Mythos arme Schweiz

Die Schweiz hat sich einreden lassen, ihr Wohlstand beruhe zum Grossteil auf dem Geschäft mit ­unversteuerten Vermögen. Politisch wird dieses Vorurteil intensiv bewirtschaftet. Neue Untersuchungen aber zeigen: Der Reichtum der Schweiz ist älter als das Bankgeheimnis.

Von Robert U. Vogler

Noch heute glauben viele Schweizer, was ­ihnen in ihrer Schulzeit beigebracht wurde, nämlich wie arm doch die Schweiz noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sei, zwar bereits stark industrialisiert, aber dennoch mausarm. Diese gängige Meinung bemühen auch Politiker, Historiker und Ökonomen ­gerne, wenn es darum geht, die Schweiz in die Ecke der Kriegsgewinnler zu stellen oder den Reichtum des Landes auf die Früchte des Bankgeheimnisses zu reduzieren.

Verdankt die Schweiz den heutigen Spitzenwohlstand einzig der Tatsache, dass sie von den zwei Weltkriegen verschont blieb und sich so einen kurzfristigen ökonomischen Vorsprung verschaffen konnte? Und ist sie nur deshalb so reich, weil Milliarden unversteuerter Vermögen von Ausländern auf Schweizer Banken liegen und allen Schweizern ein lebenslanges Dolce Vita ermöglichen? Liest man gelegentlich die Online-Kommentare in in- und ausländischen Medien zur Steuerproblematik EU–Schweiz oder schaut die von Unwissenheit über die Schweiz getränkten Talkshows deutscher TV-Sender an, so finden sich solche Aussagen als weitverbreitete Meinung – leider ist sie auch die von vielen Schweizerinnen und Schweizern. Sogar der Chefredaktor der ­Weltwoche hat sie wiederholt vertreten.

Seit 1880 zuvorderst dabei

Die eingangs erwähnte Sichtweise ist falsch, sie ist schon seit geraumer Zeit überholt. Der heutige Stand der Wissenschaft belegt, dass die Schweiz schon seit über hundert Jahren in der ersten Liga der erfolgreichen Volkswirt­schaften mitmischt und einen Spitzenplatz einnimmt. Denn bei nüchterner Betrachtung zeigt sich ein komplett anderes Bild: Seit den 1880er-­Jahren war das rohstoffarme Land in der Mitte Westeuropas immer an der Spitze vergleich­barer Volkswirtschaften, hatte die wichtigen ­Industriestaaten Grossbritannien und Deutschland noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert hinter sich gelassen, wie die rechts­stehende Grafik illustriert. Sie vergleicht die Entwicklung des Bruttoinlandproduktes in den wichtigsten Industrieländern der letzten 200 Jahre.

Erst in den vergangenen fünfziger Jahren überrundeten die USA die Schweiz. Eine neue Studie der beiden niederländischen Ökonomen Jutta Bolt und Jan van Zanden, aufbauend auf den umfassenden historischen Daten von Angus Maddison, zeigt dies besonders schön. Das neue, hervorragende Werk «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20.  Jahrhundert», herausgegeben von den drei Schweizer Kollegen Patrick Halbeisen, Margrit Müller und Béatrice Veyrassat nimmt ­diese Erkenntnisse ebenfalls auf, doch wer liest schon ein Buch von über tausend Seiten?

Das «Japan Europas»

Wie war es möglich, dass die damals rund drei Millionen Schweizer bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein derart hohes Einkommen erreicht hatten? Grundlage für die beispiellose Entwicklung dieses Landes war mit Sicherheit die liberale Grundhaltung in Politik und Wirtschaft in den ersten 150 ­Jahren. 1848 gelang es der Schweiz als einzigem Land Europas, die liberale Revolution erfolgreich umzusetzen, während andere sich noch mit gesellschaftspolitisch rückständigen Monarchen begnügen mussten.

