Spielzeiteröffnung mit Läufer - Maxim Gorki Theater eröffnet mit Berliner Herbstsalon

Salon – Nation – Identität

 

Spielzeiteröffnung mit Läufer

Maxim Gorki Theater eröffnet Spielzeit mit interdisziplinärem Berliner Herbstsalon

 

Am Freitag wurde die Spielzeit 2013/14 am Maxim Gorki Theater unter der neuen Intendanz von Shermin Langhoff programmatisch mit dem Berliner Herbstsalon eröffnet. Auf einem temporären Ausstellungsparcours rund um das Maxim Gorki Theater werden bis zum 17. November Arbeiten von Künstlern gezeigt, die das historische Areal mit Theaterbau, Palais am Festungsgraben und der Neuen Wache bespielen und multiperspektivisch wie interdisziplinär thematisieren. Der Bogen wird dabei von historischen Schichten des Areals bis in die Gegenwart der Finanzsysteme als Strukturierung von Existenzen und einer schlafenden Bundeskanzlerin geschlagen. Und Der kleine Muck wird an der Kasse auch schon angekündigt.

Zwischen einer Performance, Entschuldung, vor der Neuen Wache von Yael Ronen, der neuen Hausregisseurin, Skulpturen, Fenster- wie Spiegelgraffitis  und der multimedialen Installation Reaching The Level of Contemporary Civilisations 2 von Hakan Savaș Mican im Studio entfaltet sich eine Vielfalt von künstlerischen Arbeiten, die vor allem Konzepte von Nation und Identität in ihrer Widersprüchlichkeit entdecken  lassen. ─ Eintritt frei! ─ Shermin Langhoff hat mit Cağla Ilk, Erden Kosova und Antje Weitzel 30 in Berlin lebende Künstlerinnen unterschiedlicher Herkunft zum Herbstsalon eingeladen. ─ Einlasskarten im Foyer des Gorki Theaters.

Durch Geselligkeit und offenem Austausch wird der Salon als Format zur Vorstellung von Vielfalt in Berlin und Deutschland. Gleichzeitig erinnert das Datum der Eröffnung mit dem 9. November an die Zerstörung der kulturellen Vielfalt durch die Nationalsozialisten vor 75 Jahren mit den Novemberpogromen und knüpft an die Veranstaltungen und Aktionen der Zerstörten Vielfalt an. Mit den Novemberpogromen endete 1938 nicht nur ein aus und mit der Berliner Salonkultur im 19. Jahrhundert entstandenes Format einzigartiger Vielfalt, es bedurfte auch einer Revision von emphatischer Assimilation als Modell von Abgleichung unter nationalen Vorzeichen.   

Der Herbstsalon als Spielzeiteröffnung ist politisch und historisch hoch aufgeladen. Die Bilder und Texte, die Performances und Installationen stoßen an fast alle neuralgischen Ecken, Kanten und Fragen. Es geht um die Konstruktionen von Europa, Deutschland, Türkei etc. und Berlin. Aber auch ein erschreckend großer und hohläugiger Kopf der Freiheitsstatue von Daniel Knorr fehlt nicht. Über nationale Grenzen hinweg werden Muster und Mächte freigelegt. Zuschreibungen von Gut oder Böse erweisen sich als zu kurz gegriffen. Die Vielfalt der Herkunft der Künstler ─ Türkei, Altötting, Großbritannien, Sofia, Argentinien, Teheran, Korea, Bukarest, Nigeria, Diyabakir, Rumänien, Jerusalem, Ägypten, Maribor, Slowenien und Berlin ─ eröffnet unterschiedliche Perspektiven von außergewöhnlicher Tiefe.

