulation 1751 allein auf die Grammatik und die Rechtsprechung bezogen.[4] Simulacrum erfährt als Simulacre bezüglich einer Geschichte der Bilder und der Idolatrie eine ausführlichere Berücksichtigung als ein „alter Begriff des Geweihten, welches Idole, Bilder, Repräsentation bezeichnet“.[5] Erst um 1900 erfährt die Simulation dann in Meyers Großem Konversationslexikon eine stärkere Berücksichtigung zunächst als „Scheingeschäft“ und dann vor allem hinsichtlich des „Arbeiterversicherungsgesetzes“ und der Psychopathologie. Mit anderen Worten: die Simulation wird im juristischen Feld als Vortäuschung eines Geschäftes oder einer Krankheit dem Betrug als moralisch verwerflich zugeschlagen. 

Häufig, besonders seit Einführung der Arbeiterversicherungsgesetze, werden Krankheiten simuliert, um bestimmte Zwecke zu erreichen, und namentlich Epilepsie, Krämpfe, Geistesstörungen, Lähmungen, Bluthusten, Blindheit, Taubheit etc. nachgeahmt; ebenso werden aber auch aus Scham, Eitelkeit, Furcht vor Strafe und zur Erlangung der Gelder der Militärdienstversicherung etc. vorhandene Krankheiten verheimlicht (dissimuliert), die in letzterm Falle, sobald die Auszahlung stattgefunden hat, wieder geltend gemacht werden. Simulant, besonders ein eine Krankheit Heuchelnder.[6]  


Still aus: Welt am Draht (1973) 

Die Unterscheidung von Simulation und Wahrheit als Wirklichkeitskonstruktion findet begriffshistorisch somit vor allem zu einem Zeitpunkt statt, an dem die maschinelle Simulationskunst Film, die mit dem „Bioskop“ das Leben sichtbar zu machen verspricht, entwickelt wird. Im Unterschied zur Simulation als Straftatbestand wird das simulierte Leben im Medium Film nicht als Widerspruch wahrgenommen oder diskutiert. Statt von der Maschine wird die Simulation in der Rechtsprechung von der Moral und dem ökonomischen Schaden gegenüber Versicherungen diskreditiert. Diese frühe Übertragung des Begriffs Simulation in die deutsche Sprache und seine Definition wirkt lange nach. Denn es kommt vor allem darauf an, vorgetäuschte Wirklichkeit von ein ökonomisch und rechtlich definierten Realität zu unterscheiden.

 


Still aus: Welt am Draht (1973) 

 

Das Recht und der Nutzen an einer Realität bekommen vor allem in den 60er und 70er Jahren eine neuartige politische Relevanz. Die Frage nach der Simulation wird als Schlüsselfrage in Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Film Welt am Draht (1973) gestellt, der am 14. und 16. Oktober 1973 im ARD-Fernsehen mit beträchtlicher öffentlicher Wirksamkeit ausgestrahlt wurde.[7] Im Trailer zur restaurierten Fassung von 2011 wird die Frage nach der Simulation eingangs deutlich als eine des Nutzens formuliert. 

Fred Stiller: Guten Abend Herr Rupp. Ich wäre ihnen dankbar, wenn sie ihren Lesern gelegentlich den Unterschied zwischen einem Computer und einem Simulationsmodell erarbeiten würden. Es handelt sich um eine völlig neue Generation von Computertechnologie. 

Rupp: Und wem nützt sie? 

Fred Stiller: Uns allen, wenn es nach mir gehen würde.[8] 


Still aus: Welt am Draht (1973) 

Mitten in den Nachbeben von 1968 hatte sich Fassbinder „nach seiner realistisch direkten Arbeiterserie“ nun einer „subtilere(n) Sozialkritik“ zugewandt, wie es das Fernsehprogramm des Spiegels formulierte.[9] Die Unterscheidung „zwischen einem Computer und einem Simulationsmodell“ nach dem Dialog zwischen dem Kybernetiker Fred Stiller und dem Journalisten Rupp formuliert erstens einen investigativen Auftrag des Journalismus und zweitens die Simulation wiederum als ein Verbrechen. Die Simulation einer künstlichen Parallelwelt wird vor allem zur Manipulation der Bevölkerung durch Marktforschung genutzt. Indessen wird dieser Aufklärungsauftrag bereits in Daniel F. Galouyes Romanvorlage Simulacron-3 von 1964 und dessen Covertext – „A world of the future – Its destiny was controlled by a huge, inhumane machine“ – angeschrieben und dadurch gebrochen, dass die Welt Stillers und Rupps selbst eine simulierte sein könnte.

