28.03.1977

ATOMKRAFTGEGNER Böses Massaker

Militärische Präzision und kriminelle Energie demonstrierten die Atomkraftgegner, die der Polizei am Bauplatz Grohnde das bisher blutigste Gefecht lieferten.
Ein Spezialtrupp des Bundesgrenzschutzes peilte die Kommandozentrale des Gegners an: Die "Leitstelle Bielefeld" funkte, 30 Kilometer entfernt, von den Bückebergen die aktuelle Verkehrslage, und die "Leitstelle Detmold" mit ihrem Sender auf dem Scharfenberg, von wo der Bauplatz für das 1300-Megawatt-Kernkraftwerk Grohnde einzusehen ist, setzte Einsatzbefehle ab: "Hannover 2 und 3 nach vorn."
Gegenstelle der beiden Sender war am vorletzten Wochenende an der Weser südlich von Hameln ein mobiler Befehlsstand, von dem aus Demonstrantentrupps über Lautsprecher auf Trab gebracht wurden: "Die Eppendorfer sammeln sich an ihrer Fahne an der Ecke des Geländes, auf das wir gerade zugelaufen sind!" Oder: "Die Bielefelder Schutztruppe hier zum Lautsprecherwagen 1"
So militärisch perfekt wie die Orders waren auch Gerät und Gehabe der Angreifer beim Versuch, den Bauplatz zu okkupieren. Uniformiert mit gelbem Ölzeug, das Kennzeichen ihrer Einheit auf dem Rücken ("Bi 5", "H 1"), Plastik- oder Stahlhelm auf dem Kopf, Gasmaske, zumindest Taucher- oder Schwimmbrille vor dem Gesicht, Schutzschilde aus Holz, Plastik oder Mülltonnendeckel in der einen, Knüppel, Spitzhacken, Beutel mit Steinen oder nur ein Walkie-Talkie in der anderen Hand, rückten sie gegen das Objekt vor.
Dort angelangt, lief alles wie eintrainiert: Ganz vorn die "Knabberer" (Polizei-Ausdruck) machten sich mit Schweißbrennern und elektrischen Stahlsägen ans Werk, die "Eindringggruppen" dahinter schmissen Wurfanker an Seilen auf den Bauzaun, den "Feuerschutz" besorgten Trupps im dritten Glied mit Steinwürfen.
Kradmelder dieser Demonstranten versahen Kurierdienste, ein roter Ford war als Ambulanz hergerichtet, in dem -- für alle Fälle -- Medikamente wie Valium, Novadral und Novalgin zur Injektion und Präparate nebst Instrumenten für Infusionen bereitlagen. Im Troß mitgeschleppt wurden wenigstens ein Kasten "Schultheiss Export" mit Brennbarem, "Nordlicht"- und "Geisterraketen" sowie Ausgußsauger, um den Polizisten die Schilde wegzuziehen.
Dieser Streitmacht war die Polizei zunächst unterlegen. Die Straßensperre, die sie ein paar Kilometer vom Bauplatz entfernt am Ortsausgang von Kirchohsen mit Lastwagen errichtet hatte, um wenigstens Materialtransporter und Befehlswagen des Gegners zu stoppen, war nicht zu halten. Und im Bewußtsein ihrer ganzen Stärke sprangen die Demonstranten mit der Polizei wie Polizisten um. "Wir fordern die Polizei auf" die Straße freiwillig freizugeben."
Als auch die dritte Aufforderung ergebnislos blieb, wurde die Straße geräumt: "Ein in dieser Dimension sicherlich bisher einmaliger Fall in der Geschichte der BRD", so der "Arbeiterkampf", die "Arbeiterzeitung des Kommunistischen Bundes".