Shermin Langhoff führte bereits am Donnerstag mit  Cağla Ilk, Erden Kosova und Antje Weitzel über und durch den Parcours. Der Hindernislauf durch den Herbstsalon beginnt mit der Läufer genannten Installation von Nevin Aladağ. Ein überlanger Läufer mit orientalischem Muster hängt als Störfaktor am Fenstersims im ersten Stock des Palais am Festungsgraben (siehe auch hier). Die repräsentative, klassische Architektur, die seit ihrer Errichtung zwischen 1751 und 1752 bis ins 20. Jahrhundert hinein mit den preußischen Finanzen verknüpft war und von 1950 bis 1990 vierzig Jahre lang als Haus der Kultur der Sowjetunion machtvoll in die Ost-Berliner Kultur hineinwirkte, wird von einem Läufer bis weit auf die Straße hinein durchkreuzt. Aladağ möchte damit auf die anhaltende Debatte über kulturelle Diversifizierung hinweisen.

Während die klare vertikale Gliederung als Staatsbau durchstrukturierte Macht- und Finanzverhältnisse in Preußen verkörpert, wird der störende und überflüssige Läufer von Nevin Aladağ, den man nicht benutzen kann, zur künstlerischen Intervention gegen normierende Machtverhältnisse. Damit wird bereits ein wichtiges Thema des Berliner Herbstsalons angestimmt, der in weiteren Arbeiten im Spiel von Diversität und Identität, Nation und Finanzmacht, Kontrolle und Reglementierung wiederkehren wird. Gleichzeitig soll dies einen Hinweis geben auf die Themen, die im Maxim Gorki Theater auf der Bühne in der neuen Spielzeit behandelt werden sollen.

Im repräsentativen Aufgang des Palais, der gleichwohl den Zugang zur Macht inszeniert, hat der rumänische Künstler Dan Perjovschi die Fenster mit schwarzer Farbe beschriftet und bemalt. Zeichnung, Cartoon, Graffiti und Konzeptkunst ─ „Gemany how many?“, „AAANGST“, „Past“, „Future“ … mit Euro-Sternchen ─ bringen einen finanzkritischen Text hervor. Denn die Angst besteht auch darin, das Triple A der Ratingagenturen und damit die staatliche Kreditwürdigkeit zu verlieren, was bekanntlich zur Euro-Krise führte. Auf einem Spiegel hält eine Figur eine Pistole nicht an ihren Kopf, sondern an eine leere Sprechblase, die zu den Sternen auf der Europafahne in Beziehung gesetzt wird.

Im Marmorsaal des Palais am Festungsgraben hat Raša Todosijević seine Installation Gott liebt die Serben – Balkan Banquet aufgebaut. Zunächst sieht man Tische mit schwarzen Tüchern im Raum, auf denen Teller, Gläser und ein Sektkübel stehen. Soll hier ein Banquet, ein großes, festliches Essen stattfinden? Was wird gereicht werden? Die Räume und Säle des Palais können für prunkvolle Banquette, Hochzeiten und Feste angemietet werden. Von der Decke schauen deutsche Geistesgrößen auf die Gäste hinunter: Goethe, Beethoven, Schiller etc. Was oder wer soll gefeiert werden? Aus der Erwartung heraus braucht es eine gewisse Zeit, bis der Besucher erkennt, dass die Tische in Form der Swastika aufgestellt sind.   

Die Swastika als problematisches und historisch stark mit dem Nationalismus und Nationalsozialismus aufgeladenes Symbol wird von dem serbischen Künstler systematisch aufgegriffen. Es gibt eine ganze Reihe von „Swastika-Werken“ von Todosijević, die sowohl durch esoterische Gruppen des 19. Jahrhunderts inspiriert ist, wie auch von Künstlern wie Gustave Courbet und Marcel Duchamp beeinflusst sind. In der Verfremdung als Banquette-Installation ist die Swastika auch so aufgestellt, dass sie übersehen werden kann. Es kommt auf die Verwendung, Gebrauch der Swastika an, die sie allererst zum Symbol für eine nationalistische Zuspitzung macht. Als Tischaufstellung wirkt sie fast einladend.