Dieses wirtschaftsliberale Umfeld förderte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 einen innovativen Unternehmergeist mit hoher Anpassungsfähigkeit. Dieser ­konnte sich, weitgehend ungehindert von ­einer noch sehr bescheidenen staatlichen ­Bürokratie, ausgezeichnet entwickeln. Die noch sehr föderale Struktur der Schweiz stärkte gleichzeitig die unternehmerischen Frei­räume. Eine Weltoffenheit, wie kein anderer Klein- und Binnenstaat sie kannte, war eine weitere Voraussetzung für den Erfolg.

Man darf die Schweizer zu Beginn der ­Industrialisierung ohne Skrupel als die Japaner Europas bezeichnen. Dies nicht wegen des ersten Freundschafts- und Handelsvertrags mit Japan (bereits im Jahr 1864), sondern weil die Tätigkeit der Schweizer derjenigen der Japaner nach dem Zweiten Weltkrieg glich: Produktionsmittel und Produkte aus anderen Ländern zu kopieren.

Aus der erfolgreichen Kombination von (Textil-)Handelshäusern und eigentlichen Banken entwickeln sich sogenannte marchands-banquiers, die im Laufe der Zeit Textilindustrielle und schliesslich Maschinenbauer werden. Oder es entwickeln sich reine Banken daraus. Anfangs fusst der Erfolg auf dem Kopieren englischer Textilmaschinen, schliesslich auf der ­Erfindung eigener Geräte. Ein interessantes Beispiel ist der Winterthurer Rieter-Konzern. 1795 als Handelshaus für Kolonialwaren und Rohbaumwolle gegründet, steigt er drei Jahrzehnte später in die Produktion von Spinnstühlen ein und entwickelt diese durch Industriespionage in England weiter – die Grundlage für den Maschinenbau: Webstühle, Stickmaschinen, Transmissionen, später auch Generatoren, Turbinen und sogar Motoren tragen den Namen der Firma. Es wächst eine mächtige Maschinenbauindustrie heran, die mit Namen wie Sulzer, Escher Wyss, Brown Boveri oder auch Saurer verbunden ist und ihre Erzeugnisse in alle Welt verkaufen kann. Die chemische und pharmazeutische Indus­trie und die Präzisionsindustrien der Uhren­branche entwickeln sich parallel und gedeihen prächtig.

Die Einführung der Berufslehre und die Gründung des Eidgenössischen Polytech­nikums von 1855, der späteren ETH, waren ­dabei die Grundvoraussetzung für den Nachschub an ausgezeichneten Berufsleuten und hervorragenden Ingenieuren und Naturwissenschaftlern. Überhaupt war die exzel­lente Bildungslandschaft im Lande ­Pestalozzis für den Erfolg einer rohstoffarmen Volkswirtschaft verantwortlich.

Auf dem Buddenbrook-Pfad

Wie viel ist von dem pionierhaften Geschäftssinn der frühen Wohlstandsgenerationen ­heute noch übrig? Man kann sich je länger, je mehr nicht des Eindrucks erwehren, dass die Schweiz sich gerade dazu anschickt, ihre in Jahrzehnten erarbeiteten Vorteile zu verspielen. Das Land hat Züge einer Unternehmung in der dritten Generation: Die erste hat alles aufgebaut, die zweite führt sie zum absoluten Erfolg, und die dritte Generation lässt die ­Dinge auf dem Höhepunkt schlittern – das ­Rezept für den späteren Ruin.

Ein klares Beispiel dafür ist das Drama um den Finanzplatz. Ein blühender Wirtschaftszweig, nicht so bedeutsam, wie ihn Freund und Feind gern einstufen, aber doch willkommen als Milchkuh der Staatsfinanzen, die ­während Jahrzehnten Milliarden in die Staatskassen ablieferte, ohne dass sich jemand darüber aufgehalten hätte. Ja, einige Banken haben im Ausland gravierende Fehler begangen, aber ohne Schweizer Gesetze zu verletzen. Soll man deshalb diese Milchkuh der Nation gehorsamst zum Schlachthaus führen, nur damit den maroden Finanzen einiger Staaten Ge­nüge getan wird? Anstatt den Finanzplatz zu unterstützen und zu stärken, wie das andere Staaten tun, wird er hierzulande staatlich ­sabotiert, indem rückwirkende Gesetze eingeführt werden.