 


Still aus: Welt am Draht (1973) 

 

Im Roman wie seiner filmischen Transformation von Rainer Werner Fassbinder mit seinem Kameramann Michael Ballhaus überschneiden sich in der Zeit zwischen 1964 und 1973 mehrere Wissensfelder. Vor allem die neuartige Wissenschaft der Marktforschung als statistische Bevölkerungsanalyse für Prognosen und Produktentwicklung wird nun zu einem Szenarium der Simulation. Das Kapital schafft sich sozusagen seine Bevölkerung, um sie durch Simulationsmodelle zu beherrschen. Insofern für Stiller der Verdacht besteht, dass er sich selbst in einem Simulationsmodell befindet, wird eine Ohnmacht gegenüber den Möglichkeiten der Computer und denen der eigenen Wahrnehmung formuliert und inszeniert. In die Zukunft transformiert werden Ängste gegenüber einer stark reglementierten Gesellschaft, der sich nicht entkommen lässt.

 

Still aus: Welt am Draht (1973) 

 

Die menschliche Maschine aus dem Zeitalter der Aufklärung kippt insbesondere mit der damals Daten und Wissen, um nicht zu sagen, Big Data generierenden Marktforschung in ein totalitäres Szenarium der Kontrolle. Denn Welt am Draht erinnerte nicht nur an eine Welt der verkabelten Telefone, vielmehr noch sollte bedacht werden, dass die Weltbevölkerung schon an den Drähten von anderen Mächten hingen. Verschwörungstheorie und (eigene) Kontrollphantasien ließen sich narrativ unendlich in eine ferne Zukunft verlängern. War der Maschinenmensch um 1750 als Befreiung aus den klerikalen Mächten konzipiert worden, so erwies diese sich, seit der Zeit um 1800, ständig in anderen Formationen wiederkehrend, als ein entscheidendes Problem der Moderne. Dieses Problem artikuliert sich aktuell im Mythos vom Algorithmus, der alles kontrolliert bzw. mit dem Supermächte wie Google die Welt oder zumindest die Präsidentschaftswahlen kontrollieren.[10] Oder – schlimmer noch – der sich verselbständigt hat und nicht mehr kontrolliert werden kann.

Der Inbegriff der Maschine ist heute nicht mehr das Uhrwerk, der Draht oder der Computer, sondern der Algorithmus. Vom Algorithmus ist in Welt am Draht so gut wie gar nicht die Rede, obwohl natürlich auch eine simulierte Welt von Algorithmen bzw. Entweder- Oder-Entscheidungen zu konstruieren und zu kontrollieren wäre. Anders gesagt: der Algorithmus ist immer ein binärer Wenn-Dann-Modus. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Oder noch zugespitzter: er ist die endlose Abfolge der Digitalen in der Differenz von 0 und 1. Doch der Algorithmus als immer komplexer werdende Rechenoperation übt aktuell zweifellos die größte Faszination aus, um gleichermaßen Hoffnungen und Ängste auszulösen. Er ist nicht zuletzt das ultimative Marktforschungsinstrument.

 

Für den Live-Elektronik-Komponisten Orm Finnendahl wird nun gerade die Maschine zum Generator des „Nichtplanbaren“. Natürlich lassen sich bei Live-Konzerten nicht direkte Vergleiche mit früheren Aufführungen anstellen. Das Live-Konzert wird immer seine Einmaligkeit bestimmter Entscheidungsprozesse behalten. Das hieße allerdings auch, dass sich Bewegte Beobachtung 3 vom 19. Juni 2013 mit dem Ensemble Berlin PianoPercussion unterscheiden müsste von der Aufführung am 16. Januar 2016, was sich vielleicht nur im direkten Vergleich zweier Aufnahmen auf SoundCloud machen ließe.   