Im kleinen Saal nebenan und auf dem Flur hat das deutsche Künstlerduo bankleer seine Installation und Performance sleepy hollows aufgebaut. Während The Legend of Sleepy Hollow von Washington Irving aus dem Jahr 1820 im Singular von einer schläfrigen Schlucht handelt, spielt der Plural hollows eher auf mehrere Hohlräume, Hohlkörper oder gar abgeschlagene Köpfe an. Die überdimensionalen Köpfe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Mario Draghi als Präsidenten der Europäischen Zentralbank  und Dutty Boukman, einem Pionier der Haitianischen Revolution von 1791 sind nicht nur leichenhaft grau, sondern eben auch mehr oder weniger verschlafen. Die monumentalen Köpfe haben Denkmalformat.

Die denkmalhaften Köpfe zwischen Erstarrung, Ratlosigkeit und doch umso mehr Macht verkörpernd von bankleer treten in Korrespondenz mit den bildtechnisch generierten Fotografien reiterlosen Standbildern aus europäischen Hauptstädten des bulgarischen Künstlers Luchezar Boyadjiev mit dem Titel On Vacation. Das Denkmal als Hoffnungsträger und Versprechen auf Problemlösung durch Einzelpersonen wird deutlich entmannt, um es einmal so zu sagen. Wenn die Reiter fehlen, geht dem Denkmal auch der Kopf und die Potenz verloren. So hat Boyadjiev auch das Reiterstandbild für Friedrich II. Unter den Linden vom Reiter befreit. Sind die Bildprogramme der Reiterstandbilder doch stets darauf angelegt, die Einzelperson zu verherrlichen, die das meist besonders schöne Pferd, wie Leben, Mächte und Politik zu zähmen vermag.

Es gehört zu den Stärken des Herbstsalons, dass sich unter den Kunstwerken, Bildern, Installationen und Performances Korrespondenzen ergeben.

 

 

Der in Teheran geborene und in Berlin lebende und arbeitende Künstler und Filmemacher Azin Feizabadi hat quasi eine Sprach-Bild-Installation geschaffen. Feizabadi thematisiert einerseits die iranische Geschichte, wenn er das Modell eines Sitzes aus dem ersten iranischen Parlamentsgebäude von 1906 zerlegt und daraus das Wort enqelab bildet, das in Farsi Revolution heißt. Doch die emphatische Revolution hat im Iran seit der sogenannten Iranischen oder, weil gleichbedeutend, Islamischen Revolution اسلامی‎ ‏انقلاب Enghelāb-e Eslāmi auch einen Riss bekommen. Die Revolution der Massen gegen einen Machtapparat verkehrte sich in eine Diktatur der Mullahs. Gleichzeitig soll enqelab an die Geschichte des Gebäudes, in dem sich das Maxim Gorki Theater heute befindet, erinnern. Das für die Berliner Sing-Akademie von Schinkel entworfene und 1827 eröffnete Gebäude, diente im Anschluss an die März-Revolution von 1848 der Preußischen Nationalversammlung als Tagungsraum.

Die Konzepte der Nation und des Nationalismus sind nicht nur im Kontext der Türkei problematisch. Vielmehr führt auch die Nationalisierung Armeniens um die Jahrhundertwende zu Reinheits- und Säuberungsphantasien die u.a. aufs Stärkste mit der nahen Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, verknüpft sind. Der armenische Priester, Komponist und Musikwissenschaftler, Komitas Vardapet, der die moderne klassische Musik Armeniens begründete, studierte und promovierte 1899 in Berlin. Er säuberte die armenische Musik von ihren orientalischen oder muselmanischen Einflüssen. Noch heute erinnert eine Tafel in Deutsch und Armenisch am Haus Kupfergraben 5 an Komitas.