Ebenso einmalig fand, was erst an der Sperre und danach auf freiem Feld geschah und Hunderte von Verletzten forderte, auch die andere Seite. Niedersachsens Regierungschef Ernst Albrecht (CDU), "tief aufgewühlt", konstatierte einen "Wendepunkt", an dem sichtbar werde, daß., dies mit Demonstration nichts mehr zu tun habe, sondern geplanter Umsturz und rohe Gewalt" sei.
Albrechts Innenminister Rötger Groß (FDP), nicht weniger betroffen: "Ein Ereignis von solcher Brutalität war in der Bundesrepublik bisher nicht bekannt."
"Daß sich etwas anspann". so Groß, war klar, seit man sich einen Monat zuvor bei Brokdorf zum Wiedersehen am 19. März hei Grohnde verabredet hatte; und der Verfassungsschutz hatte zudem Material über geplante Abfahrts-Zeiten und Treffpunkte "da und dort" und! das Ergebnis vorbereitender Besprechungen etwa des "Kommunistischen Bundes Westdeutschland" (KBW) geliefert sowie dem Innenministerium gemeldet, daß K-Gruppen die Bürgerinitiative vor Ort "unterwandert" hätten.
So vage die Aufklärung blieb, die niedersächsische Staatsgewalt machte sich auch auf das Schlimmste gefaßt. 3800 Mann Polizei und Bundesgrenzschutz, darunter an die 500 Kriminalbeamte, zum Teil mit Film- und Photogerät, zum Teil auch als harmlose Mitläufer getarnt, und 30 Beamte zu Pferd marschierten "für alle Fälle" (Groß) auf. Wäre nichts passiert in Grohnde, so wäre es eben ein Manöver gewesen.
So wurde es eine Generalprobe. "Wir mußten uns ohnehin auf das eine oder andere vorbereiten", erläutert der Innenminister und denkt dabei an Gorleben, den möglichen Standort für den bundesdeutschen Atommüllpark. Groß: "Dort wird zu einem unbestimmten Termin die Entscheidungsschlacht geschlagen."
Und im Groß-Ministerium dachten die Beamten eine Taktik aus, mit der ein Desaster wie im November vergangenen Jahres in Brokdorf vermieden werden sollte. Statt sich wie dort in einer Wagenburg auf dem Bauplatz zu verschanzen, postierte sich in Grohnde lediglich ein Viertel der Polizeimacht hinter dem Bauzaun, das Gros blieb verdeckt in Reserve.
Der Plan basierte nicht zuletzt darauf. daß der Bauzaun, den die Preussenelektra als Kraftwerkbetreiber für 1,8 Millionen Mark gezogen hatte, angeblich nicht kaputtzukriegen wäre. Gönnerhaft hatte die Firma denn auch ein Demonstrationsgelände am Bauplatz zur Verfügung gestellt, dort, wo später irgendwann einmal die Kühltürme stehen sollen.
Aber der Zaun hielt nicht, was er versprach: Zwei Segmente des äußeren und ein Segment des inneren Gatters wurden herausgezogen. Denn auch die Angreifer hatten aus Brokdorf gelernt. Hier an der Weser attackierten sie das Baugelände nicht kopflos wie damals an der Elbe, sondern nach einem präzisen Konzept. Rötger Groß: "Da muß ein intensives Planspiel stattgefunden haben, spontan kann das nicht mehr gewesen sein.
Anfangs hatte alles recht harmlos ausgesehen: Vor der Zuckerfabrik von Kirchohsen, weit weg vom Bauplatz, veranstaltete der "Weltbund zum Schutze des Lebens" eine Kundgebung wie immer, mit Appellen an Ernst Albrecht und seine Landesregierung, mit Liedern und Langeweile -- das Heer der anderen war derweil noch unterwegs und rollte, zum Teil "dreistreifig"
so die Polizei -, über die Autobahn heran.
Am Ort hielt sich die Sturmschar gar nicht erst auf, ließ die Kundgebung rechts liegen, machte die Straße von Polizei frei und marschierte unverzüglich dem Bauplatz entgegen -- es gab auch -- so der Innenminister hinterher
"keine Handhabe, die daran zu hindern".
