Eine unsterbliche Legende des ewigen Kampfes gegen die Bürokratie ist die Grabsteinrüttelpflicht. Es geht, behördlich gesprochen, um die "Verkehrssicherheit" auf dem Friedhof: Man soll eines Verstorbenen gedenken können, ohne von dessen Grabstein erschlagen zu werden. "Das zu überprüfende Grabmal ist zunächst behutsam mit einer Hand zu rütteln; ergeben sich keine Beanstandungen, ist das Gleiche durch kräftiges Rütteln zu wiederholen", riet einst die Gartenbauberufsgenossenschaft ihren Mitgliedern, den Gärtnern, die seit Jahrzehnten mit dem jährlichen Test beauftragt sind. 1998 wurde ein Bürgermeister auf die Rüttelprüfung aufmerksam und reichte sie bei einem Bürokratie-Bekämpfungs-Wettbewerb des baden-württembergischen Innenministeriums ein. Er gewann den ersten Preis, 2.000 Mark. Gefährliche Grabsteine? Was für ein Quatsch!

Fünf Jahre später wurde ein Mädchen im mittelfränkischen Mettendorf von einem Grabstein zerquetscht.

Die Siebenjährige hatte mit ihrer fünf Jahre alten Schwester die tote Großmutter besucht und die Blumen gegossen. Dann war sie auf einen wackeligen Granitstein geklettert, der sie unter sich begrub. Drei Erwachsene brauchte es, um die 450 Kilogramm schwere Platte zur Seite zu wuchten; das Mädchen war tot.

Jahr um Jahr, melden die Friedhofsgärtner, gibt es bis zu 80 Arbeitsunfälle mit Grabsteinen – von gebrochenen Fingern bis zu Rippenquetschungen. Gefährliche Grabsteine sind eine traurige Realität.

Gleichwohl muss die jährliche Grabsteinüberprüfung immer wieder als Beleg dafür herhalten, welch unsinnige Vorschriften es hierzulande doch gibt. Gerade ist unter dem griffigen Titel Vorsicht, Fisch kann Gräten enthalten ein neues Buch über "bürokratischen Wahnsinn in Deutschland und Europa" erschienen. Geschrieben hat es Ulrich Gineiger, ein Redakteur des Deutschlandfunks. Drei Seiten lang arbeitet er sich am "Schüttelexzess" auf den rund 40.000 deutschen Friedhöfen ab. Dann wendet er sich anderen Schimpfthemen zu, von "Brandschutz und Aberwitz" bis "Öko-Tyrannei", von der "Regulierungswut in Schulbüchern" bis zur "Papiersammelwut bei Behörden und Beamten".

Wut kommt ja immer gut. Des Behördenkritikers Fazit: "Das Ausmaß der Gängelung ist allumfassend und erstickend." Es ließe sich spöttisch anfügen: Ebenso allumfassend und erstickend ist auch das Bejammern der Gängelung. Die Bürokratie scheint ein deutsches Lieblingsthema zu sein.

"Wie die Bürokratie Elektromobilität aushebelt" – "Offenes Olivenöl ist der EU ein Gräuel: Auf Tischen von Restaurants dürfen künftig keine Kännchen mit Olivenöl mehr stehen" –"Bürokratie-Irrsinn: Anwohner treibt die Regensteuer ein" – "EU nimmt umstrittene Verordnung zurück: Drinnen doch wieder Olivenölkännchen" – "Bürokratie: Mehrwertsteuer-Chaos geht jetzt erst richtig los" – "EU-Wahnsinn: die Schnullerkettenverordnung"

So klingen auf Internetportalen und in Onlineforen die Triumphmeldungen derer, die es schon immer gewusst haben: Alles Böse kommt von oben.

Auf EU-Ebene gibt es 21.391 Rechtsakte, also Verordnungen und Richtlinien. In Deutschland gelten 1.681 Bundesgesetze und ein Vielfaches an Landesgesetzen. Hinzu kommen 2.711 Bundesverordnungen und ein Vielfaches an Landesverordnungen.

Wer gegen die vermeintlich maßlosen Brüsseler oder Berliner Bürokraten seine Stimme erhebt, kann sich des Beifalls mächtiger Medien und Verbände sicher sein, von der empfindsamen Bild-Zeitung bis hin zum integren ADAC.

Es scheint deshalb an der Zeit zu sein, einen kleinen Aufklärungsflug durch unser ach so reguliertes Land zu unternehmen und zu fragen, was wirklich dran ist an der Behauptung, die vielen Regeln würden uns das Leben vermiesen.

Fangen wir ganz harmlos an: Wozu gibt es eigentlich Gesetze?

Gesetze sind "Gewohnheiten, Praktiken und Verhaltensregeln einer Gemeinschaft, die als verbindlich durch die Gemeinschaft anerkannt sind". So trocken steht es in der Encyclopædia Britannica, dem ehrwürdigen englischen Nachschlagewerk, in dem jedes Komma promoviert ist, jeder Eintrag habilitiert.