Silvina Der-Meguerditchian, die in Buenos Aires geboren wurde und heute in Berlin arbeitet und lebt, erinnert mit zwei Arbeiten im Herbstsalon an Armenien, seine Nationalisierung um die Jahrhundertwende und dem Völkermord an den Armeniern, wo in Anatolien ihre Vorfahren 1915 ihre Häuser verlassen mussten. Ihre Installation Freundschaft thematisiert die politische Allianz zwischen dem Wilhelminischen Kaiserreich und dem späten Osmanischen Reich, die wesentlich Nationalisierungsprozesse unter dem Einfluss des Orientalismus und ihre katastrophalen Folgen im Genozid an den Armeniern in Gang setzte. Mit Dert var gelir geçer, Dert var deler geçer, in weißes Papier gestanzt, aus der Serie Emptied Words erinnert die Künstlerin an türkisch-anatolische Wörter als Sprichwörter aus ihrer Familiengeschichte.   

 

Eine geschwungene Trennwand aus Aluminium und eine Rolle aus gewalztem Aluminium stechen in der Installation L’Inspecteur des Cultures von Judith Raum hervor. Nicht nur wurde das Leichtmetall Aluminium erst spät in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckt, es wurde auch im 20. Jahrhundert zum Symbol für Technologie und Konsum der Dosenwegwerfkultur. Erst 1889 gelang es, aus dem Erdmetall Bauxit Aluminium herzustellen. Judith Raum hakt beim Bau der Bagdadbahn im Deutschen Kaiserreich und der Verschränkung von Orientalismus, Wirtschaft, Kolonialisierung, Rohstoffvorkommen und Umweltbelastung sowie kulturellen Berichten ein. Aluminium nimmt dabei als Werkstoff für Eisenbahn- wie Autoteile eine wichtige Funktion ein. Und die Türkei verfügt über nennenswerte Bauxitvorkommen.  

 

Der Orientalismus kommt in Raums Installation beispielsweise in Seiten der Revue Technique d’Orient mit Kamel und A.-Borsig-Lokomotive aus Berlin in den Blick. Gerade die Gegenüberstellung von Kamel bzw. Altweltkamel als sogenannten Wüstenschiff und moderner Lokomotive mit Dampffahne im Fahrtwind verspricht die romantisch aufgeladenen Handelswege und sagenhaften Reichtümer aus dem Nahen und Fernen Osten neu zu erschließen. Seit 1903 wird der Bau der Bagdadbahn von Konya (Türkei) nach Bagdad in Angriff genommen. Aufgeladen wird das Unternehmen nicht zuletzt durch eine Expedition von 1897 des Orientalisten Eduard Sachau im Auftrag der Königlichen Museen zu Berlin in das historische Babylon, um das Ischtar-Tor, das sich seit 1930 im Pergamonmuseum befindet, zu bergen und nach Berlin zu transportieren.

Orientalismus als eine für das deutsche Kaiserreich relativ späte Verschränkung von Faszination des Anderen bis zur Folie von Befreiungsversprechen als neuem Modus in der Darstellung und Praxis von Sexualität gerade um 1890 in Berlin und Fortschrittsglauben als Herrschaftsmodus führen zu neuen Schreibweisen über den Nahen Osten. Judith Raum interessieren besonders Geschäftsbriefe der Inspecteur des Cultures. „Zunächst von dem Gefühl der Verspätung im Hinblick auf koloniale Investitionen geprägt, weicht der selbstsichere, mechanische Jargon der Überlegenheit schließlich – nachdem man mit den Menschen und Realitäten der Region in Kontakt gekommen ist – einem zögerlichen, kleinlauten Ton.“ (Berliner Herbstsalon 2013)

Wie die Installation von Judith Raum zeigt, ist der interdisziplinäre Ansatz des Herbstsalons nicht nur vorgeschoben. Eine Interdisziplinarität von Textanalyse, Kunst, Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sammelleidenschaft, Recherche, Kulturwissenschaft, Industrieentwicklung und Finanzmarktkritik fächert Bilder von Nation und nationaler Identität in einer faszinierenden Breite auf. Wirtschaftsgeschichte lässt sich vom Orientalismus nicht trennen oder isoliert betrachten. Die Komplexität der Lebenswelten fordert ihren Tribut. Einst in ihrer Symbolik genossene Bilder wie das von der Freiheitsstatue in New York als Willkommensgruß haben sich verkehrt.  

