Friedemann Mattern ist Informatiker in Zürich . Er gehört zu den Vordenkern einer umfassenden Vernetzung, des sogenannten Internets der Dinge. Privat sammelt Mattern Zeugnisse historischer Visionen von Informationstechnik. Anfang des vergangenen Jahrhunderts erlebten sie einen Boom: In Science-Fiction-Büchern und auf bunten Sammelbildern waren Mobiltelefone, Faxgeräte und Videokonferenzen zu sehen.
DIE ZEIT: Was fasziniert Sie an längst vergangenen Technikträumen so?
Friedemann Mattern: Ich bin kein Historiker. Aber als ich vor zwölf Jahren an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich kam, um das Institut für Pervasive Computing zu gründen, wurde ich mit allerhand Heilsversprechen konfrontiert, die im Zusammenhang mit den vernetzten Sensoren und Rechnern in vielen Alltagsdingen geäußert wurden. Da begann mich die Frage zu interessieren, was eigentlich aus den technischen Visionen geworden ist, von denen die Menschen vor 100 Jahren träumten.
ZEIT: Welche waren das?
Mattern: Oft waren es neu interpretierte alte Menschheitsträume aus Märchen und Mythen. Aus dem Zauberspiegel wurde das Bildtelefon und das, was wir heute »Augmented Reality« nennen, also die Einblendung virtueller Informationen in das reale Bild.
ZEIT: Hat jede Informationstechnik, die wir heute kennen, ein derartiges Vorbild?
Mattern: Nein. Das Internet mit seinen anklickbaren Links, dem Hypertext, taucht in praktisch keiner Technikvision auf. Das gilt auch für das meiste, was wir heute damit machen. Die Sozialen Netzwerke, eBay-Auktionen, der Internethändler Amazon: Dahinter verbirgt sich kein alter Menschheitstraum. Und das Web 2.0 war nicht nur vor 100 Jahren unvorstellbar, es hat auch vor 20 Jahren noch niemand daran gedacht.
ZEIT: Warum nicht? Handy, Walkman und Bildtelefon konnte man vor 100 Jahren doch schon sehr genau vorhersagen.
Mattern: Das Internet wurde erst durch die Digitaltechnik möglich, durch die Vernetzung riesiger Datenmengen. Künstliche Intelligenz konnte man sich zwar noch vorstellen, was man aber nicht mehr vorwegnehmen konnte, waren miteinander kommunizierende Computersysteme, die den Menschen allein durch ihre überwältigende Datenspeicher- und Rechenkraft ausstechen würden.
ZEIT: Und das macht sie intelligent?
Mattern: Nein. Ich unterscheide gerne zwischen smarten Dingen und intelligenten Dingen. Im Deutschen wird »smart« leider auch mit »intelligent« übersetzt. Ein Auto mit Navigationssystem ist nicht intelligent, aber es ist smart. So ein Navi haben sich die Menschen damals nicht vorstellen können – obwohl die Orientierung in unbekanntem Gelände auch früher durchaus ein Problem war.
ZEIT: Haben die Menschen denn vor 100 Jahren künftige Informationstechnik auch schon als Bedrohung wahrgenommen?
Mattern: Selten. Die meisten Visionen waren positiv. Und beim aufkommenden Internet war das auch wieder so. Man dachte, dass uns die E-Mail vom Telefonterror befreien würde, weil man immer dann antworten kann, wenn man möchte. An Spam dachte niemand. Auch Betrug, Pornografie und andere negative Begleitaspekte des globalen Netzes wurden nicht thematisiert.
ZEIT: Welche Auswirkungen hat diese historische Perspektive für Ihre praktische Arbeit?
Mattern: Man wird skeptischer und bescheidener. Man wird daran erinnert, dass nicht die Technik selber, sondern die Menschen darüber entscheiden, ob eine neue Technik mehr Nutzen oder Schaden bringt. Das vergessen Ingenieure und Informatiker auch heute noch gerne.