(Die Entscheidungen) werden dramatisiert, da sie im Zusammenhang mit der maschinellen Verarbeitung Konsequenzen für die Zukunft haben, die nicht rückgängig gemacht werden können und deren Resultate den Ausgangspunkt für daran anschließende Entscheidungen bilden. In Verbindung mit dem Nichtplanbaren dieser Konstellation erhält die Musik einen direkten Aktualitätsbezug und dadurch über den eigentlich abenteuerlichen Umweg dieser sehr großen Abstraktionen eine Unmittelbarkeit, die man in einem solchen Zusammenhang vermutlich nicht erwartet hätte, die aber nicht mit einer zur Schau gestellten Unmittelbarkeit verwechselt werden darf: Unmittelbar sind nur die Aktualität der Situation, die Handlungsbedingungen der Akteure und die Zeugenschaft aller Anwesenden. Zur Schau gestellt werden die technologischen Verfahren und die Pragmatik Ihres Herstellungsprozesses, die es jedem Einzelnen im Publikum ermöglichen und ihn dazu anregen, verschiedene Beobachtungsperspektiven und Wahrnehmungshaltungen einzunehmen.[11]

Orm Finnendahl gehört vielleicht zu den radikalsten Komponisten der Gemischten Musik. Doch auch Winternacht (2006) für Klavier und Schlagzeug von Hans Tutschku, das zu Beginn des Konzertes gespielt wurde, kombiniert die Klangerzeugung an den Instrumenten mit digitalen Verarbeitungsprozessen. Überhaupt ist in diesem Stück, das von Ya-Ou Xie und Adam Weisman gespielt wurde, eine verwickelte Produktionspraxis zu bedenken, die Tutschku genau formuliert hat. 

Für diese Komposition wurden Texte ausgewählt, die in mehrfacher Hinsicht um das Thema Kindheit kreisen: zum einen Gedichte und Brieffragmente, die direkt mit Trakl's Biografie, seiner Jugend, mit der starken Beziehung zu seiner Schwester zu tun haben und zum anderen Texte, die den Komponisten an seine eigene Kindheit erinnern – ein Nachsinnen über die Zerbrechlichkeit von Nähe.[12]

 

Das Verhältnis der Texte zur Komposition ist hier schon deshalb von besonderem Interesse, weil die Komposition nicht etwa die Texte musikalisch bearbeitet. Stattdessen werden die Texte Georg Trakls mit denen des Komponisten kombiniert. So wird die Komposition quasi zu einer Textverarbeitung in mehreren Phasen. Man könnte sagen, dass die Textverarbeitung insbesondere durch einen Modus der Dialogizität oder Korrespondenz – „Brieffragmente“ – zur Komposition wird. Doch Texte und Texturen bleiben flüchtig und diskret.  

Diese Gedichte und Texte kommen in Winternacht allerdings nicht an die Oberfläche. Wir hören Dialoge der beiden Musiker, die von der Elektronik übernommen und transformiert werden. Die elektroakustischen Klänge sind eine Mischung aus live-Bearbeitungen von Klavier- und Schlagzeugsequenzen und erweitern die Aktionen der Instrumentalisten. Ihre live-Spielenergie wird vom Computer erfasst und steuert viele elektroakustische Parameter.[13]

 

Hans Tutschku, der seit 2004 Komposition an der Havard-Universität unterrichtet, legt seine Kompositionsverfahren offen, so dass das Machen von Musik als ein komplexer Produktionsvorgang von Klängen nachvollzogen werden kann. Die Musik wird gerade nicht in eine Kontrollphantasie, vielmehr gerade durch die Maschine in einen unvorhersehbaren Prozess des Machens beispielsweise mit der schwer berechenbaren „live-Spielenergie“ hineingezogen. Die Einrichtung des Klaviers und der Schlagzeuge sowie die Platzierung der Mikrophone wird von ihm sehr genau angegeben. Die Partitur ist geradezu mikrologisch ausgearbeitet und variiert zwischen einem Spiel nach den Echos der Elektronik, wie Vögel und wie Glocken. Winternacht ist, anders als man nach dem Titel sich vorstellen könnte, außerordentlich farben- und abwechslungsreich.[14]     

 

Es lässt sich wohl sagen, dass das Programm, das Prodromos Symeonidis moderierte, die Stars der Gemischten Musik aufführte und eingeladen hatte. So war denn auch der chinesische und in Frankreich lehrende Komponist Chengbi An anwesend, als Symeonidis seine Komposition Gediao (2006) für Klavier und Live-Elektronik spielte. Hier dient die Elektronik gerade dazu Unsicherheit statt Kontrolle in der Wahrnehmung zu erzeugen. 