 

 

 

Daniel Knorr, geboren in Bukarest und in Berlin lebend,  spricht für seine Arbeit Stolen History – Statue of Liberty von einer „Materialisierung“. Der Kopf wurde sozusagen der Statue of Liberty, die immer noch ein herausragendes Symbol der USA-Identität ist und als National Monument im Oktober während des „federal goverment shut down“ wegen seiner hervorragenden Bedeutung bereits geöffnet wurde, als andere Standorte geschlossen bleiben mussten, als schwarzes Tuch im Wind geraubt. Schwarz, hohläugig wie ein Totenkopf im Wind verliert das Symbol sein Potential zur Identifikation. Das Versprechen auf Freiheit und Wohlstand im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat sich zumindest im Kontext des Berliner Herbstsalons längst entleert.

Und in unmittelbarer Nähe zum hohlen Symbol bauen Delaine und Damian Le Bas aus Worthing in Großbritannien sozusagen an einem Europapavillon unter dem Titel Safe European Home?  Europa steht auf der Terrasse den USA im Garten des Maxim Gorki Theater gegenüber. Lange waren die USA das größere Versprechen. Dann vereinigten sich die Staaten in Europa zur EU und hoben den EURO aus der Taufe. Doch mittlerweile hat auch Europa seine Dellen abbekommen. Safe European Home? Das gemütliche Konsumparadies, in dem Ananas des amerikanischen Food-Konzerns Del Monte aus Kenia verspeist und Rosen als Liebesbeweis ─ auch von hoch gesicherten Farmen in Kenia ─ verschenkt werden, wird von afrikanischen Flüchtlingen bedroht.  

HUMAN RIGHTS ARE FOR EVERYONE steht trotzig in Rot auf dem Pavillon, während wenige 100 Meter der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich mit dem Credo Mehr-Sicherheit im deutschen Fernsehen mehr Härte gegen afrikanische „Schlepperbanden“ fordert. Längst kann der Zaun gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Kriminelle“ am südlichen Rand Europas mit dem im Süden der USA konkurrieren.

 

Die Gefahr – FEAR, steht auch auf dem Pavillon - für sweet home Europe wächst ständig. Um sich in Europa sicher zu fühlen, werden die Afrikaner bereits unmittelbar vor der afrikanischen Küste abgefangen und zurück geschickt. Leider kracht es an allen Ecken und Enden. Aber Europa, Herr Bundesinnerminister, muss seine amerikanische Ananas aus dem Armutsland Kenia mit somalischen Terroristen in Einkaufszentren verteidigen.

Der Autor, Film- und Theaterregisseur Hakan Savaș Mican, der in Berlin geboren wurde, in der Türkei aufwuchs und seit 1997 wieder in Berlin lebt und arbeitet, hat mit seiner multimedialen Installation Reaching The Level of Contemporary Civilisations 2 ein äußerst vielschichtiges Werk mit als Geschenk verhülltem Auto im Studio des Maxim Gorki Theater vorgelegt. Das Geschenk - wer würde nicht gern selbst ein Auto geschenkt bekommen? Zahllos die Preisausschreiben, bei denen die Gewinner ein Auto bekommen können – erweist sich durch Micans Installation als tief im politischen Zivilisationsdiskurs der Türkei verankert.