Kommentare
Wieso zählt denn
Pornographie zu den "negativenBegleitaspekten" des Internets?
Immerhin ist es doch so, dass dadurch, dass für jeden 24/7 Pornographie verfügbar ist, sich das gesamte Thema aus der Schmuddelecke hin zu einem frei verfügbaren Medium entwickelt hat.
Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass die Möglichkeit, sich via Youporn und Co. zu jeder Zeit Erleichterung zu verschaffen, sogar die eine oder andere Vergewaltigung verhindert hat.
Pornographie als Negativ
Erst einmal: Gutes Interview, allerdings fand ich es etwas kurz, zu dem Thema hätten sich sicherlich noch ein paar Beispiele mehr finden lassen.
Zu meinem Vorredner (H.Smith): Pornographie an sich ist ja gar nichts Schlimmes.
Allerdings ist die ständige Verfügbarkeit problematisch. Seit es das Internet gibt, wird man jeden Tag damit bombardiert, sei es in Emails, als Werbung o.Ä.
Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Gesellschaft genau deswegen abstumpft. So ist es z.B. mittlerweile normal, eine Frau auf nichts Anderes als ihr Aussehen zu reduzieren. Für mich ein kritischer Nebeneffekt des unheimlich hohen Pornographiekonsums (Wo sonst sollte man sich eine solche Einstellung aneignen, wenn nicht in Pornos?)
Außerdem bezweifle ich stark, dass Pornographie Vergewaltigungen verhindert. Vielleicht wird der Umgang der Gesellschaft mit Sexualität offener. Aber fast alle Vergewaltiger haben schwere, psychische Dispositionen und ein extrem sexualisiertes Frauenbild. Solche Leute werden sich kaum durch das Konsumieren von Pornographie von einer realen Vergewaltigung abhalten lassen.
Ohne Pornographie...
...wäre das Internet so weit verbreitet wie es heute ist, machen wir uns nichts vor :-)
Leider wird der Beitrag der legalen Sexindustrie zum Siegeszug von Technologien (VHS, Blue Ray etc.) gerne verschwiegen oder zumindest dezent überflogen und dann ignoriert.
Dabei gibt es nur zwei Industrien die immer an neuesten Stand der Technik sind, die Waffenlieferanten und die Pornohersteller.
Ja also, zurück zum Thema
dazu ein denke ich passendes Zitat aus dem "Mann ohne Eigenschaften":
'Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehen schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegung der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. Man liegt nicht mehr unter einem Baum und guckt zwischen der groß en und der zweiten Zehe hindurch in den Himmel, sondern man schafft; man darf auch nicht hungrig und verträumt sein, wenn man tüchtig sein will, sondern muß Beefsteak essen und sich rühren.'
Die einzige Erkenntnis
Schaut man sich die Träume der Visionäre an, alles war großartig.
Aber wenn etwas verwirklicht ist, wird dies sehr schnell banal.
Schade eigentlich.
Hä? ( und nochmal hä? ):
"Mobiltelefone, Faxgeräte und Videokonferenzen" - und hier wird erst mal "Pornographie" diskutiert - wie hängt denn das miteinander zusammen?
Zum Thema: Es sind ja nicht nur die Visionen von vor 100 Jahren, die uns heute "beglücken", mit den Vorteilen und mit dem, was man so "Kollateralschaden" nennt ...
Irgendwo hat jemand festgestellt, dass wir heute in einem Steinzeitparadies leben, Obst und Früchte das ganze Jahr, man geht zum Metzger und sagt "das da, ein Kilo!" und muss nicht erst das Mammut totschlagen, man hat eine geheizte Höhle, man hat sie da, wo man will, und man hat ein trockenes, sauberes "Fell", wenn's sein muss, auch bunt.
Wenn eben nur nicht diese Kollateralschäden wären, die gewöhnlich mit der Erfüllung von Wünschen einhergehen ....