Als jedoch der Bauzaun brach und die Rohre zur Versorgung der Wasserwerfer aufgeschlagen worden waren, erging Befehl an die Polizeireserve, die Verteidiger des Bauplatzes, die sich nicht mehr lange hätten halten können, zu entsetzen. Von Norden und Süden schwenkten im Laufschritt zwei Ketten durch das große Donnerthal und die Schweineplack (Flurnamen) auf das Objekt ein, und die Polizeiführung machte über Lautsprecher Stimmung: "Wir fordern die friedlichen Demonstranten auf, sich von den Verbrechern zu trennen!"
Nicht alle trennten sich, viele stellten sich -- gegen die Polizei. Die bisher härteste Schlacht um ein Kraftwerk begann. Zwar waren die Beamten per Einsatzbefehl gehalten, "Beherrschung und Besonnenheit in jeder Lage" zu bewahren, und "nachdrücklich aufgefordert, sich nicht zum Gebrauch der Schußwaffe provozieren zu lassen", aber auch ohne Schüsse -- Maschinenpistolen lagen bereit -- war das Massaker böse genug.
Mit Holzspießen" Steinen, Glasmurmeln, die aus Zwillen abgefeuert wurden, kämpften die Demonstranten; mit Knüppeln, Tränengas, Chemischen Keulen und Feuerlöschern besorgten es ihnen die Beamten. Ausgegeben war der strikte Tagesbefehl: "So bleiben wir auch hier im Rahmen der uns im Alltag geläufigen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und des geringstmöglichen Eingriffs."
Im Grundsatz will es Innenminister Groß dabei auch nach und trotz Grohnde belassen. Polizeiliche Probleme sieht er allenfalls auf administrativem und finanziellem Gebiet: ob nämlich die Polizisten unbedingt "in langen Mänteln übern Acker laufen müssen", ob die Plastikhelme, von denen einige durchlöchert wurden, hinreichend schützen, ob "möglicherweise mehr Pferdchen" eingesetzt werden sollten und ob es schließlich nicht vielleicht auch ganz sinnvoll wäre, die Polizei öfter mal in größeren Verbänden üben zu lassen.
Über die politischen Konsequenzen des Grohnder Wochenendes ist es im eben gebildeten CDU/FDP-Kabinett in Hannover zu ersten Unstimmigkeiten gekommen. Denn kaum war alles vorbei, da hatte Regierungschef Albrecht den Hauptschuldigen schon ausgemacht, den KBW, nach seiner Meinung "eine Partei und eine kriminelle Vereinigung", die schleunigst verboten gehöre
Ob die Rädelsführer am Grohnder Bauzaun vielleicht nicht dem KBW, sondern dem KB ("Kommunistischer Bund") oder einer der beiden KPD-Gruppen oder gar ganz anderen Vereinen angehört haben, ließ Albrecht beseite. Für ihn stand sogleich fest: "Der KBW ist zweifellos die am besten organisierte Kraft." Jedenfalls: "Diese eiskalte Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenleben", so der Ministerpräsident entschlossen, "das werde ich nicht hinnehmen.
Da macht sein Koalitionspartner Groß nicht mit. Der liberale Jurist urteilt zurückhaltend: "Da bin ich vorsichtig und sage nicht, das war der KBW." Und selbst wenn: "Mit einem Verbot ist das Problem nicht weg." Statt auf Richtersprüche hofft Groß darauf, daß die Bürgerinitiativen sich zu einem Radikalenerlaß bequemen, und sei es auch zu einem ungeschriebenen.
Der Innenminister hält das für ein Patentrezept: "Wenn die Volksmassen sich von denen trennen, ist deren politische Wirksamkeit gleich null. Ohne Kulisse sind das Würstchen."

DER SPIEGEL 14/1977
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