In this piece, "Gediao" reflects the expectation of the composer, furthermore, it becomes a representative form of art. In the beginning of the piece, we may hear a swift alternative piano sound and the electronic sound, which means the sense of insecurity in the absolute situation; while in the end, the piece was closed by the percussion to express a unstable status. The fade out of the forte echo likes the endless epilogue, which is interpreted to mean that the pace of the composer to pursue the art of "Gediao" will never be ceased.[15]

 

Der chinesische Begriff Gediao formuliert nach An den Ausdruck von Kunst durch einen harmonischen Inhalt und Struktur im Kontext des Buddhismus und der asiatischen Kultur. Es sind dabei vor allem Strukturen des Echos, mit denen An über die Live-Elektronik arbeitet. Der Ausdruck steht auf diese Weise nicht im Dienste eines Individuums oder Subjektes, sondern in einer Konzeption von Kunst als Harmonie. Das Echo wird dabei zu einem Modus der Wiederholung, der gleichzeitig eine Unsicherheit über dessen Herkunft generiert. Dadurch erreicht Chengbi An mit seiner Komposition Klangereignisse, die sich aufeinander beziehen, doch nicht auf einen Ursprung zurückgeführt werden können. Sie laden quasi zur Meditation ein.  

 

Miyuki Ito war für die Aufführung von La transparencia del espacio (III) extra aus Japan angereist. Sie ist, wie der spanische Titel ihrer Komposition verrät eine internationale, um nicht zu sagen globale Komponistin, die Multi- oder Intermedialität zu ihrem Arbeitsfeld gemacht hat und auf ihrer Website dazu einlädt, die Welt durch ihre Seele zu sehen: „Welcome to see the world as seen through my soul.“[16] So ist La transparencia del espacio der Architektur der Casa de Barragán bzw. Luis Barragán in Mexiko aus dem Jahr 1948 gewidmet, die dadurch fasziniert, dass von außen bzw. von der Straße unspektakulär erscheint[17], doch innen einen lichtdurchfluteten Raum eröffnet.     

 

Seit 2010 hat La transparencia del espacio zunächst für Elektronik, Crotales oder Zimbeln und Vibraphone drei Fassungen erlebt. Die Fassung für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge von 2015, die Berlin PianoPercussion am 30. Oktober 2015 beim Sinus Ton Festival in Magdeburg uraufführte, erweitert das Instrumentarium, wobei die Crotales vor allem für die Transparenz des Klangs in Korrespondenz mit dem Licht zuständig sind. Sie sind „as transparent as possible“ anzuschlagen bzw. zu spielen.[18] Das lichtdurchflutete Innere der Casa Luis Barragán wird so vor allem durch die relativ lange Resonanz der hellen Crotales und der Elektronik, die durch einen Trittschalter von Ya-Ou Xie als Dirigentin reguliert wird, in Klang transformiert.    

 

Wojtek Blecharz gehört zur jüngsten Generation der Komponisten für Gemischte Musik. Berlin PianoPercussion führt von ihm DFRGMNTD (I flow) (2011) für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge mit Elektronik auf. DeFRaGMeNTeD spielt nicht zuletzt auf die Defragmentierung von Speichermedien wie einer Festplatte an. Defragmentierung erhöht einerseits die Speicherkapazität, andererseits trägt sie zur Schnelligkeit des Computers bei. Hinsichtlich einer generationellen Entwicklung der Gemischten Musik lässt sich zumindest sagen, dass für den ausgebildeten Oboisten und Komponisten der Bezug zum Computer und den digitalen Medien ein anderer ist. Wojtek Blecharz nutzt nicht nur die Sozialen Medien wie Instagram, Facebook oder SoundCloud, vielmehr scheint die Problematik der Simulation für ihn kaum noch eine Rolle zu spielen. Die Medienpraktiken stehen vielmehr im Vordergrund.