 

Mican, der für das Ballhaus Naunynstraße zahlreiche Stücke schrieb wie inszenierte und für das Maxim Gorki Theater Schwimmen Lernen von Marianna Salzmann inszeniert, Premiere am 17. November, knüpft an das Zivilisationsverprechen Auto und die aktuelle Werbeästhetik an. Ist das Auto doch ohnehin jene, schier unüberbietbare Verkopplung von Mobilitäts-, Freiheits-, Wohlstands-, Identitäts-, Partizipations- und Potenzversprechen auf die nicht nur Erfolg und Gewinn der deutschen Wirtschaft beruht, vielmehr materialisieren sich die Sehnsüchte des modernen Menschen im Auto. Das Auto ist keine Philosophie, sondern Lebenspraxis bis in die feinsten Adern des Körpers. Die Unterwerfung unter das Modell Auto bei lebenslanger Verschuldung verspricht Teilhabe an einer stets leuchtenden Lebenswirklichkeit.

Anders gesagt, indem Mican am türkischen Zivilisationsversprechen Auto die historischen Versprechen seit Atatürk auf die Oberfläche eines als Geschenk verpackten Autos projiziert und den Bogen bis zu Erdogans Wahlwerbespots schlägt, ja, das Auto für und von sich selbst mit verführerischer Stimme sprechen lässt, enthüllt er das vermeintlich spezifisch Türkische, als äußerst aktuelle, weit darüber hinaus verbreitete Auto-Ideologie. Das Auto wird zur Bio- und Sexualpraxis in einem sehr breiten Sinne. Nicht das Auto muss sich mit dem Leben und Lebensformen abstimmen lassen, sondern das Leben wird auf das Auto abgestimmt. Das Auto bestimmt global die Vorstellung von Leben.

Man kann und muss Micans Installation – „Bürger! In kurzer Zeit haben wir Großartiges geleistet.“ ─ beispielsweise nur einmal mit den Funktionen nationaler Autobauprojekte in der Volksrepublik China oder Indien, ganz zu schweigen von Japan und Korea nach dem Zweiten Weltkrieg, in Konstellation bringen. In China wie in Indien geht es nicht nur um den Zivilisationsaspekt des technologisch Machbaren, sondern dem einer Teilhabe großer Bevölkerungsteile am Zivilisationsprozess selbst.

Die Blaupause für nationale Autoprogramme lieferte nicht nur Henry Ford mit der Produktion eines bezahlbaren Autos für breite Bevölkerungsschichten, sondern am 8. März 1934 Adolf Hitler mit seiner Forderung an die deutsche Automobilindustrie ein Auto für 1.000 Reichsmark zu bauen. Ferdinand Porsche konstruierte daraufhin den Volkswagen. Die Macht des Volkswagens ist in Zeiten des Internets derart ungebrochen, dass Google über Internet Explorer bei der Suche bereits nach der Eingabe von vol (!) vorschlägt, die Adresse in volkswagen.de zu vervollständigen! Das ist pure Macht im Internet.

Versprechen, Zivilisationsprozesse und Verbrechen sind unauflösbar mit dem nationalen Projekt Auto nicht nur mit der „fixen Idee eines türkischen Kraftfahrzeugs“ verkoppelt. Doch Mican macht das türkische Auto-Projekt geradezu exemplarisch zum Gegenstand, „um historische Verbrechen, die tief unter den offiziellen Erzählungen verborgen liegen,“ künstlerisch in Szene zu setzen. Irgendwann verselbständigt sich das Auto in Micans Installation. Scheinwerfer und Rücklichter gehen an. Es beginnt, sich wie von Geisterhand um sich selbst zu drehen. Das Versprechen auf einen türkischen Personenwagen ist nach wie vor lebendig. Autos sind Identitätsstifter und Totschlagswaffen.

Die neue Spielzeit verspricht am Maxim Gorki Theater anregend zu werden.

 

Torsten Flüh

(Fotos: Torsten Flüh)

 

 

Berliner Herbstsalon

Bis 17. November 2013

Maxim Gorki Theater

Täglich 12:00 bis 20:00 Uhr, Fr. und Sa. 12:00 bis 24:00 Uhr

Eintritt frei!

Einlasskarten im Foyer des Gorki Theaters

Schwimmen lernen

Premiere 17. November 2013, 20:30 Uhr

Der kleine Muck

Premiere 30. November 2013, 16:00 Uhr