Für den historischen Erfolg des Schweizer Finanzplatzes gibt es viele Gründe: die allgemeine Rechtssicherheit, die politische Stabi­lität und der freie Kapitalverkehr, nicht zu vergessen der Franken als härteste Währung der Welt und die liberale, globalisierte Volkswirtschaft. Die Politik tut hingegen gerade so, als beruhe der Erfolg des Schweizer Finanz­platzes seit 1935 einzig und allein auf dem ­bekannten Bankgeheimnis – doch wer kann ernsthaft glauben, dass ohne diese politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich der Finanzplatz nur wegen des Bank­geheimnisses zu dem entwickelt hätte, was er heute ist? Hätten dann Ausländer während Jahrzehnten ihre Vermögen vor Krieg, Konfiskation, Inflation und Steuerhöllen in die Schweiz gerettet? Wohl kaum, denn dann würde dieses Land genau jenen beschämenden Zustand widerspiegeln, in dem sich die Mehrzahl der industrialisierten und durchsozialisierten westlichen Volkswirtschaften befindet.

Leider haben wir uns in den letzten Jahrzehnten geradezu auf den Weg dorthin gemacht. Überreglementierung und Rechtsanpassungen greifen um sich. Seit einigen Jahren kommt noch der vorauseilende Gehorsam bei finanz- und steuerpolitischen Machtspielen einer transatlantischen Grossmacht dazu. ­Sogar eine zerstrittene europäische Möchtegerngrossmacht lässt viele Politiker in der Schweiz erzittern – leider auch viele Bürgerliche, von denen man eigentlich mehr Standhaftigkeit erwartet hätte. Zwar gelang es, mit der Schuldenbremse die staatliche Verschuldung im Zaum zu halten, doch die sich rapid verschlechternden Strukturen und finanziellen Aussichten der Sozialwerke wie AHV und IV verheissen für die zukünftige Entwicklung der Staatsverschuldung nichts Gutes, wie auch eine Infrastruktur, die sich am Rande der Leistungsfähigkeit befindet, wenn nicht bald bescheidenere, finanziell verkraftbare Lösungen gefunden werden.

Die moderne Schweiz begann vor 165 Jahren als das politisch und wirtschaftlich weitgehend liberalste Land Europas. Wenn wir das wieder werden oder bleiben wollen, dann müssen wir das Abgleiten in eine falsche Politik der Gleichheit und Gleichmacherei aufhalten. Wir sollten nicht andere kopieren, sondern Vorbild für sie sein. Wir tun gut daran, uns vermehrt mit möglichst vielen kleinen und mittelgrossen wirtschaftlich erfolgreichen Staaten dieser Welt abzusprechen oder wenigstens lose mit ihnen zu koordinieren, um die gemeinsamen Interessen der Kleinen durchzusetzen, etwa gegen eine G-20 oder die OECD. Diese demokratisch nicht legitimierten Organisationen wollen uns dauernd neue Vorschriften machen, ohne dass deren Mitgliedsländer sich selbst konsequent daran ­halten würden.

Im Kalten Krieg wurden die Blockfreien von beiden Seiten nie wirklich ernst genommen, aber ganz ohne Wirkung waren sie nicht. Sie wurden hofiert. Es gibt nicht nur die USA und die EU, sondern viele aufstrebende Volkswirtschaften, die ähnliche Interessen verfolgen und die sich gleichzeitig für die Schweiz als Märkte abseits der Grossmachtskartelle ­anbieten.

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