Am Freitagmorgen vor der Aufführung am Samstag ließ sich die Probenarbeit des Ensembles mit dem Komponisten im Werner-Otto-Saal beobachten. Von einer Mechanik konnte dabei kaum die Rede sein. Stattdessen besprachen beispielsweise Prodomos Symeonidis, Ya-Ou Xie, Sawami Kiyoshi und Wojtek Blecharz einzelne Stellen, um dem gewünschten Klang möglichst nahe zu kommen. Der Komponist machte sich im Gespräch Notizen in die eigene Partitur. Und auf Instagram postete Blecharz: „I am so happy to work on my music with wonderful people“. Dabei wurde DFRGMNTD (I flow) seit 2011 in Polen und für das polnische Radio von einem jungen Ensemble aufgeführt.[19]

 

Natürlich gibt es für DFRGMNTD (I flow) auch eine Produktionsgeschichte. Doch Wojtek Blecharz, der unter anderem bei Karlheinz Stockhausen studierte, hat zwischenzeitlich mit der Oper Transcryptum (2013) und mehreren Kompositionen für das Tanztheater ein so umfangreiches und vielschichtiges Werk zu Fragen der Identität produziert, dass er als einer der erfolgreichsten, internationalen Komponisten aus Polen gelten darf. In Polen engagiert er sich nicht zuletzt für die Rechte von LGBT*. Der Titel seiner Gemischten Musik mit dem Zusatz des I flow lässt sich mit der Musik auch als ein Statement lesen und hören, dass er sich nicht in einer Identität festschreiben lassen möchte. Das dichotomische Modell von Simulation oder Wirklichkeit hat sich längst in kreative Prozesse einer Pluralität von Wirklichkeiten verwandelt.  

 

Torsten Flüh

 

Berlin PianoPercussion 

Musik am Draht - Teil II 

Freitag, 13. Mai 2016, 20:00 Uhr 

Werner-Otto-Saal 

Konzerthaus Berlin 

Gendarmenmarkt

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[1] Orm Finnendahl: Technologie und Performative Kompetenz. Zum Verhältnis von Improvisation und Komposition in meiner Arbeit. In: kunsttexte.de, E-Journal zur Kunst- und Bildgeschichte, Auditive Perspektiven 2/2012-1, Improvisation. Theorie - Praxis - Ästhetik, Hrsg. von Matthias Hänisch, Berlin: http://www.kunsttexte.de 2012, S. 9.

[2] La Mettrie: Œuvres Philosophiques. Tome Premier. Paris: Charles Tutot, 1796, S. 102.

[3] Torsten Flüh: Lebens/wissen/schaft. Von der Lebenden Photographie zum VOXEL-MAN Tempo. NIGHT OUT @ BERLIN 23. Juli 2011 22:24.

[4] Denis Diderot et Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: Simulation.

[5] Ebd. Simulacre.

[6] Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig und Wien 1905-1909. Simulation.

[7] Der Spiegel kündigte in der Ausgabe vom 8. Oktober 1973 die Ausstrahlung des Films in der ARD fast schon verhalten in seinem Fernsehprogramm an: „Welt am Draht Nach seiner realistisch direkten Arbeiterserie "Acht Stunden sind kein Tag" übt Rainer Werner Fassbinder nun subtilere Sozialkritik mit einer Science-fiction-Vision in zwei Folgen, deren Hauptfigur ein scheinbar verrückter Kybernetiker ist (Klaus Löwitsch, Photo, r.). Der Wissenschaftler, der von einem Konzern korrumpiert werden soll, erzeugt in einem Computer "intelligente Bewußtseinseinheiten"" die sich für lebende Menschen hatten. Dabei muß er schließlich entdecken, daß auch er nur als künstlich erzeugtes Wesen, als manipulierte Fiktion, existiert.“

[8] Siehe Trailer auf Filmstarts vom 30. Juni 2011.

[9] wie Anm. 7.

[10] Siehe Adam Rogers‘ Wissenschaftsartikel in der Zeitschrift Wired. Adam Rogers: Googles Search Algorithm Could Steal Presidency. Wired. Science 08.06.15. 1:24 pm.

[11] Orm Finnendahl: Technologie … [wie Anm. 1] S. 11-12.

[12] Hans Tutschku: Winternacht. Website zu Winternacht von Hans Tutschku.

[13] Ebd.

[14] Hans Tutschku: Winternacht. Partitur für piano part.  

[15] Chengbi An: Gediao. Auf: www.anchengbi.com und Works.

[16] Miyuki Ito: www.miyuki-ito.com

[17]Casa Luis Barragán: http://www.casaluisbarragan.org  

[18] Miyuki Ito: La transparencia del espacio (1), 2010, Partitur als PDF.

[19] Es gibt eine Aufnahme auf SoundCloud mit Bartek Wąsik, Emilia Sitarz, Magdalena Kordylasińska Pękal und, Miłosz Pękala.